Leipzig

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Zwischen den grauen Hinterhäusern zog die Wärme nicht ab. Wolfram kam von der Schicht. Vielleicht sind sie gar nicht im Garten gewesen.

Du bestehst, sagte Vater, der in Stimmung gewesen war. Sonntag bleibt die Fabrik zu, hatte er gesagt, wir schlafen aus. Sonntag wird nicht gesägt. Jeder Ochse hat seinen Sonntag.

Sägen werden wir auch. Weil du im Herbst nicht mehr da sein wirst. Du bestehst, und bestehst du nicht, läuft die Schule eben weiter

Er sah auf den Hof, einen grauen Lützner Straßenhinterhof. Was hatten sie sich zu Hause beim Sägen nicht alles erzählt? Wie die Jungs abmarschierten, nein, auf den Laster stiegen, dort hatte er sie aus den Augen verloren. Das Schweineschlachten im Waschhaus war so ein Augenblick. Was die Landser hatten liegen lassen, gehörte dazu, Planen, Verbandszeug, Nebelbüchsen ohne Zünder, Bauklammern, Ledersäcke, die Eisenkiste, ganz große Schraubenschlüssel, vielleicht für Panzer und Kanonen. Hinter einen Querbalken im Schuppen hatte Johannes den Feldspaten gesteckt. Die den Bahndamm stürmten, hatten solche Spaten. Vielleicht gehörte einem von ihnen das Gesicht, das er gesehen hatte.

26

Wärst von uns der erste zum Studium

Er fuhr zu den Eltern, wartete auf Bescheid. Er holte Vater am Bahnhof ab. Zu erzählen gabs immer. Viele, die rumlaufen, sind wie aus der Zeit gerissen, sagte Vater, wie Kalenderblätter im Papierkorb. Wer erzählt denn noch was? Die Mütter? Von dem außer der Einberufung und dem Schrecklichen danach? Ob Erwin als Brigadier in der Bauunion erzählen wird, dass er mit Sammelbüchse rumgelaufen ist? Oder was er an den Granitquadern verdient hat für die Reichskanzlei? Soll die Adolph-Dora sagen, seit sie nicht mehr schwarz geht, wie das war in Teplitz? Vom großen Handballspieler wird sie berichten, das war der Adolph Walter wirklich, dem die Schüler, als die Olympiade stattfand, am Munde hingen. Alfreds Briefe an Mutter habe ich gelesen. Edith und Anneliese haben sie nicht weggetan, glücklicherweise, weil sie an Mutter gerichtet waren, sonst hätten sie Rendezvous gemacht, wie die Leute sagen. Sein Gesicht nahm einen schmerzlichen Ausdruck an. Die Briefe machen mich unendlich traurig. Alfreds Darmgeschichte hätte fürs Lazarett gereicht. Dieses verfluchte Pflichtgefühl, und immer Mutters Hoffnung, dass sie uns nochmal sehen wird in diesem eisigen Winter, in dem sie gestorben ist.

Anneliese hat alle Post eingebüßt, als die Russen die Marschnerstraße besetzten, an der jetzt der grüne Zaun lang läuft.

Alfred hat mehr aufgeschrieben als ich, er hat sich mehr getraut. Die eingeäscherten Dörfer, die brandschwarzen Reste, auf die Schnee fällt, bloß die Öfen sind stehngeblieben, schreibt er. Alfred ist von Polen vorgerückt in die Ukraine. Tod und Zerstörung sind bei den Russen gewesen. Den Vormarsch hab ich nicht mitgemacht.

Du warst bis Leningrad?

Vater setzte die Tasche ab. Da muss ich stehen bleiben. Du gehst mir zu schnell. Die Beschießung hab ich miterlebt. Hab manchmal geträumt davon. Angefangen haben wir. Weißt du, dass man in Farbe träumen kann? Dieses Blitzen. Der Horizont wie zerrissen.

Nach dem Essen fragte Mutter: Müsst ihr? Weil Hannes nicht mehr da sein wird im Herbst, müssen wir sägen.

Oswald hatte die Säge geschärft. Ist wieder zur Wismut in den Schacht nach Aue. Als Obersteiger. Wie geht’s, hat er mich gefragt.Mit seinem stillen unausdeutbaren Lachen, einem wissenden und vielleicht verzeihenden sagte er es. Ich sag immer zur Ella, wenn ich zum Zug geh, ich leb wie im wilden Westen, wenn Sie sich vorstellen können, was das ist. Zueinander sagen wir »Sie«.

Als ich mehr wissen wollte, winkte er ab. Die Russen bestimmen.

