Leipzig

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Die Woche drauf sahen sie den Professor die lange Treppe hochsteigen und zogen sich zurück. Niemand überholte Bloch. Die Treppenabsätze ignorierte er.

30

Erstes Semester. Geschichte? Zu politisch

Die Ordnung im Studium beruhte auf dem Studienplan, den Seminargruppen, Prüfungen. Der Stundenplan war vorgeschrieben, Anwesenheit selbstverständlich. Sie exzerpierten und konspektierten. Wer sich mit wem zusammensetzte, ergab sich, ganz zufällig war es nicht.

Rudolf Woschick, mit dem Johannes im Internat wohnte, hatte das Geschichtsstudium aufgegeben. Geschichte? Im dritten Semester hab ich aufgehört. Zu politisch das Fach. Deutsche Geschichte hast du im zweiten, Geschichte der UdSSR im dritten usw. Damit hatte Rudolf nichts mehr zu tun. Ab viertem Semester kriegst du Schwerpunkte. Das fünfte Semester hatte zwanzig Wochenstunden, das sechste vierzehn, das Siebente sechs. Kann sich über Nacht ändern.

Ich habe achtundzwanzig, inzwischen, es kann nur besser werden, sagte Johannes, der als Wahlfach die Geschichte der Hussitenbewegung belegte.

Josef, Bürstenschnitt, ein Hüne, vermutlich katholisch, wer heißt sonst Josef, außer bei Sorben, den Leuten auf dem Eichsfeld und Vertriebenen? Borschke kam aus Halle und wurde Seminarsekretär.

Sie stellten sich vor. Inge Wörner sagte, ich komme aus Bottrop. Ich aus Wermsdorf, ČSR, sagte Doris Höhne, die hatte in Erfurt die Oberschule besucht. Ingeborg, der sie den Namen Gothlinde gegeben hatten, war Mitte zwanzig, die älteste von den Mädchen der Seminargruppe. Ich bin in Eppendorf geboren, sagte sie, als wäre das Berlin. Hannelore Gürtler kam von Erfurt. Kristina Lundgreen war Finnin, Andrei Rumäne. Bin aus Pernau. Mehr sagte Georg Kösel, Jahrgang einundzwanzig, nicht. Niemand fragte, wo Pernau ist oder war. Helmut Soldner hatte in Torgau die Oberschule besucht, Helmut Bergner in Jena die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät, ABF. Philipp, Fips, tat bei dieser Vorstellung bissel vornehm, sonst war er in Ordnung. Eberhard älter, verheiratet, Genosse, bei dem Parteigeheimnisse durchsickerten, war keine Führernatur und vorsichtig, was am Ende richtig war.

Borschke gab Organisatorisches bekannt. Jedes Studienjahr endet mit einer Zwischenprüfung. Prüfungsfächer im ersten Studienjahr sind Alter Orient, Geschichte des Deutschen Volkes, Marxismus, PolÖk (Politische Ökonomie), Russisch, Sport. Die Ergebnisse werden ins Studienbuch eingetragen. Die großen Vorlesungen besuchen alle, Lehrerstudenten und Diplomanden. Manchmal, jetzt zum Beispiel, rutschte bei Josef das Lachen in Grinsen ab, als er sagte, die Diplomanden werden später ausgewählt. Für Anfänger ist Latein Pflicht, wöchentlich drei Stunden. Nach der Vorlesung in der Hunderteinundneunzig, das war Raum 191, Russisch! Zweite moderne Fremdsprache in der Regel Englisch. Die letzten zwei Studienjahre dienen der Spezialisierung, das hat noch Zeit. Vor- und Frühgeschichte als Spezialisierungsfach sind nicht zugelassen. Wer Diplomand wird oder Lehrer, entscheidet sich im dritten Studienjahr. Selbststudientag für uns ist Mittwoch. Borschke hatte die Anleitung besucht und trug aus seiner Mitschrift diese Punkte vor. Auf einem Gummiwagen hinter Pferden konnte ihn sich Johannes vorstellen, aber nicht im Geschichtsstudium. Dass ich’s nicht vergesse, heute 12 bis 13 Uhr erste Vorlesung, Französische Geschichte.

