Praxissemester Religion

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Im Folgenden finden Sie einige Beispiele, die unterschiedlichen Praxissituationen zugeordnet sind.

1.4.1 Unterricht

Bei Projekten, die sich auf den Unterricht beziehen, ist zu unterscheiden, ob fremder Unterricht oder eigener Unterricht beobachtet wird. Im letzteren Fall befindet sich der oder die forschend Lernende in einer nicht ganz einfachen Doppelrolle als Akteur und gleichzeitig als Beobachter. Daher ist es sinnvoll, eine zweite Person als Beobachter oder Beobachterin hinzuzuziehen.

•Anlass: Bei der Thematisierung der Jona-Geschichte spekulieren Schüler einer dritten Klasse wild über den großen Fisch, über eine Möglichkeit, in einem Wal zu überleben und über die Rizinusstaude, ohne dass die Lehrkraft interveniert.

Thema des Forschungsprojekts: Warum werden Schülerinnen und Schüler von ‚wunderbaren‘ Aspekten biblischer Geschichten besonders angezogen und wie können Lehrkräfte diese Motivation konstruktiv nutzen?

•Anlass: Die Abraham-Geschichte wird in einer Klasse 5 als Glaubensvorbild für den Mut zum Aufbruch in eine ungesicherte Zukunft vorgestellt. Die Lerngruppe beteiligt sich nur träge und zieht sich auf ‚richtige‘ RU-gemäße Antworten zurück, lässt aber erkennen, dass sie mit der theologischen Pointe der Geschichte nicht viel anfangen kann.

Thema des Forschungsprojekts: Warum reagieren Schülerinnen und Schüler häufig reserviert und uninteressiert auf Versuche, den theologischen ‚Gehalt‘ biblischer Geschichten herauszustellen und wie kann eine Lehrkraft dieser Verhaltensweise begegnen?

•Anlass: Jesus wird in einer Klasse 5 als Muster an Gutherzigkeit, Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit dargestellt.

Thema des Forschungsprojekts: Warum werden bestimmte Aspekte der bibelwissenschaftlichen Erkenntnisse zu Person und Wirken Jesu ausgeblendet und welche Folgen hat das für das Jesusbild der Schülerinnen und Schüler?

•Anlass: Eine Lehrperson verweigert den Schülerinnen und Schülern der Klasse 9 die Antwort auf die Frage: „Was meinen Sie denn? Ist Jesus tatsächlich auferstanden?“

Thema des Forschungsprojekts: Welche Probleme stellen sich für Lehrpersonen, wenn sie persönlich nach ihrem Glauben gefragt werden und welche Lösungsansätze bieten sich pädagogisch und theologisch an?

•Anlass: In einer Lerngruppe 8 werden die Altarbilder von Lukas Cranach aus der Stadtkirche zu Wittenberg eingesetzt. Die Lehrkraft führt ein mit dem Satz: „In diesen Bildern könnt ihr die gesamte Theologie Luthers finden. Was könnt ihr beobachten?“ Die Schülerinnen und Schüler bemühen sich nach Kräften, die Bilder zu beschreiben, ihnen gelingt es aber nicht, deren theologische Implikationen herauszuarbeiten.

Thema des Forschungsprojektes: Wie ist der Bruch zwischen Beobachtung, Beschreibung von alten Bildern auf der einen Seite und deren Einordnung und Deutung auf der anderen zu erklären und wie kann ihm entgegengewirkt werden?

•Zum Thema Kasualien/Trauung im Rahmen ‚liturgischen Lernens‘ im RU wird ein Traubekenntnis vor der Klasse 7 vorgespielt. Die Situation eskaliert in allgemeinem Gekicher und spöttischen Bemerkungen.20 Thema des Forschungsprojektes: Warum reagieren Schülerinnen und Schüler in dieser Weise auf ein szenisches Spiel und welche Konsequenzen hat dies für Auswahl und Inszenierung von szenischen Spielen?

•Anlass: Eine Lehrkraft verkündet bei der Behandlung der Auszugsgeschichte in Klasse 6: „In der nächsten Stunde werden wir uns die einzelnen Gegenstände und Vorgänge beim Pessachfest genauer ansehen und das Fest probehalber nachspielen.“ Nach der Stunde bemerkt eine Mitreferendarin im Gespräch mit dem Mentor: „Aber das Pessachfest wird doch nur von Juden gefeiert und nicht von Christen. Das geht doch gar nicht. “

Thema des Forschungsprojektes: Welche Beweggründe hat die Mitreferendarin für ihre Intervention, welche religionspädagogischen Grundfragen deuten sich in diesem Dissens an und wie sollte die Lehrkraft damit religionspädagogisch verantwortungsvoll umgehen?