Am Tag drauf winkte Mutter. Post! Für dich.

Ich bin zu aufgeregt.

Die Holzpantoffeln in der Hand, sah er den großen Umschlag. Von der Universität.

Sie sagte: Ich geh raus.

Als sie wieder hereinkam, hatte er das Schreiben noch nicht aufgemacht.

Sie öffnete.

Ich hab kein schlechtes Gefühl.

Er hatte bestanden. Sie umarmte ihn.

Georg kam, legte den Finger an den Mund.

Die sind nicht da.

Geh klinken, ob sie da sind. Er meinte Benesch und die Schmidt Anna.

Für mich sind sie immer da. Georg nahm die Brille. Einladung zur mündlichen Prüfung. Ich freu mich.

Die Hauptsache war das Schriftliche, du wirst bestehn, bloß sorglos darfst du nicht werden.

Er holte drei Schnapsgläser, nahm ein viertes für Jürgen, wenn er aus der Schule kommt. Mutter war dagegen.

Heute wird keiner ausgeschlossen.

Wärst von uns der erste zum Studium. Wenn ich an den Pulverarbeiter denke, an den Schlosser und Zirkelschmied, was mein Vater war. Alfred hat es bis zum Lehrer gebracht. Den hab ich beneidet. Ich hab Zigarren sortiert, bis mich der Vater aus der Lehre nahm, weil mir ständig übel wurde. Linkshänder war ich, unmusikalisch, also unbrauchbar für die Orgel. Die Seminaristen sollten die Orgel spielen, den Kantor ersetzen, ich glaube, das änderte sich für Alfred erst seit der Revolution.

Ich wurde Schreiber. Im Krieg zogen Mädchen in die Verwaltung ein. Ich hör auf.

Wir sollten uns freuen, Georg.

Er holte den Ungarnwein aus dem Keller. Den hatte ihm die Genossenschaft zum Fünfzigsten geschenkt.

Auf den Studenten!

Die können nicht alles durchforsten, was im Fragebogen steht, hab ich gedacht, sagte Vater, und jetzt hast du mündliche Prüfung.

Am 25. Juli muss ich dort sein.

27

Ich lieb dich eben, sagte sie, von dir hab ich geträumt

Er hatte Regine umgehend geschrieben. »Ich war erstaunt«, schrieb sie zurück, »als ich schon Post bekam, aber noch mehr, als ich den Brief las! Fängst Du im Herbst an zu studieren? Oder machst Du erst dein Bibliothekarsexamen? Was studierst Du denn? Geschichte? Eigentlich geht mich das ja nichts an, nur kann ich mir nicht vorstellen, wenn du im September nicht mehr an der Schule sein wirst.«

Sie kommt vielleicht doch.

»Allerhöchstens könnten wir uns den einen Tag sehen, und abends spät wieder zurück. Am Tag vorher ist großer Kulturausscheid, da lassen sie mich nicht weg, weil ich mit verantwortlich bin. Seit ich den Brief gelesen habe, bin ich traurig. Warum, weiß ich nicht. Bitte, lass dich nicht von mir beeinflussen. Sei mir bitte bitte nicht böse, wenn es mit dem Wiedersehn nicht klappen sollte, weil ich nach M. fahre.«

Warum sollte ich böse sein.

Dann noch ein Nachsatz.

»Lieber Hannes, ich habe mir nochmals alles überlegt. Wir könnten uns höchstens am Dienstag, 21.00 dort, weißt schon, treffen. Ich werde alle Hebel in Bewegung setzen, dass ich kommen kann. Für die mündliche Prüfung wünsche ich dir recht viel Glück. Regine.«

Er zwang sich an die Prüfung zu denken und dachte wieder an sie.

Sie kam vom Hauptbahnhof mit der Straßenbahn, um Zeit zu gewinnen, das Fahrrad stand sowieso zu Hause.

Sie legten sich ins Gras, die Hast verflog. Still wars. Immer mal wieder fuhr eine Straßenbahn über die entfernte Brücke. Sie spürten keine Mücken, wenns überhaupt welche gab. Vom Flutbecken hinter der Stadionseite kam ein schwacher Lichtschein. Die Luft brachte die Schnellfahrgeräusche der Straßenbahnen mit, wenn die an der Kleinmesse volles Tempo fuhren.

Ich lieb dich eben, sagte sie, von dir habe ich geträumt.

Bloß nicht zu früh binden, war Mutters Rede, die Mädels aus deiner Klasse, wenn sie sich zur Mütterberatung treffen, schieben schon den Kinderwagen.

Mit der Straßenbahn fuhren sie zum Bahnhof.