Die Begrüßung durch den Fachrichtungsleiter findet erst am 27. September statt. Professor Sproemberg befindet sich noch in Rom. Vier Semester Sport, ich kanns nicht ändern, für alle. Erscheinen im Dress, klar. Wenn Ihr im Plan hinter der Uhrzeit s.t., also s-Punkt, t-Punkt lest, fängt es zur vollen Stunde an, das heißt pünktlich, steht c-Punkt, t-Punkt, c.t., dann Viertelstunde später.

Akademisches Viertel, rief ein Rotblonder mit verpickeltem Gesicht, Lothar Hegend, und Hans Christoph Sproemberg, Sohn des Fachrichtungsleiters, nickte. Borschke bestätigte das.

Zuständig bei Fragen zum Studium ist Herr Dr. Selter, der das Proseminar für Allgemeine Geschichte der Neuzeit leitet. Sprechzeiten sind Montag, Donnerstag, Freitag von Zwölf bis Eins. Habt Ihr das? Die Grundvorlesung Marxismus-Leninismus geht über vier Semester, fängt im ersten an mit Diamat, also sofort, ich muss das nicht übersetzen, übersetzte dann doch: Dialektischer Materialismus. Politische Ökonomie Grundlagenstudium, also PolÖk, beginnt mit dem Kapitalismus, dazu Seminar. Ab dem zweiten Semester Hist. Mat., also Historischer Materialismus, und PolÖk– Soz. Seminar. Die wichtigsten Geschichtsvorlesungen sind Urgesellschaft, Geschichte der alten Welt, Geschichte des Mittelalters, Geschichte der Neuzeit, alles mit Seminaren.

Johannes schwirrte der Kopf.

In jedem Seminar wird Protokoll geführt. Es gibt Seminarscheine. Übernächste Woche, Josef grinsend, sechs Tage Kartoffeleinsatz, den organisiert die FDJ.

Die erste Vorlesung, die sie hörten, war Alte Geschichte, viel Stoff, furchtbar langweilig. Kein Lehrbuch. Unendliches Mitschreiben. Bei Dr. Werner hörten sie Geschichte des Mittelalters. Der schlug ein Schulheft A 5 auf, erläuterte den Vorlesungsplan, die Gliederung, gab Literatur an, stellte Thesen auf und begründete sie. Ernst Werner sprach frei. An Briefschreiben war bei ihm nicht zu denken. Den Dialekt, den er redete, identifizierte Eberhard als sudetendeutsch-bayrisch. Den ersten Brief nach Hause schrieb Johannes in Systematischer Pägagogik, mit halbem Ohr hinhören genügte.

Ingeborg, die Hannes die Wange zum Kuss hingehalten hatte, war PO (Parteigruppenorganisator). Bei ihr sickerte nichts durch. Die Seminargruppen waren auch FDJ-Gruppen, die Studienjahresversammlung auch FDJ-Vollversammlung, ein Aufwasch.

Wer nicht der Partei angehörte, verließ die Versammlung. SED-­Mitglied war auch Karin Milde, genannt die Kuh. Den Namen verpasste ihr Helmut Bergner. Wer sie ablehnte, nannte sie so. Steigerung war stinkende Kuh, was Doris nie sagte, die parteilosen Mädchen alle nicht. Karin rauchte. Hansi, sie hieß Hansmann, auch Partei, fing erst spät mit Rauchen an. Ich rauche mit, sagte Ingeborg, gelernte Kindergärtnerin, verlegen, die als einzige Genossin der Seminargruppe Nichtraucher war. Bergner meinte die SED, wenn er von Parteiweibern sprach. Zuallerletzt hatten Inge Wörner, eine mit dünnen Lippen, und Hansi, mit Rauchen angefangen. In Inge verliebte sich Klaus Wagner. Die presst alles zusammen, was sie hat, sagte er, als er sie das erste Mal heimgeschafft hatte, und sie qualmt. Finis und Schluss, das war später.