•Anlass: In einer Klasse 6 werden die Schülerinnen und Schüler gebeten, als Einstieg in ein theologisches Gespräch ein Bild zu malen zu dem Thema „Was kommt dir in den Sinn, wenn du das Wort ‚Gott‘ hörst?“ Die meisten Schülerinnen und Schüler malen gegenständliche Gottesbilder, die oft mit naturhaften Kontexten verbunden sind. Im Gespräch gelingt es nicht, die bildhaft-realistische Ebene der Vorstellungen zu überschreiten.

Thema des Forschungsprojektes: Welche Gottesvorstellungen lassen sich bei Schülerinnen und Schülern dieser Altersstufe unterscheiden, welche lebensweltlichen Situationen spiegeln sich in ihnen und warum ist es so schwierig, die Gegenständlichkeit solcher Vorstellungen zumindest ansatzweise zu überschreiten?

•Anlass: Eine überzeugte Muslima nimmt am evangelischen Religionsunterricht der Klasse 7 teil. Die Lehrkraft nimmt Rücksicht auf die religiöse Glaubenspraxis, zeigt sich aber auch irritiert, mit welcher Unbefangenheit und Überzeugungskraft die Schülerin ihren Glauben als attraktiv für die Lerngruppe darstellt, während die Lerngruppe dem Werben der Mitschülerin nicht viel entgegenzusetzen hat.

Thema des Forschungsprojektes: Warum reagieren Schülerinnen und Schüler hilflos und die Lehrkraft irritiert? Wie könnte die Situation konstruktiv im RU aufgenommen werden?

•Anlass: In einer Lerngruppe nimmt ein autistisches Kind am RU teil. Die Lehrkraft bemerkt, dass sich der Schüler überhaupt nicht in Gefühle und die Perspektive von biblischen Personen oder anderen Menschen hineinversetzen kann.

Thema des Forschungsprojektes: Welche besonderen Probleme stellen sich bei der Teilnahme eines autistischen Kindes am RU und wie kann die Lehrkraft dieses Kind im Sinne der Inklusion fördern?

•Anlass: In einer Klasse 10 wird der Symbolbegriff eingeführt und an den christlichen Symbolen Kreuz, Fisch, Taube, Christusmonogramm und Agnus Dei erläutert. Die Schülerinnen und Schüler können zwar erklären, wofür die einzelnen Symbole stehen, aber sie meinen, dass die Symbole im Grunde überholt seien und durch moderne ersetzt werden sollten.

Thema des Forschungsprojektes: Warum betrachten Schülerinnen und Schüler geläufige christliche Symbole eher als antiquiert und nicht zeitgemäß und wie kann man darauf sinnvoll reagieren?

•Anlass: Eine Lerngruppe 6 beschäftigt sich intensiv mit Zeit und Umwelt Jesu und lernt viele Realia und Ausgrabungsergebnisse kennen. Sie haben mit viel Begeisterung ein Dorf zur Zeit Jesu gebaut und ausgestellt. Bei dem Auswertungsgespräch äußert eine Schülerin ihr Unbehagen: „Das war ja alles ganz spannend und hat viel Spaß gemacht. Aber was hat das alles mit unserem Leben heute zu tun?“

Thema des Forschungsprojekts: Welche Erwartungen hat die Schülerin an den Religionsunterricht, warum empfindet sie offenbar ein Defizit und wie kann der RU darauf eingehen?

Im Folgenden werden Fragen zu unterschiedlichen Bereichen des RU aufgelistet, die noch keine Themen für Forschungsvorhaben formulieren. Dies dient zur Sensibilisierung, wie vielfältig die möglichen Themenbereiche sind. In diesen weiten Bereichen können dann kleinere Forschungsvorhaben platziert werden, wenn konkrete Anlässe dazu vorliegen und dadurch das Thema zugespitzt werden kann. Die Anregungen zur Weiterarbeit auf S. 23 schlagen Ihnen ein entsprechendes Vorgehen vor.

Didaktische Aspekte:

•Welche Rolle spielen lebensweltliche Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler im Unterricht?

•Unter welchen Bedingungen entwickelt ein Einstieg ein motivierendes Potenzial, das den gesamten Unterricht trägt?