Umgehend schrieb sie zurück, ohne Anrede: »Bei mir hat alles geklappt, aber ehrlich, wohl gefühlt habe ich mich nicht. Lieber Hannes. Ich möchte nicht, dass du denkst, du mußt mir etwas vormachen. Vielleicht war es aufdringlich von mir, als ich dir schrieb, dass wir uns treffen könnten. Vielleicht ist alles Quatsch.«

Sie lenkte ab.

»Was andres. Heute war ich zur Generalprobe. Wir sind über den Steg gelaufen mit allem Drum und Dran. Sogar mit Musik. Es spielte ein ganz kleines Orchester, drei Mann. Was denkst du, was die für eine tolle Musik machten. Zu jedem Kleid usw. die passende Melodie. Ich mußte ein weißes Perlonkleid, einen Morgenrock, ein Cocktailkleid und einen Hausanzug zeigen, ach ja, und einen Strandanzug. Am besten gefällt mir der Hausanzug. Ganz schwarz. Aber weißt du, ich bekomme bestimmt einen roten Kopf, wenn ich mich mit dem Zeug muß vor den Leuten zeigen. Das ist ein ganz figurbetontes Modell und dann der Ausschnitt! Wenn mich meine Mutti sehen würde! Es klappte ganz gut, nur bei dem Verbeugen im Perlonkleid legte ich instinktiv die Hand auf den Ausschnitt. Alle lachten! Das soll ich nicht tun. Langsam begreife ich, warum sie so dagegen ist. So und nun bis zum Wiedersehn, wenn ich von M. zurück bin. Viele Grüße von Regine.«

Vom Laufsteg hat sie mir nichts erzählt. Er redete mir ihr und dachte an sie.

Er hatte bestanden. Die letzte Frage, die sie in der mündlichen Prüfung stellten, war, ob August Bebel im August Vierzehn den Kriegskrediten zugestimmt hat.

Nein, Bebel war tot, als der Krieg ausbrach.

Prüfer und Beisitzer hatten sich angeguckt. Bestanden.

28

Geschichte beruht auf Tatsachen, das bleibt. Da drauf stoßen wir an

Die Post hatte die Studienzulassung gebracht, den Stipendien­antrag, die Einladung zur Immatrikulationsfeier.

Vater mit dem Stipendienantrag. Ausgefüllt wird zuletzt. Punkt 1.5. Soziale Herkunft: Das ist der Punkt, auf den’s ankommt. Sie verglichen die Angaben: Büroangestellter; vor 1933: Büroangestellter, 1933 bis 45: Büroangestellter, 1940 eingezogen. 1945 bis 50: Büroangestellter. Für 1951, 1952, 1953, 1954 wollen sie es für jedes Jahr wissen. Bleibt alles so.

 

Beruf der Mutter: Ungelernt. Der Fragebogen hatte sich nicht verändert. Vor 1933? Landwirtschaftshilfe. Bleibt alles, sagte Vater.

Soll ich die Haushaltungsschule in Hirschberg angeben, fragte Mutter, inzwischen alles Polen? Verwirrt nur. Wenn was zur Schule gefragt ist, sagst du, 1933 bis 45: Hausgehilfin, Hausfrau.

Als wir uns kennenlernten, das wirst du vielleicht nicht mehr wissen, Georg, war ich Küchenhilfe im Ratskeller und wollte der Verwandtschaft nicht begegnen. Die bauten ihre Villa. Wir waren verarmt, was unser Vater, Hannes, nicht zugeben wollte. Für dich, Georg, war ich die Müllerstochter, wenn auch bloß die Pachtmühle übrig geblieben war, als wir uns kennenlernten. Muttel hat sehr darunter gelitten.

Du hast im Ratskeller Teller abgeräumt, ich aß dort Mittag als städtischer Angestellter.

Wer hätte geahnt, was kommt?

Leben ist Kampf. War so eine Rede von deinem Vater, als er mit Bäckerartikeln auf Kundschaft fuhr. Als Verlierer habe ich ihn nicht gesehn.

Für die Verwandtschaft waren wir das, sagte sie. Du warst Beamter, das zählte für mich, und jetzt sind wir wieder Verlierer, du mit, Hannes, als sie dich ablehnten. Im Kreisratsamt war sie an beschilderten Türen vorbeigelaufen zum Kreisrat. Die Beamten sind in der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung entmachtet worden, sagte der schneidend: Ihr Gatte war Beamter, der Zugang zur akademischen Bildung gehört dazu, damit müssen Sie sich abfinden.

Bei Anneliese habe ich geweint.