Eberhard erklärte das Rauchen aus den zermürbenden Versammlungen. Die nahmen kein Ende, deshalb die Raucherpausen.

Inge, die andere Inge, war begehrt, Ingeborg nicht. Ist mit der Partei verheiratet, behauptete Bergner. Als Klausi Wagner seine große Liebe gefunden hatte, Lehrerstudium, und solchen Bällen unter der Bluse, wie Helmutio das nannte, war alles entschieden. Werner, genannt Marcise, redete mit Händen, war ziemlich klein und bisschen blass, wenn er Regie führte, beim Kabarett ungeheuer lebhaft. In der Kalinin-Mensa bei der Einschreibung waren sie sich begegnet. Werner hatte Girokonto, Johannes keins. Wie soll ich Ihnen das Stipendium auszahlen, fragte die Sparkassenfrau, ohne Konto. Sie lenkte ihn zur Sparkasse. Werner wohnte bei den Eltern. Kohlenkarte hast du angemeldet? Im Wohnheim brauchte er sie nicht, behielt sie trotzdem. Anbei für zu Hause die Kohlenkarte, 500 Gramm Zucker (Zucker gibt’s neuerdings frei) und zwei Streifen Marga. »Schickt mir für den neuen Monat bitte Fettmarken, ich schicke Margarinemarken zurück.«

Als Mutter von der Immatrikulation hörte, sagte sie, in Gedanken ist Muttel mitgegangen. Sie meinte ihre Mutter. Wir sind dabei gewesen, als sie dich in die Universität aufgenommen haben. Ganz fest habe ich an dich gedacht, selbst wenn du kein Arzt werden kannst, ich hab die gebildeten Herren vor mir gesehen, als sie hereingezogen kamen, und dass du dazu gehörst. Wenn unser Vater in der Mühle an den Walzenstühlen stand und Onkel Edwin uns besuchte, der Uhrmacher war, bewunderte er Vater mit seinem Können.

Das Zimmer auf der Lützner Straße bei Wolfram hatte Johannes aufgegeben und war mit geborgtem Leiterwagen durch den Palmengarten zur Bachstraße gefahren. Zum Abschied ein Blick vom Hof zum Fenster, wo Frau Wolfram stand, er mit Fahrrad. Bleiben Sie gesund.

Im Internat Johann-Sebastian-Bach-Straße 44 im Erdgeschoss teilte er sich mit Freunden ein Dreibettzimmer. Drei Schränke, drei Stühle, zwei Tische, die sie zusammengeschoben hatten, und Internatswäsche. Die fasste sich kühl an, wenn sie ausgegeben wurde. Sie machten sich bekannt. Georg, Jurij Nuk, studierte Slawistik, Erwin Hanusch auch, später kam für Jurij Erwin, Mediziner, den sie Sascha nannten, bis er auszog, weil die Freundin ein Kind erwartete. Dann rückte Christoph nach, Slawist.

Vom Dreibettzimmer ging man in den Klubraum, wo ein Klavier stand. Der Klubraum herrschaftlich, die Diele Eiche, breite Fenster mit Blick auf die Terrasse, Platz zum Sitzen, sich in der Sonne ausstrecken, Lesen und Lernen.

Die Besitzer hatten was mit Büchern zu tun, waren reiche Leute, sind heute drüben, aber nicht enteignet, sagte die Reinemachfrau.

Sascha rief, wenn er kam: Ich bins! – und warf die Bücher aufs Bett, den Alverdes, Anatomie, den Treibs, Chemie, entspannte sich, und wenn er sehr kaputt war, setzte er sich ans Klavier. Werner Kittan studierte Sport studierte. DHfK, Deutsche Hochschule für Körperkultur, prangte auf dem Trainingsanzug. Ein Theologe sollte mit ihm im Zimmer wohnen, der sträubte sich, weil Kittan Genosse war, da hatte Werner nachgegeben.

Gegenüber vom Wohnheim die graue große Villa war Poliklinik, und hinter der Ferdinand-Lassalle-Straße fing der Clara-Zetkin-Park an, der früher Albertpark hieß, und weiter dahinter die Rennbahn, das Scheibenholz. Die Elster floss vorbei, die roch nach Chemie.