•Was ist eine niveauvolle Lernaufgabe?

•Wo finden sich Anforderungssituationen, die die Konzeption und die Durchführung einer Einheit bestimmen, wie können Alternativen aussehen?

•Welche Probleme stellen sich bei der Präsentation von Ergebnissen?

•Wie erfolgt eine nachhaltige Sicherung von Erkenntnissen, wie sind diese zu bewerten?

Methodische Aspekte:

•Gibt es spezifische Methoden für den RU und was leisten sie?

•Welche Chancen bieten Dilemmageschichten im Kontext ethischen Lernens?

•Was tragen einzelne Methoden zur Kompetenzentwicklung bei, z.B. szenisches Spiel, Rollenspiel oder Standbilder?

•Was leisten kreative Verfahren für die Erschließung von biblischen Texten?

•Wie wird Gruppenarbeit vorbereitet, eingesetzt und ausgewertet?

•Was leistet ein Lerntagebuch oder ein Bibeltagebuch im RU?

•Welche Möglichkeiten und welche Grenzen hat Portfolio-Arbeit im RU?

•Welche Chancen und Grenzen haben Freiarbeit bzw. die Arbeit an Stationen?

•Welche Formen der Förderung von Spiritualität finden sich im RU, wie bewerten Schülerinnen und Schüler diese?

•Welche spirituellen Unterrichtseinstiege finden sich im RU (ritueller Beginn, Andacht, Stilleübungen u.a.)?

Medien im Unterricht:

•Welche Chancen und Risiken haben technische Medien im RU (Notebook, Beamer, OHP, Kamera, Tafel)?

•Welche religionspädagogisch spezifischen Medien eignen sich für die Förderung von Lernprozessen?

•Welche Bedeutung haben christliche Lieder, welche Chancen und Schwierigkeiten im Umgang mit ihnen sind zu beobachten?

•Wie kommt die Bibel im Unterricht vor (Aussehen und Verwendung, Auswahl der Übersetzung, Einsatz u.a.)?

•Wie wird das Religionsbuch im Unterricht eingesetzt?

•Welche Schwierigkeiten des Unterrichts zeigen sich im Spiegel der Schülerhefte/eines Schülerheftes?

Steuerung und Auswertung des Unterrichts:

•Wie werden einzelne Unterrichtsphasen miteinander verbunden, so dass die Schülerinnen und Schüler einen roten Faden erkennen?

 

•Werden im Unterricht kognitive Leistungen eingefordert und mit welchen Verfahren werden sie beurteilt?

•Welche Rückmeldungen gibt die Lehrkraft über den Lernerfolg und was bewirken sie?

•Wann treten Unterrichtsstörungen auf und wie geht die Lehrkraft mit Unterrichtsstörungen um?

•Unterscheiden sich Störungen im RU von denen in anderen Fächern?

Gespräche im Unterricht:

•Welche Frage- und Impulsverfahren verwendet die Lehrkraft mit welchen Effekten?

•Wie initiiert die Lehrkraft theologische Gespräche?

•Wie werden Gespräche so strukturiert, dass ihr Verlauf transparent bleibt?

•(Wie) positioniert sich die Lehrkraft bei theologischen Fragen bzw. Problemen? Was sind die Chancen und die Schwierigkeiten?

•Wie reagiert die Lehrkraft auf das gängige Unverbindlichkeits- bzw. Indifferenzmotto: ‚Das kann jeder so sehen, wie er möchte‘?

Unterrichtsklima:

•Welches Verhalten begünstigt den Aufbau von Vertrauen und Offenheit?

•Wie zeigt sich Mobbing unter Schülerinnen und Schülern im RU, wie kann es unterbunden werden?

•Welche Sprachebenen zeigen sich im RU aufseiten der Lehrkraft und der Schülerinnen und Schüler was kann die Lehrkraft gegen den Gebrauch von Fäkalsprache unternehmen?

1.4.2 Personen

•Welche Vorstellungen von Religion, RU, Kirche vertritt die Lehrkraft und wie wirken sie sich im Unterricht aus?

•Gibt es eine Beziehung zwischen der Kirchenverbundenheit der Lehrkraft und ihrem Unterrichtskonzept?

•Was interessiert Schülerinnen und Schüler im RU?

•Warum langweilen sich Schülerinnen und Schüler im RU?