Sie brachte das Mittagessen auf den Tisch. Er holte eine Flasche Apfelwein. Die Flasche leisten wir uns. Der neue Mensch ist der angepasste Mensch. Der Fragebogen vergisst nicht, denke dran.

Die zweite Flasche tranken sie am Abend.

Dass du Geschichte studieren wirst, darf ich niemand erzählen, sagte Mutter. – Geschichte beruht auf Tatsachen, das bleibt. Wer in Rückstand geraten ist, muss Umwege gehen, zu der Überzeugung bin ich gekommen, sagte Vater.

Wenn Siegfried die Uniform anziehen müsste, würde mich das sogar beruhigen, meinte Mutter.

Vielleicht muss ein Schlussstrich her. Georg hob das Glas. Als sie nach Greifswald fuhren, dachte ich, der Vorsprung wird kürzer.

Auf seinem Gesicht zuckte es. Eigentlich muss man sich dafür, dass man sich so vergleicht, schämen, aber wer in Rückstand geraten ist, muss aufholen. Da drauf stoßen wir an, Hannes, sagte Vater. Ein richtiges Apfelweinglas ist das, so ein gedrungenes. Meine Mutter hätte dir davon die ganze Geschichte erzählen können, ich bringe sie nicht mehr zusammen. Ganz neu anzufangen, den Mut habe ich nicht mehr.

Du, Hannes, hast die Entscheidung gesucht.

ZWEITER TEIL

BLEIBEN ODER GEHEN

Die Universität am Karl-Marx-Platz

Gewidmet den beiden Helmuts

Helmut Bergner (1936–2010) – genannt Helmutio

Helmut Soldner (1936–2015) – genannt der Graf

und Doris Höhne (1936–1984)

ERSTES BUCH: JEDE(R) FÜR SICH

29

Als in die Kongresshalle des Zoo hinein ein Löwe brüllte

Im Foyer der Kongresshalle des Zoo in einem Spiegel sah er sich plötzlich ganz: Von den Schuhen bis zum dicken Haar, der Mähne. Wie es sich an den Garderoben staute. Von da gingen sie in den Saal. Im Anzug, in dunklem Kleid, Kostüm. Irgendwas erinnerte ihn an die Konfirmation? Die Spiegel nicht. Der Anzug? Das leise Reden? Vielleicht das. Die Erwartung, die im Hals steckte.

Er dachte an die Prüfung und stolperte.

Kostet dich einen Kuss! rief die ihn am Arm fasste. Im Alten Amtsgericht auf dem Peterssteinweg begegnete er ihr wieder, er setzte sich nach hinten, sie entdeckte ihn trotzdem und hielt die Wange hin. Küsse sie weg, die Sommersprossen, die Biester. Am Elsterflutbecken waren Ruderer vorbeigeschossen, als Regine das sagte. Inzwischen war sie in München. Dass er stolperte, war Zufall, dass man sich begegnete, nicht. Bloß in die Dialektik von Zufall und Notwendigkeit war Johannes noch nicht eingedrungen, die lag noch zwischen den Deckeln der Blauen Bände.

Eberhard Spillner, strohblond, hatte im Hörsaal Platz genommen, Ingeborg, die er später Gothlinde nannte, auch. Sie konnte Gleichschritt halten, wie sich am 7. Oktober auf dem Karl-Marx-Platz zeigte. Eberhard war Pimpf gewesen. Du wirst sie ertragen, Hannes. In der Partei waren beide, Ebbi und Inge.

Zur Wiedersehensfeier 25 Jahre danach fehlten sie. Ingeborg war in Korea, Nordkorea, Kulturattaché. Eberhard hatte politisch versagt. Mitwisser des Versagens war Helmut Bergner. Helmut mochte seinen Namen nicht, weil es zu viele Helmuts gab. Er konnte, seit er in Budapest Deutsch für Ausländer unterrichtete, mit dem Colatrinken nicht aufhören; später erblindete er. Wenn Helmutio von Kádár sprach, nannte er ihn Joschi Patschi. Von Zeiß war Helmut über die ABF zur Universität gekommen, er blieb parteilos.

Eberhard, Ebbi, war unser Vorbild. War er! Niemand widersprach, als sie unter sich waren und das sagten. Ingeborg lebt in einem Land, in dem Menschen in Erdlöchern hausen, behauptete Jürgen Brandner, in dessen Erinnerung sie fest verankert war. Lasst uns anstoßen, damit sie an uns denken, Hannes, an dich vor allem, weil du sonst hingekracht wärst. Ich bin Zeuge und lüfte das Geheimnis um den Kuss, den ihr, als zur Immatrikulation der Löwe brüllte, entweder nicht bemerkt oder vergessen habt. Da drauf trinken wir!