 

Vom Wohnheim aus war ein Landesteg zu sehen. Über den Sitzbänken der Barke Stromkabel, an denen bemalte Glühbirnen baumelten. Über die Klingerbrücke fuhren Straßenbahnen. Bei offenem Fenster hörte man sie. Dem Lüftchen, das momentan wehte, fehlte die Kraft, so viel dicke Luft über dem Wasser wegzuschieben. Gerudert wurde trotzdem. Die Sportboote der DHfK waren den ganzen Tag unterwegs. Vom Fahrrad aus mit der Sprechtüte riefen sie ihre Kommandos früh schon, wenn er als Externer zur Bibliothekarschule gefahren war, dafür hatte er den Selbststudientag Geschichte und den studienfreien Sonnabend genutzt.

Regine hatte er in der Großen Pause getroffen und manchmal am Elsterflutbecken, bis sie eines Abends sagte: du musst frei sein, wenn du studierst und ganz neu anfängst. Sie verheimlichte nicht, dass sie bei ihrem Vater in München leben wird. Vielleicht hatte sie erwartet, er würde mitgehn. Ohne die Arme zu heben, hatte sie ihn geküsst. Die Dahlien verglühten. Herbstlicht. Den Kuss spürte er noch lange.

31

Zuerst hast du das Sirenengeheul gehört

Das Alte Amtsgericht auf dem Peterssteinweg hat die nach der Zerstörung in der Bombennacht im Dezember dreiundvierzig betroffenen Universitätsinstitute aufnehmen müssen, die Historischen Institute, das Philosophische Institut, die Altphilologen, die Institute der Theologischen Fakultät, die Indologie, Albanistik, anderes. Wer in das langgestreckte Gebäude eintrat, drückte die hohe Türe mit der Schulter oder beiden Händen auf. Gothlinde überließ das dem Zufall. Der kleine Mann auf Roborsohlen, den sie inzwischen kannten, auch, er kalkulierte den Abstand zur Tür, bevor die zufiel, und trat ein. Manchmal blickte er einen aus blauen Augen an, Markov, Walter Markov. Ein Spezialseminar, das Johannes besuchte, behandelte die Italienische Widerstandsbewegung vergleichend, auch Tito und den jugoslawischen Befreiungskampf, auf den er bei Fragen mit größter Genauigkeit zu sprechen kam. Im Seminar rauchte Markov Zigarren, kubanische. Bedienen Sie sich, aber keiner traute sich.

Die Nazijustiz war abgeschafft, die Gerichtssäle vom Amtsgericht füllten sich mit Studierenden. Aktenschränke hat niemand wegrücken müssen, höchstens Schreibtische. Im hohen Treppenhaus Steintreppen, schmiedeeiserne Geländer, wie geschaffen zum Rutschen bis in die Keller. Gothlinde hatte den Zugang. Wie selbstverständlich ging sie hinein. Die andere Inge auch. Ebbi nicht. Nazischrifttum lag hier, Westliteratur, verbotene und geächtete Bücher, alles, von Trotzki bis Tito.

An sonnigen Tagen saßen sie an der Hinterseite der Alten Uni, und der in Erz gegossene Perückenmann an der Universitätsstraße sah zu. Wer zuerst kommt, wartet.

Zuerst hast du das Sirenengeheul gehört, fing Werner zu erzählen an. Wir raus aus dem Bett, rein in die Sachen. Die Wäsche lag bereit. Du hörtest die Bomber. Die Motoren dröhnten. Wenn die Bombe einschlug, pendelte im Luftschutzkeller die Lampe. Meine Mutter rannte auf den Wäscheboden. Die Bodentür aufschließen war Vorschrift. Die Stadt voll dunkler Rauchschwaden. Die Rauchwand sehe ich heute noch. Du musstest in der Straßenmitte laufen. Vom Connewitzer Kreuz Richtung Innenstadt. Wirst du nicht kennen. Kenn ich. Zusammengesackte Häuser. Über Fahrleitungsdrähte sind wir geklettert, über abgebrochne Lichtmasten.