•Wie wirkt die Mediennutzung durch Schülerinnen und Schüler (Smartphone, soziale Netze, Fernsehen, Internet, Spiele …) auf religiöse Lernprozesse ein?

•Wie wirkt sich (fehlende) religiöse Sozialisation im RU aus?

•Warum nehmen Schülerinnen und Schüler trotz atheistischer oder indifferenter Grundhaltung am RU teil?

•Warum melden sich Schülerinnen und Schüler vom RU ab?

•Welche Bedeutung messen Eltern dem RU im Vergleich zu anderen Fächern zu?

•Welche Rolle spielt der Pastor/die Pfarrerin im Schulleben?

1.4.3 Institution Schule

•An welchen Punkten im Schulleben taucht ‚Religion‘ auf und welche Funktion nimmt sie dabei wahr?

•Welche Bedeutung haben Gottesdienste/Andachten für die Schulgemeinschaft?

•Was leisten religiöse Interventionen und Begleitung bei außergewöhnlichen Ereignissen wie Krankheit, Tod, Unfall, globale Katastrophen?

•Welches Konzept von Schulseelsorge gibt es in der Schule?

•Welche Bedeutung haben religiöse Einkehrtage?

1.4.4 Außerschulische Lernorte

•Was leistet eine ‚originale Begegnung‘ bei einem Kirchenbesuch für den Erkenntnisgewinn?

•Welche außerschulischen Lernorte werden an der Schule regelmäßig aufgesucht? Inwiefern ist der RU auf außerschulische Lernorte angewiesen?

•Welche Lernorte eignen sich unter welchen Bedingungen besonders zur Erweiterung des eigenen Erfahrungshorizontes der Schülerinnen und Schüler?

Anregungen zur Weiterarbeit

1.Erklären Sie einem nicht kundigen Kommilitonen, was das „Studienprojekt im RU“ im Rahmen praktischen Lernens im Praxissemester bedeutet.

2.Konkretisieren Sie einzelne allgemeine Fragen (s.o.) durch mögliche Anlässe und eine mögliche präzise Formulierung eines Forschungsprojekts.

3.Suchen Sie aus den Beispielthemen eines aus oder finden Sie ein eigenes und entwickeln Sie eine Mindmap, welche fachlichen, fachdidaktischen und pädagogischen Aspekte in einem Forschungsprojekt bedacht werden müssten.

4.Wählen Sie in einer Gruppe oder in einem Tandem ein Beispielthema aus, schreiben Sie den Forschungszirkel auf ein Plakat und gehen Sie ihn probeweise durch; notieren Sie auf dem Plakat konkrete Aufgaben, Fragen und Aspekte, die bei jedem Schritt zu beachten sind.

Literatur zur Weiterarbeit

Fichten, Wolfgang, Über die Umsetzung und Gestaltung Forschenden Lernens im Lehramtsstudium, hg. vom Didaktischen Zentrum der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Oldenburg 2013 (Online unter http://www.uni-olden-burg.de/fileadmin/user_upload/diz/download/Publikationen/Lehrerbildung_Online/Fichten_01_2013_Forschendes_Lernen.pdf; Zugriff am 01.09.2014)

Huber, Ludwig/Hellmer, Julia/Schneider, Friederike (Hg.), Forschendes Lernen im Studium. Aktuelle Konzepte und Erfahrungen. Bielefeld 2009

Moser, Heinz, Instrumentenkoffer für die Praxisforschung. Eine Einführung. Zürich, 4. Auflage 2008

Obolenski, Alexandra/Meyer, Hilbert (Hg.), Forschendes Lernen. Theorie und Praxis einer professionellen Lehrerinnenausbildung. Oldenburg, 2. Auflage 2006

Roters, Bianca/Schneider, Ralf/Koch-Priewe, Barbara/Thiele, Jörg/Wildt, Johannes (Hg.), Forschendes Lernen im Lehramtsstudium. Hochschuldidaktik – Professionalisierung – Kompetenzentwicklung. Bad Heilbrunn 2009

1So schon Rieckers, 1972 und Johannsen, 1990, Schulte, 1995.

2Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2010, 4. In anderen Bundesländern lauten die Formulierungen ähnlich.

3Vgl. auch Riegel 2010.

4Schön, 1983.

5Altrichter/Posch, 2007.

6Vgl. Fichten, Abschnitt 7.

7BAK-Bundesassistentenkonferenz, 2009. Ferner z.B. Huber, 2009, 9–35.

8Huber, 2003, 18.

9Huber, 2003, 25.