Ein Löwe? rief Doris Hechler, Kunsterzieherin, vollbusig, inzwischen Kettenraucherin, was ihr das Leben gekostet haben wird. Ich habe keinen Löwen brüllen hören. Jürgen, der einen in der Krone hatte, widersprach. Erhebe dich, Vergessliche. Sie blieb sitzen. Da brüllte doch kein Löwe! Doch! Der brüllte! Gerade das war der Zufall, der Kuss nicht. Ingeborg war kein Zufall. Wir alle waren keine Zufälle.

Auf den Zufall! Der keiner war! Da drauf trinken wir! Auf die Notwendigkeit! Helmutio reckte das Bierglas. Auf die Gesetzmäßigkeit! Das Klassikerstudium! Die Blauen Bände! Hoch die Tassen! Helmut Soldner, Graf genannt, noch ein Helmut, trank Wein, Doris auch.

War alles beschlossen, das Gelöbnis auch, bloß wir wussten das nicht, rief Klaus Wagner, inwischen Berliner, der gleich hinter der Mauer lebte, bei den Schwiegereltern. Klaus war Zwickauer, der Vater alte KPD und hinter Max Hoelz hermarschiert.

Haben wir was gelobt?

Wenn du es nicht mehr weißt, Klausi, dass wir gelobt haben, bist du nicht dort gewesen. Erlaube, dass ich dich wieder so nenne. Meine Erinnerung ist zuverlässig, weil an meiner Seite ein Mädchen saß, das leise ausrief: Gelöbnis!? Auch das noch! Und ich trete noch einen anderen Beweis an, die Einladung vom 21. September 1955, einem Mittwoch, 14.30 Uhr. Da zogen die Fahnen ein, gefolgt vom Akademischen Senat, von Musikstück. Begrüßung, Rezitation. Glaubt ihrs jetzt?!

Damit ihr euch hineinversenken könnt, fange ich mit dir an, Hannes. Haben wir ein Gelöbnis abgelegt? Laut und vernehmlich! Ja. Jetzt du, Graf! Haben wir was gelobt? Ja oder nein? Wird so gewesen sein, sagte der bissel verlegen. Es war so. Jeder bekam die Einladung. Ihr seid festge­nagelt. Bergner wedelte mit der Einladung. Nach Rezitation die Ansprache durch den Rektor, den’s noch gibt, den Sauf-Mayer, Verpflichtung, Festprogramm, Nationalhymne. Ich sehe, Klausi, gibst dich geschlagen. Die Eidesformel verkneife ich mir natürlich nicht und höre dann auf.

Ich gelobe … Hört auf zu quatschen! Nochmal ... Ich gelobe, im Geiste des Humanismus, der Demokratie, des sozialistischen Fortschritts und der Völkerverständigung zu studieren; die Würde und das Ansehen der Universität zu mehren ... Schwarz und Omeier fehlen, sehe ich, außerdem quatschen die Geografen dazwischen. Wollt ihr alles hören? Alles, alles richtig bis jetzt! rief Fips – Günther mit th, ergänzte Bergner – ... Disziplin zu wahren sowie mein Wollen und Streben einzusetzen für den Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik ... Auf den Tisch klopfend Fips: Sehr gut! Disziplin!

Helmutio feixend: Gilt auch für Genossen!

Freches Schwein, dieser Bergner! ... für den Aufbau des Sozialismus, ich kürze ab, und so weiter. Fips dazwischen rufend: Was soll das sein?

Dann werde ich vorlesen, für dich solo … für ein einheitliches, friedliebendes und demokratisches Deutschland ... Überholt, rief Günther, aber wir wissen, wie’s gemeint war. Wollte ich nur hören, sagte Helmutio. Fips ungerührt: Am Ende werden wirs haben. Berg­ner bissig: Wenn nicht sozialistisch, dann doch einheitlich. Sagtest du was, Bergner? Sozialistisch, sage ich, Helmutio kam zum Schluss: … die Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt, ich höre auf.

Der Graf wollte das Gelöbnis ganz hören. Das wars. Hast geschlafen, seh ich, Soldner.