Feuer braust.

Dieses ungeheure Brausen. Soll ich aufhören?

Erzähl weiter.

Je weiter wir in Richtung Innenstadt kamen, umso mehr brüllte das Feuer. Das brüllte wirklich. Am Fichtebad war Schluss. Kein Durchkommen. In den Kellerfenstern glühte es wie in einem Ofenloch. Mutter hat mit mir einen Bogen gemacht. Tote hab ich gesehn, ausgeglühte Bettgestelle. Du musst dir Schuttberge vorstellen, zwischen denen sich später die Leute durchschlängelten. Wo wir sitzen, rundum Trümmer. Er zeigte es mit der Hand. Es dauerte, bis alles erloschen war. Der Schuttberg wuchs, je mehr aufgeräumt wurde. Vergisst du nie.

Weißt du, wie Phosphor brennt? Du denkst, die Flamme ist erstickt, und plötzlich brennts wieder. Bei uns stand dazu im Keller überall Sand. Die Sandkiste gibt’s noch.

Werner schüttete Kleingeld in die hohle Hand. Für die Kinokarte wird’s reichen. Kannst mitgehn. Wenn du mal zu mir kommen willst, besuch mich. Der Vater sammelte Briefmarken, er war bei der Post, Werner Arbeiterkind.

Wenn du solange wartest, geh ich in die Kirche.

Aus ziemlicher Höhe fiel Licht. Er hörte die Orgel. Kühl wars. Die Jackenärmel waren zu kurz, die Haare zu lang, einen Spiegel sollte man immer einstecken haben, hätte Mutter gesagt. Das Orgelspiel brach ab, fing wieder an. Der übt. Jemand öffnete eine Tür, er ging mit und stand für einen Moment auf dem Karl-Marx-Platz, der früher anders hieß. In der Platzmitte liefen verschiedene Straßenbahnlinien zusammen. Wenn Kundgebungen stattfanden, wurden für die großen Aufmärsche dort die Tribünen aufgebaut.

In Leipzig ist alles groß, nicht bloß Hauptbahnhof und Neues Rathaus. Im Kreuzgang der Universitätskirche Grabmale. Steingesichter. Kinderaugen aus Stein. Das verwirrte ihn. Er drehte um. War das die Geschichte? Er verließ die Kirche.

Am Denkmal hatte sich neben Werner Fips hingesetzt, mit schmalem Gesicht einer, der aufstand und ihm die Hand gab. Wir waren zusammen an der Oberschule. Fips war auch Arbeiterkind, wie sich bei der Vorstellung ergab. Er musste an Wolfgang Böckler denken, von dem Friedhelm Eichler, auch Bibliothekarschulfreund, behauptete, er, Böckler, den er manchmal Pomuchelskopp nannte, wäre das einzige Arbeiterkind, von dem er das glaube. Wenn man Friedhelms Maßstab anlegte, war Fips vielleicht keins. Dass Günther sich mit th schrieb, verstärkte den Zweifel. Arbeiterkinder gehörten zur herrschenden Klasse, das war der Punkt, auch Bauernkinder. Was im Fragebogen stand, zog niemand mehr in Zweifel. Als Fips sein erstes Referat hielt, sagte er es auf wie Die Kraniche des Ibikus. Auswendig. Da war das Semester fast rum. Auf die Idee wäre Böckler nicht gekommen.

Sie wollten ins Kino.

Ein Auto hielt, es fuhr bis an die Treppe der Alten Uni. Der Fahrer übergab eine Mappe und sah dem Mann, der ausgestiegen war, hinterher. Alter Opel, sagte Fips. Steifbeinig, den Mantel über den Arm gelegt, streifte der Fahrgast das Denkmal, an dem sie saßen. Im Hörsaal werden sie ihm begegnen, später, dem Germanisten Theodor Frings.

Suchen Sie sich ein zweites Fach, hieß es am Ende des ersten Studienjahres. Johannes entschied sich für Germanistik, Helmutio, Eberhard, Helmut Soldner, Werner, Margot Gürtler auch. Fips und Jürgen Brandner wählten Geografie, Doris Kunst­erziehung, Gothlinde Sinologie.