10Vgl. z.B. Metzger, 2008.

11Vgl. zusammenfassend Fichten, 2013.

12Lenhard, 2012c, 244 unter Bezug auf Dewe/Radtke, 1991.

13Fichten, 2012, Abschnitt 2.2.

14Fichten, 2012, Abschnitt 8.

15Kirchenamt der EKD, 2009, 25. Leitkompetenz I: Religionspädagogische Reflexionskompetenz aufgegliedert in TK 1: Fähigkeit zur Reflexion der eigenen Religiosität und der Berufsrolle; TK 2: Fähigkeit, zum eigenen Handeln in eine reflexive Distanz zu treten; 20; 28–29.

16So gibt es in der Handreichung zum Praxissemester der Universität Siegen (Entwurffassung 2014) auszufüllende Einwilligungserklärungen von Seiten der Schulleitung, der betreuenden Lehrperson und des Verantwortlichen auf universitärer Seite bezüglich der Wahl des Themas zum „forschenden Lernen“.

17Wildt, 2009, Nr. 2, 4–7; 6. Die Nummerierung wurde hinzugefügt.

18Vgl. dazu die Erläuterungen bei Schneider/Wildt, 2009.

19Übersicht über einzelne Bereiche der Religionspädagogik etwa in: Rothgangel/Adam, 2012.

20Husmann/Klie, 2005, 184.

2 An einem fremden Ort: Meine Praktikumsschule auf den ersten Blick

„Jemand, der eine Schule in einem anderen Land betritt, ist in der Regel irritiert: Alles ist verblüffend ähnlich im Vergleich mit der Schule, die er aus eigener Erfahrung kennt – und alles ist zugleich verblüffend anders.“1 Gleiches gilt auch für den Erstkontakt mit einer neuen Schule, wie er z.B. beim ersten Kennenlernen der Praktikumsschule erfolgt. Exemplarisch wird diese Wahrnehmung aus der folgenden Darstellung eines Studierenden deutlich.

Dichte Beschreibung des Evangelischen Gymnasiums Weidenau (Simon Bäumer im SS 2014)

Die erste Anfahrt gleicht dem Eintritt in eine neue Welt. Eine gewundene Straße führt geradewegs ab von der pulsierenden Weidenauer Straße, unter der stark befahrenen Straße der Region hindurch, hinein in eine durch Wald und den Berg geprägte Enklave. Das Gebäude an sich gleicht einer Burg. Man muss erst zu Fuß den Berg entern, um hinter der Fassade das pulsierende Leben dieses Ortes erkunden zu können. Nach außen wirkt zuerst das Graue und Triste der Außenfassade und die winzigen, quadratischen Fenster, hinter denen sich, auf den zweiten Blick, das Treppenhaus befindet.

Geht man dann hinauf, taucht man ein in eine bunte und abwechslungsreiche Welt, die von Schülern und Lehrern gestaltet wurde. Überall hängen kreative Produkte der Bewohner dieser Burg. Und dabei spiegelt die Vielfalt dieser Produkte wohl auch die Entfaltungsmöglichkeiten innerhalb der grauen Fassade wider. Hier steht der Milchautomat neben Plakaten der Baseball-AG, die Werte der Schule hängen neben Plakaten des Abi-Jahrgangs 1998.

Als Zentrum des Lebens liegt der Schulhof umklammert von allen Gebäuden inmitten der Burganlage. Von dort aus erreicht man sternförmig alle Möglichkeiten der Schule. Aus dem Lehrerzimmer erblickt man auf 12 Uhr das neue Mensagebäude. Im Erdgeschoss ist auch hier die Vielfalt unbeschreiblich. Tagesgericht, Pizza, Pasta, Salat, Nachtisch, Getränke, und das für 3,50 €. Der Mittag kann hier genauso gut verlebt werden wie im Hauptgebäude bei der ÜMi (ÜberMittagsBetreuung), die mit Sesseln, Sofas und neuem Mobiliar sowie den Fotos glücklicher betreuter Schüler zum Verweilen einlädt. Im zweiten Geschoss findet man eine großzügige Bibliothek. Ein sehr breit gefächertes Sortiment bietet anscheinend eine ideale Lernvoraussetzung. Und es wird investiert. Wenn bei einem Einbruch die PCs geklaut werden, wieder auftauchen und von der Versicherung geprüft werden, bestellt man einfach neue. Der aufsichtführende FSJler begrüßt schick gekleidet alle Gäste und wirkt wie ein professioneller Bibliothekar.