Jürgen Brandner wechselte das Thema. Mit der Vergesslichkeit ist das wie mit einer Krankheit. Ich hätte mich schlagen lassen. Kein Gelöbnis. Sind wir aufgestanden? Klaus Wagner, parteilos, stand auf. Ob wir im Stehen gelobt haben, ist egal. Vom Zufall war die Rede. Wo gabs welche? Es gab keine Zufälle. Von Notwendigkeiten waren wir eingekreist. Alles vorherbestimmt. Hans Christoph Sproemberg, an den ihr euch erinnern werdet, ist tot. Klein-Zack. Mit Pomade im Haar. Drüben gestorben. Dass Zacki auf der Liste war, verdankte er der Götheln, und dass ich, Arbeiterkader, druntergemischt wurde in diese Seminargruppe, auch kein Zufall. Ich wette, das hatte mit meinem Vater zu tun, und mitentschieden hat Gothlinde, sie war die Partei. Ich behaupte sogar, sie hat uns eingruppiert. Die Partei, bei einigen weiß ichs, sind inzwischen selber drin, außer mir und dem Bergner, das aber ist eine story für sich. Was hat die Inge, die mich liebte, an ihrem Tisch konnte man das nicht hören, mich bekniet, dass ich reingehe, ich meine die andre Inge. Die ist nicht glücklich geworden.

Die andre Inge saß einige Tische weiter. Sie waren Luft schnappen, als Klaus Wagner das sagte. Ihr wisst, wer der Vater ist. Die Inge kniete mir auf der Brust, was schon mein Vater versucht hat, und der ist bei Thälmann marschiert.

Helmutio fragte nach Franziska. Hat ein Kind, das zur Schule geht; die schwimmt ganz oben.

Und Gisela? – Kommt mich abholen.

Klaus Wagner hatte was von Schule gehört. Wenn du mich fragst, was sein wird, Hannes, mit der Schule, dann sag ich, bei den Schülern haben wir schon verspielt.

Wir sollten mit unseren Mädchen mal tanzen, meinte der Graf, weil Musik spielte. Unsern Weibern. Damens, meinst du, Bergner, verbesserte Gert Müller, der von Schneebarch, Schneeberg, angereist war, Lehrer, später Linkspartei, was noch keiner wissen konnte. Dann eben Damens, gab Helmutio nach.

Schade, immer fehlen welche. Omeier lässt grüßen. Jürgen wird gefragt: Schreibt ihr euch?

Er schreibt. Legte den Finger an den Mund. Nicht ich, zum Neuen Jahr. Mal aus Spitzbergen, mal von Honolulu.

Die Ratte!

Bin mit ihm zurechtgekommen, solange er da war.

Und Schwarz?

Gymnasium. Hamburg.

Werner kam an den Tisch. Sie wechselten das Thema. Brandner war auch Reisekader.

Bei der Einschreibung in der spärlich beleuchteten Kalinin-Mensa hatte Johannes Werner kennengelernt. Du kamst vom Seiteneingang, ich von der Mitte. Wir steuerten denselben Platz an. Ich war eher. Du hast mir den Weg abgeschnitten. Nein, ich war schneller.

Fips (mit Abzeichen) schmiss eine Runde für den Geografentisch. Früher sagte er: Wer mich verpfeift, kriegt eins auf die Mütze.

Beim Einzug in die Kongresshalle der Rektor vorneweg mit goldner Amtskette, gefolgt vom Senat, Anzugmenschen außer einer Dame, sie in rosa Kostüm, Eva Lips, Völkerkundlerin. Ihr Mann Julius Lips, Rektor-Vorgänger. Ein Kahlköpfiger fast ohne Hals war hinter einem Weißkopf hergegangen. Überflog den Saal, bevor er sich setzte, als müsse er die Gesichter auf Echtheit prüfen.

Sie hatten Platz genommen. Der Weißkopf mit Scheitel setzte sich nicht neben den Glatzkopf, sondern extra. Eberhard sagte: So stelle ich mir die Götter in Begleitung von Zeus vor, als er im Hörsaal 40 dem Weißkopf wiederbegegnete, er das Jackett zuknöpfend. In diesem Moment war die mit Perlmuttknöpfen besetzte Weste zu sehen. Herrenmensch, sagte Ebbi, Hannes, Kommandeur. Helmutio anzüglich: Von wem die Tränensäcke sind, verrate ich nicht. Solche sollten Kinder haben, die dafür gerüstet sind, statt welche wie mich zu quälen, Kenner des Althochdeutschen, des Mittelhochdeutschen, Altenglischen, Altnordischen, denen du jede grammatische Form abverlangen kannst. Aber das sagte Bergner später.

Ich hab auf die Kette geguckt, die der Rektor in den Händen hielt, sagte Doris bei diesem Wiedersehen nach fünfundzwanzig Jahren, und nicht an solchen Quatsch gedacht, ich fand, der Rektor sah würdig aus.