Wer sich der Bildung zuwandte, den umschlang sie, selbst als sie etwas Fremdes zu umklammern begann, Zwang.

32

Du hast dich verändert, sagt Mutter

Vor Weihnachten, kurz vor dem Fest hatte sich Otto Pinkert angesagt. Ich denke, der Otto hat Freikarten, die fährt er ab, sagte Mutter. Gerne kommt er auch, meinte Vater, weils bei dir was Süßes gibt, nicht bloß für mich.

Sie holten Otto vom Bahnhof ab.

Damit musst du erst mal fertig werden, wenn du alleine bist, sie verließen den kleinen Bahnhof. Für einen Moment Schweigen. Die Lohe hat den Himmel gefärbt, und ich auf meiner Lok, mich hätte es auch erwischen können.

Sie gingen durch Abeles Busch. Der Berg hat eine Mütze, sagte Vater.

Muss ich heute aber nicht rauf, Georg, tät mir Mühe machen bei dem Raureif das Steigen. Ich denk manchmal dran, wenn wir mit der Martha bei Schnee oben waren.

Meine paar Jahr fahr ich noch ab. Da standen sie schon in der Küche, als er das sagte. Schön, Otto, dass du kommst. Mutter brachte was zu trinken.

Sie redeten. Deine Geschichten müsste man aufschreiben, Otto, die Bonzen mit ihren eigenen Versprechungen erschlagen.

Ist alles sehr politisch geworden. Bei euch bestimmt auch, Hannes? Ohne auf Antwort zu warten, sagte er: Die Jugend hat nichts mehr vom Leben, wenn er auch nicht behaupten könne, dass es früher besser gewesen wäre. So zeitig haben die jungen Leute aber nicht geheiratet. Jeder denkt, er verpasst was, wenn er sie nicht jeden Abend in den Armen hält. Otto machte die Rechnung auf: Geheiratet mit neunzehn, mit dreiundzwanzig drei Kinder.

Auf der Lok mein Heizer sagt, Norm sind viere, der Staat zahlt Prämie. Drum halte dich ran, Hannes.

Ich denke, die Geburtenzahl sinkt, Otto?

Als du in Gefangenschaft warst, wars so. Inzwischen hat das Zusammenkneifen aufgehört.

In der Gefangenenbaracke malten sie Frauen auf die Wand. War so. Mit dieser Erinnerung stockte das Gespräch, bis Otto sagte: Die Alten sind im Wege. Mach dich rein in die Kiste und fort. Wie ich ein Fläschchen Tinte im Kramladen kauf, klagt mir eine Frau ihr Leid. Von der Rente kann man kaum leben, bei der Polizei der Sohn hat sechshundert, der alten Mutter gibt er nichts ab. Sind nicht alle so, sagte ich. Warum gerade meiner? sagte sie.

Wieder ungeheizt der Zug, ich gehe zum Bahnhofsvorsteher.

Musst mir nichts sagen, Georg, weiß alles.

Du kommst von Leipzig? Johannes hatte die halbe Nacht auf dem Neustädter Bahnhof in der Mitropa rumgesessen, auf den Anschluss nach Zittau gewartet. Tischdecken eingeweicht, Bierpfützen.

Hier sitzt der Schmutz an Tischen,

Den die Nacht hereingetrieben,

Und grelles Neonlicht scheint auszuwischen,

Was an Gesichtern noch geblieben.

Otto würde mich auslachen, wenn er wüsste, dass das von mir ist.

Ich bin Zugfahrer, sagte Vater, du, Otto, stehst auf der Lok, das ist der Unterschied. Es gibt keine Lok, die den Zug vorheizt.

Musst mir nichts erzählen. Mir frieren die Dampfschläuche ein. Wir können nicht heizen. Mein ständiger Ärger.

Otto, ich bin durch den Kreisrat geirrt, zum FDGB, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, zur örtlichen Industrie, beschweren hilft nicht, der Abteilungsleiter nicht da, die Sekretärin blies mir den Rauch ins Gesicht.