Auf 11 Uhr blockiert im Hintergrund zwischen Bäumen versteckt das Studentenwohnheim das Blickfeld. Zwischendurch ist das Schulgelände mit Zäunen und Toren begrenzt. Wie eben in einer Burganlage.

Auf 10 Uhr findet man das ehemalige Haus des Direktors. Heute quasi eine unbenutzte „Ruine“, wurde es, nachdem die Direktoren dieses seit vielen Jahren nicht mehr benutzten, einfach mehr und mehr in Schülerhand gegeben. Als Aufenthalts- und Arbeitsraum. Heute ist es in keinem guten Zustand mehr, ein Zeichen dafür, dass die SuS schalten und walten konnten, wie es ihnen beliebt. Eine freie Selbstbestimmung eben.

Von 8 bis 13 Uhr ist quasi die Hauptburg. Die Gänge gleichen Museumsgängen, die Zeugnis liefern von der Arbeit, die hier geleistet wird. Ein großer Teil der Arbeiten hat, wie man es in einem Gymnasium in kirchlicher Trägerschaft erwartet, einen christlich-ethischen Hintergrund.

Das Lehrerzimmer ist die geistige Zentrale. Die Arbeitsräume gleichen einer altehrwürdigen Bibliothek. Die Atmosphäre ist still, Gespräche werden mit sehr gedämpfter Stimme geführt. Die ehemalige Bibliothek ist eigentlich gar nicht ehemalig. Zwei Leitern helfen den Pädagogen, ihre Literatur auch in der zweiten und dritten Etage der Bücherregale zu finden. Die Werke sind teilweise alt, manche extrem neu, ein guter Mix, ein breites Angebot eben. Wie auch in den Klassenräumen. Besonders beeindruckend ist der Religionsraum. Im hinteren Teil reihen sich fünf Schränke aneinander, alle prall gefüllt mit Klassensätzen an theologischer und geschichtlicher Literatur. Bibelausgaben aller Art, Denkschriften und Lehrwerke. Währenddessen berät der Träger der Schule, das Lehrerzimmer noch arbeitsorientierter zu gestalten. Diverse Arbeitsbereiche, getrennt von ‚Unterhaltungs-‘Bereichen. Die Teeküche muss einem vernünftigen Kopierraum weichen. Dazu eine striktere Trennung von Lehrer- und Schülerleben, die jetzt schon durch Türen separiert sind; künftig soll die Trennung aber noch optisch intensiviert werden.

Die Schulleiterin erzählt über ihre Schule. Eines ihrer ersten Worte „Ich liebe diese Schule“ unterstützt sie mit einem obligatorischen Handkreuzen auf der Brust. Man kauft ihr aber auch ohne gestische Unterstützung ab, dass sie ihre Schule liebt. Sie erklärt, dass aktuell ganz groß das Thema „Smartphones“ diskutiert wird, aber alle wehren sich gegen ein striktes Verbot. Man setzt auf eigenverantwortliche Schüler. Und das spiegelt die Schule wider: Lehrer und Träger investieren in Angebote, die das eigenverantwortliche Leben der Schüler fördern und begleiten sollen. Einige Lehrer sehen sich sogar „nur als Moderator“ im Unterricht. Deutlich machen diesen Trend drei weitere Beobachtungen: 1. Ein wohl sehr intensiv gepflegter Schüleraustausch mit Israel. Ein Wimpel im Lehrerzimmer, eine eigene Abteilung im Medienzentrum, ein eigener Film über ein gemeinsames Projekt. Das Motto: Erfahrung durch Praxis und dadurch lernen. 2. In der Theater-AG können die SuS sich ausleben. Ein großer Raum mit Bühne bietet Platz sich zu erfahren und im Theater kreativ zu werden. 3. Der Musiklehrer baut gerade für eine große Band auf. Er stöpselt die Anlage an. In der Band: Flügel, Bongos, Trommeln, Bass, Gitarre etc. Viele, viele Möglichkeiten sich zu beteiligen.

 

Und das Konzept scheint aufzugehen: Es ist Mottowoche der Abiturienten. Alle sind im Thema verkleidet. Laute Musik, gemeinsame Gesänge und Jubelschreie schallen ins Gebäude. Es ist eine ausgelassene Stimmung und anscheinend freuen sich nicht nur die Schüler. Auch Lehrer gehen mit einem Lächeln im Gesicht vorbei.