 

Müller aus Schneeberg meinte, ich guckte nirgendwohin, deshalb habe ich mir nichts gemerkt, bloß an den Löwen, als der brüllte, erinnere ich mich. Die Tür stand offen, und ein hagerer Mensch kam verspätet herein, hatte einen grauen Anzug an, Hornbrille in der Hand. Fast amüsiert sah der Rektor auf diesen Mann, als der Platz nahm und der Löwe brüllte.

Das Akademische Orchester spielte eine Festouvertüre, Trompeten schmetterten. Der Rektor hatte Schmisse im Gesicht. Den sah ich gut, und ich dachte, der Rektor spricht nur zu mir, sagte Doris Hechler. Johannes dachte an seinen Bibliothekarschulfreund Friedhelm Eichler, der sagte, als er von der Immatrikulation hörte: Den Pockrandt, du weißt, was ich meine, wirst du nicht los, was du mir nicht verübeln wirst, wenn ich sage: du hältst was ab. Den 17. Juni hatten sie an der Bibliothekarschule erlebt, die seitdem Erich-Weinert-Schule hieß.

Der Rektor brauchte kein Papier zum Reden. Ihr seid unser kostbarstes Gut, sagte er, die hellen Gesichter vor sich. Denn Ihr seid Glückliche, Ihr habt überlebt. Der Wiederaufbau ist eine vornehme Aufgabe. Wir haben gutzumachen, was das deutsche Volk den Nachbarn und der Welt angetan hat. Steht nicht abseits. Geht mitten hinein ins neue Leben. Ahnte er, dass das Gelöbnis nicht jeden erreichte? Das neue Leben muss anders werden als dieses Leben, als diese Zeit. Der Rektor sprach von einer politischen und einer moralischen Schuld, die an den Lebenden hafte, die gelte es abzutragen. Unauffällig war der Senat ausgezogen.

Man drängte zu den Garderoben. Blicke flogen. Das Mädchen mit Blauhemd, an das dachte er. In der Aula auf der Lumumba­straße hatten sie die Klausuren geschrieben, er für Geschichte, sie für Medizin. Bloß zur Immatrikulation begegnet waren sie sich nicht.

Dafür begegnete er Ingeborg, der anderen Inge, Karin Milde, Hansi, die Parteimitglieder waren. Inge und Karin rauchten, Ingeborg nicht, sie war als Kindergärtnerin zum Studium gekommen, stramme Beine, keine Schönheit. Tołsta rić a ćenke nohi, to su burske dźowki, dicker Arsch und dünne Beine, das sind die Töchter von Bauern. Das Lied passte, bloß die Beine im Lied nicht. Wenn gesungen wurde im Handrij Zejler-Heim auf der Johann-Sebastian-Bach-Straße, im Seilerheim, wo die Sorben untergebracht waren, auch wegen der Sprache, sang man das zu vorgerückter Stunde, mal ohne Mädchen, mal mit, gesungen wurde viel.

Die Universität hieß inzwischen wie der Platz vor dem Hauptgebäude, dessen hinterer Teil kaum zerstört war. Vor dem Hintereingang die breite Treppe. An der Zufahrt zu beiden Seiten Rasen, auf dem ein Denkmal stand, davor paar verkrüppelte Schlehen. Am Karl-Marx-Platz ragte unversehrt die Paulinerkirche auf, die riesenhaft war und eine Kostbarkeit.

Sie saßen am Leibnizdenkmal, über das der Feuersturm weggebraust war. Die Schutthaufen sind weg, sagte Werner, und weil die Pforte nicht besetzt war, sah man sich im Treppenhaus um und in der dunklen Aula, die vollgestellt war mit Transparenten, eingerollten Fahnen, Malerzeug, Gestellen für Tansparente, soweit sie für den Ersten Mai, den Achten Mai, den Siebenten Oktober und anderen Aufmärschen brauchbar waren. Den Schnauzbärtigen entdeckten sie, andere bemalte Pappen, schwere Steinfiguren und überall Staub.

Seit der Bombennacht waren viele Institute der Universität zerstört. Notbehelfe verteilten sich über die Stadt.

Eberhard hatte Johannes in die Alte Universität mitgenommen. Geschichte der Philosophie. Musst du hören im Hörsaal 40. Flügel­türen. Ansteigende Bankreihen. Glasdach. Man saß unter viel Licht an Klapptischen. Überrannt wurde die Vorlesung nicht.

Klopfen. Der Professor trat ans Katheder. Der zur Immatrikulation zu spät kam, war es.