Otto lachend.

Sie sind doch Interessenvertreter, Kollege, sagte ich, weil ich den Genossen am Telefon hatte, der mir sagte: Du musst einen Artikel in die Zeitung setzen. Betrifft dreihundert andre auch, sage ich. Na gut, ich werde mirs vormerken. Das war vor drei Wochen. Der Zug ist immer noch ungeheizt, Kollege, sage ich. Ich kann nichts ausrichten, bekam ich zur Antwort. So siehts aus, Otto. Ich habe mich eingereiht in die Armee der Hoffnungslosen. Dem von der Gewerkschaft will ich das noch sagen. Oder ist das zu riskant, Hannes?

Man muss sich inzwischen überlegen, was man sagt, meinte Otto.

Du denkst, zu scharf?

Ja. Außerdem bringts dir nichts, die haben deinen Namen. Bei diesen Zuständen kann niemand helfen.

Ich hab Streuselkuchen für dich gebacken, sagte Mutter, über die Streuselmargarine schmeckst du einfach drüberweg.

Wir reden zu viel, und du, guter Kerl, kommst uns besuchen.

Den feinsten Streusel machte meine Martha.

Schweigen.

Du studierst?

Nichts Technisches. Was mit Büchern.

Bei Politik hörst du eben weg. Wie das Neue ist, wirst du sehn, musst die Augen eben offen halten.

Georg hatte zwei Systeme untergehen sehen, sagte das, das Kaiserreich, die Nazis. Du, Otto, bist auf deiner Lok geblieben, ich hab meine eingebüßt.

Das Leben vergeht bei jedem.

Mir hat jetzt einer im Zug gesagt, die Menschen haun ab oder drehen den Bonzen den Rücken zu, oder wirst selber Funktionär. Ändre das mal. Erst muss alles hochkochen.

Wenns auch nicht lohnt, das erzähle ich noch, sagte Otto, es hat mit dem Prämiensystem zu tun, damit du siehst, wie ich mich wehre. Die fahren eine Strecke mit hundert Prozent Steigung, Nossen–Lommatzsch. Bis zur Steigung schaff ichs alleine, dann kannste Dampf machen, sag ich dem von der andern Lok. Mich lässt er anfahren. Die Maschine schnauft. Verdammt, will der sich ziehen lassen, denke ich, verpulvre meine Kohle, und der für weniger Verbrauch macht Prämie. Also runter mit dem Dampf. Tsch, tsch, tsch, mein Zug bleibt fast stehn. Der Kollege brüllt. Angefahren hab ich, weil ich vorne dran hänge, nun mache du schön alleine weiter. Auf meine Kosten Kohlenprämie kassieren! Nicht mit mir. Wenn der Zug hundert Achsen hat, bringt jeder die Hälfte, anders nicht, sonst kommt am Ende Verspätung raus.

In dem Land übertrumpft die Wirklichkeit alles, sagt mein Bahnfreund, ein Gärtner, mit dem ich im Zug sitze. Martin, sage ich, das Morschen, er meinte Vermorschen, passiert in aller Stille.

 

Ein Beispiel, Otto. Weil er frei macht, fragt er mich, sieh mal, ob du zwei Fläschel kondensierte Magermilch für mich bekommst. Die Verkäuferin: Schon aus, leider. Kondensmilch kommt erst nach den Feiertagen. Die hätte mir eine gegeben. Ich sage, ich bringe eine von mir mit. Weißt du, wo die Milch herkommt? Aus Stavenhagen in Mecklenburg. Das ist die Planung. Dafür bekommen Planungsleiter tausend D-Mark im Monat.

Und dazu regelmäßig Prämie, Georg.

Immer diese Debatten, seufzte Mutter. Jürgen war todmüde aus der Schule gekommen und schlief.

Es dauerte, bis das Gespräch wieder in Gang kam.

Willst du bei der Bahn anrufen?

Die sitzen mit dickem Arsch und nehmen zur Kenntnis.

Weil sie ihren Posten haben. Du müsstest im Kreisrat sitzen, da würden die Arbeiter vielleicht sagen, die Gewerkschaft ist was nütze, sagte Mutter.