Es gibt kein zweites Mal einer ersten Wahrnehmung. Der erste Eindruck bei der Begegnung mit einer Person oder einer Sache ist deshalb auch immer entscheidend für die meist länger andauernde Einschätzung. Diesen „ersten Blick“ hinsichtlich der Erstbegegnung mit einer Schule festzuhalten und zusammenhängend zu interpretieren (zu konzeptualisieren), ist ein Schritt auf dem Weg zur Professionalisierung. Studierende können so ein Gespür dafür entwickeln, dass Gebäude und deren Ausstattung, die ja immer durch Menschen geprägt sind und belebt werden, ‚sprechen‘. Deren Sprache wahrzunehmen und zu deuten, unterstützt die sogenannte „Selbstkompetenz“2 und hilft, eine Wahrnehmungskompetenz zu erwerben, die für eine vor allem später notwendige Gestaltungskompetenz, z.B. des eigenen Klassenraums, einer Stellwand für Projektergebnisse, eines Einladungsplakats für einen Schulgottesdienst etc. notwendig wird. Diese Art der Wahrnehmung des Schulraums auch in Bezug auf den Religionsunterricht spielt neben der Beobachtung der Interaktion im Klassen- und Lehrerzimmer bei Praktika eine wichtige Rolle und ist gänzlich anders als die übliche Zusammenstellung von meist aus der Internetpräsentation übernommenen Informationen zur Situation der Schule.3

Das Vorgehen bei der unvoreingenommenen Betrachtung, der Beschreibung und Interpretation ähnelt dem eines Forschers, der sich in einer fremden Kultur befindet und versucht, sich den Sitten und Gebräuchen beschreibend anzunähern und die eigene Wahrnehmung zu deuten. Deshalb kann die Methode des amerikanischen Ethnologen Clifford Geertz zur „Dichten Beschreibung“ die erste Wahrnehmung der Praktikumsschule und deren Reflexion unterstützen, auch wenn es in diesem Kontext nicht auf die exakte Einhaltung der Methode ankommt.

Geertz nähert sich Kulturen an, indem er sie als Systeme symbolischer Formen auffasst. Diese vermitteln entscheidende Informationen über den Zusammenhang, wie sie sich dem Zuschauer darbieten. Das Verstehen folgt dabei einer spezifischen Denkbewegung, einem beständigen Pendeln zwischen lokalspezifischen Details und umfassenden Strukturen,4 die allgemeine Beobachtungen und detaillierte Kommentare ermöglichen. Auch (Schul-)Kultur präsentiert sich als öffentlich lesbares Dokument anhand von Symbolen wie Gebäuden, Ausstattungen, gestalteten Produkten, aber auch Bemalung, Graffiti, Müll, Verschmutzung u.Ä. Daran wird viel über ein explizites und auch ein implizites Programm der Schule deutlich.

Die Besonderheit der Dichten Beschreibung ist, dass sie „mikroskopisch ansetzt, d.h. sich auf einzelne, vergleichsweise überschaubare Phänomene konzentriert.“5 Dabei versucht Geertz diejenigen Elemente einer Kultur zu berücksichtigen, die grundlegende Erfahrungs- und Orientierungsweisen zum Ausdruck bringen. „Ausgangspunkt und erster Schritt einer Dichten Beschreibung ist eine knappe Schilderung des Geschehens, wie es sich den Beobachtern der betreffenden Abläufe unmittelbar bietet.“6 Interessant ist in der Übernahme dieser ethnologischen Methode, dass der Beobachter versuchen soll, sich als Fremder dem Vertrauten zu nähern. Es ist „dieser Effekt des ‚fremden Blicks‘ auf das Vertraute, der uns an dieser Methode interessiert.“7 Dies wird dann in einem zweiten Schritt gedeutet und verbunden. Sinnzuschreibung findet erst auf der Ebene des interpretierenden Zusammenführens statt,8 wobei ein enger Zusammenhang zwischen ‚objektiven Tatbeständen‘ und dem subjektiven Erleben bzw. der Bewertung deutlich wird.