Eine Handbewegung. Das Klopfen hörte auf. Bloch sah seine Hörer an. Das Gesicht lang. Scheitel. Hat der einen Pferdenischel. Johannes sah am Sägewerk Rönischs Pferde auf der Koppel stehn. Den Vergleich mit dem Pferdeschädel fand er gar nicht schlecht, wenn er sich an diese Vorlesung erinnerte. Wie der erste Satz einschlug. Kein Hinführen. Kein an die Hand nehmen. Die Rede stürmte los. Eberhard schrieb hochkonzentriert mit, bewegte die Lippen, als spräche er das Gehörte nach. Johannes suchte nach dem Sinn. Als ob Vögel über den Himmel schießen, die Worte. Hörte Eberhard leise sagen: Sehr gut! Dieser Dionysos sei nicht mehr Rausch und nicht nur Dunkel und Nacht, sagte es mit dieser reibenden Stimme, die er vernahm, sondern Nacht und gleichzeitig leuchtend. Wer war Dionysos? Mir fehlt Wissen. Zarathustra, sagte Bloch, und als dieses Wort fiel, hielt Johannes einen Faden in der Hand. In einem Buch, das so hieß, hatte er wie betäubt gelesen. Der von den Bergen gestiegen war und unaufhörlich redete, nannte sich Zarathustra, und wenn seine Rede zu Ende war, sagte er: Also sprach Zarathustra. War das Dionysos? Das Buch hatten sie ihm weggenommen. Großvater las es und konnte nicht aufhören. Wilde Hunde verwandelten sich in Vögel. Im Traum war der Junge herumgeirrt, zum Plumpfüßler, wie der Philosoph ihn nannte, geworden. Der Seiltänzer war abgestürzt. War das Zarathustra, der den Toten wegtrug? Bloch sprach über das Appolinische. Das edle attische Maß. Den Begriff muss ich mir merken, aufschreiben. Das Apollinische liege auf der Oberfläche, sei aber nicht des Pudels Kern. Der wäre das andere, was man in Griechenland das Dionysische nenne, die Welt des Rauschs. Das Apollinische sei das Gegenteil von Rausch, die Welt des stillen Traums. Seitdem wären beide Kategorien zu Tode gehetzt worden. Nietzsche sei daran unschuldig. Der hätte, wäre er gesund geblieben und hätte er den Faschismus erlebt, sich von den Hitler-Naturen und dem Klumpfuß (so wurde Goebbels genannt) mit heftigstem Abscheu abgewendet.

In diesen Zeitsprüngen steckte Grundsätzliches.

Nietzsche habe zur Katastrophe beigetragen, werde behauptet. Der Professor beurteilte das anders. Die diesen zu einem Vorläufer von Hitler machten, was leider von allen Antifaschisten betrieben werde, irren. Es sei ungeheuer schädlich, so zu denken. Dieser Nietzsche habe bloß zwei Hemden besessen, von denen er immer eines kleiner machen musste, um das andere zu flicken. Schließlich fiel der Satz: Nun kommen wir zum Schluss.

Der Blick auf die Uhr zeigte, es war ein Vorschluss.

Nietzsche sei beschienen gewesen von einer Welt, die noch nicht da sei, und seine Philosophie an der Brücke der Zukunft gelegen. Das klinge uns ja nicht unvertraut, warf er mit gepressten Worten hinterher. Seine Zukunft sei nicht unsere Zukunft, aber in ihm lebe wie in wenigen Philosophen Intention der Zukunft und Wille zu reiner Luft.

So stand es in der Mitschrift, die sich Johannes nach der Vorlesung geben ließ, und als Letztes: Dieses Aufbegehren gegen Verkleinerung und die üble spießige Art, in welcher Zivilisierung oft ende, sei zu allen Zeiten Jugend genannt worden. Schwierig die Philosophie. Dinge, die eben nicht nur blau waren wie die Blauhemdhemden; sie konnten auch himmelblau, blassblau, lichtblau, veilchenblau, marineblau, preußischblau, tintenblau sein, auch blaugrün. Die Vorlesung endete mit starkem Klopfen.

Sie waren die lange Treppe heruntergekommen, hatten am Leibnizdenkmal gestanden. Du hast Nietzsche gelesen, ohne es zu wissen. Verrückt, was mit Büchern passiert, sagte Eberhard, als er hörte, durch welchen Zufall Johannes zu dem Zarathustrabuch gekommen war. Es lag in einer Kiste bei uns im Sägewerk. Fritz Rüger hieß der Anführer der Hitlerjungen. Seinen Namen hat er in jedes Buch geschrieben.

Hat sich der mal gemeldet? Die werden tot sein, sagt Mutter.

Und nie hat jemand nachgefragt? Nie.

Es wurde kühl.

Die Mitschrift krieg ich zurück, Hannes.