Analysiert man die oben abgedruckte exemplarische Beschreibung, kann man eine Liste der berücksichtigten Aspekte erstellen und diesen jeweils beschreibende und bewertende Adjektive zuordnen. Dabei kann herausgearbeitet werden, dass „sich objektive Realität und subjektives Erleben in einem kongruenten Verhältnis manifestiert (…). Solche Gesetzmäßigkeiten in der Gestalt liefern zur ersten Beobachtung einer Schule mit der Methode der Dichten Beschreibung Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen im Bereich ‚Schulklima und Lernerfolg‘ etc.“9

Anregungen zur Weiterarbeit

1.Erstellen Sie eine Dichte Beschreibung Ihrer Praxissemesterschule. Berücksichtigen Sie die aus der Analyse gewonnenen Aspekte und listen Sie diese in einer Checkliste auf.

2.Erkunden Sie das spezifische Profil der Schule in Sachen ‚Religion‘ und notieren Sie die für Ihre künftige Tätigkeit wichtigsten Informationen:

•Religionsbrett, Einladungen zu Andachten, Gottesdiensten, religiöse Tagungen, Veranstaltungen

•Religionsraum, technische Ausstattung, spirituell bedeutsame Gegenstände (Kerzen, Symbole, Kreuz, Blumen etc.)

•Lehrerbibliothek, Bereich Religion (Handbücher, religionspädagogische Literatur, Aktualität)

•Religionspädagogische Materialien, z.B. Notfallseelsorgekoffer, Modelle, Medien

•Fachkollegen/Fachkolleginnen (Personal, Zuständigkeiten für Studierende, Aufgeschlossenheit für Hospitationen, Stundenpläne der Fachkollegen, Fachkonferenz und Termine)

•Schulprogramm zum RU, Religion außerunterrichtlich

•Schul- bzw. Fachcurriculum RU

•Absprachen in der Fachkonferenz, ökumenische Zusammenarbeit, Gewohnheiten, eingeführte Methoden, Zusammenarbeit mit islamischem RU, Kontakte zu Kirchengemeinden

•Außerunterrichtliche religiöse Veranstaltungen/Situationen/Organisationsformen

•Allgemeine Haltung im Kollegium zu Religion/RU/Lehrkräften

•Erwartungen der Schule an eine Religionslehrperson

3.Was zuerst dran ist – Sammeln Sie wichtige Informationen für den Schulalltag

•Wo kann ich sitzen, habe ich ein Fach?

•Wo kann ich in Ruhe arbeiten?

•Wer ist für was mein/e Ansprechpartner/in?

•(Wo) bekomme ich einen Schlüssel?

•Wo ist der Dienstplan/Vertretungsplan?

•Was muss ich über die Schulordnung wissen?

•Welche Vereinbarungen der Schule sind wichtig?

•Gibt es einen Beschluss- oder Konferenzordner?

•Wo liegt das Mitteilungsbuch?

•Welche Lehrmaterialien für meine Fächer hat die Schule?

•Wie bediene ich den Kopierer, brauche ich eine Karte?

•Welche technischen Geräte kann ich nutzen? Wo bekomme ich eine Gebrauchsanleitung?

•Was sind meine Aufgaben für die ersten Wochen?

Literatur zur Weiterarbeit

Büttner, Gerhard/Pütz, Tanja, „Dichte Beschreibung“ als methodische Möglichkeit bei der Erstellung von Praktikumsberichten. Journal für Lehrerinnen- und Lehrerbildung (2007), Heft 3, 56- 64

Geertz, Clifford, „Aus der Perspektive des Eingeborenen“. Zum Problem des ethnologischen Verstehens. In: Geertz, Clifford (Hg.), Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M. 1983, 289–309

Wolff, Stephan, Clifford Geertz. In: Flick, Uwe/von Kardorff, Ernst/Steinke, Ines (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek, 3. Auflage 2004, 84–96

1Baumann/Sunier, 2002, 24f.

2Der Begriff wurde von dem Erziehungswissenschaftler Heinrich Roth 1971 geprägt und bezieht sich – gemeinsam mit Sachkompetenz und Sozialkompetenz – auf grundlegende menschliche Fähigkeiten, die Mündigkeit als emanzipatorisches Ziel überhaupt erst ermöglichen. Selbstkompetenz (selfcompetence) ist danach die „Fähigkeit, für sich selbstverantwortlich handeln zu können“. Roth, 1971, 180.

3Büttner/Pütz, 2007.

4Vgl. Geertz, 1983, 307f.

5Vgl. Wolff, 2004, 89.

6Wolff, 2004, 89.

7Büttner/Pütz, 2007, 58.

8Wolff, 2004, 91.

9Büttner/Pütz, 2007, 63f. Die Autoren verweisen hier auf Varbelow, 2003.

Teised selle autori raamatud