Otto lachte. Bewirb dich, du wärst der richtige Mann.

Die Lowa ist unse! Gemeint war der Lokomotiv-Waggonbau. Jeder bedient sich.

Ich habs nicht leicht, sagte Mutter, Georg spart das Mittagessen, und ich koche Riesentöpfe, wenn er heimkommt.

Was sollte Otto dazu sagen? Mit einem Mal hatte sie dieses unendlich traurige Gesicht. Ich werde arbeiten gehen. Dieses Leben habe ich nicht verdient, ich werde es mir schön machen, und du kannst die Gefangenschaft fortsetzen, ich will raus, Otto, aus der geteilten Wohnung. Geh mal ins Dorf zu den Leuten. Hannes kennt bloß sein Internat und fährt wieder ab.

Bei mir brennt es oben mal durch, Otto, ich kann in diesem verfluchten Lande nicht mehr leben.

Lei-se!

Benesch lief über den Korridor, ließ Wasser ein. Die Wohnstube haben sie Edith genommen, da war ich in Gefangenschaft. Benesch und Anna Schmidt sind zwei Haushalte, Edith mit den beiden Kindern war einer. Wie ich heimkam, war alles umgeändert.

Auf dem Wohnungsamt sagen sie: Sie stehen auf der Liste, wenn was frei wird.

Das kann nicht so bleiben.

Sagst du. Wir sind Gefangene, Hannes, das wirst du noch begreifen, und vielleicht wird es dann zu spät sein. Tu mir dann wenigstens Abbitte, wenn ich dort liege, wo die Eltern liegen. In seinem Gesicht zuckte es. Sie seufzte.

Ich weiß auch, was der Unterschied ist.

Du denkst, du weißt es. Auf was wartest du?

Dass es besser wird.

Manchmal sehne ich mich zurück in die Zeit vor Hitler. Mit dem fing das Unglück an. Mir ist zuweilen, als müsste ich explodieren, eins greift ins andre, vermutlich hab ich Zucker, und manchmal denke ich, ich gehöre nicht hierher, was meine Heimat ist, und sind alle vor mir auf dieser Erde rumgelaufen. Brendel, der unsre Wohnung auf der Bahnhofstraße übernommen hat, jetzt Staatsanwalt, er soll aus dem Rheinland stammen, der sagte, erinnert sich Edith, mein Vaterland ist dort, wo meine Genossen wohnen. Als sie dich wegen der Oberschule ablehnten, hat sie bei ihm vorgesprochen, hoffte, dass er hilft. Zu der Zeit hatte ich Wasser im Bauch. Der Brendel hat die Tür nur einen Spalt geöffnet, war vier Wochen in Bad Schandau zur Schulung, dann haben sie ihn zum Volksrichter gemacht.

Ich fühle mich so mutlos, sagte Edith.

Ottos Gesicht sagte, ich kann nicht helfen.

Wir kommen auf den Stand der Muschkos, der Muschkote sitzt auf seinem Bündel am Bahnsteig und wartet, zwei Stunden, vier Stunden, fuffzehn Stunden, ich habs erlebt, ab und zu spuckt er einen Sonnenblumenkern aus. Menschen mit zerschnittenem Nerv sind das. Ich war einer und sehe sie hier wieder. Solche Menschen braucht dieser Staat.

Spät abends gingen sie zum Zug. Es sind die Umstände, sagte Otto. Bleibt gesund! Ich fahre meine Jahre ab. Du wirst sie auch abfahren müssen, wenn du bleibst.

Die Fenster waren vereist. Gesund bleiben, wiederholte er.

Es muss noch was andres geben, sagte Hannes auf dem Nachhauseweg, weil die Idee gut ist, Gothlinde ist die Partei, nicht die Idee.

So begannen die Weihnachtstage. Schneeflocken flogen.

Als Otto zu Besuch war, waren die freien schönen Tage fast vorbei.

Johannes graute vor den Versammlungen, diesen Sitzungen, den Anweisungen. Die Versammlungen waren eine für ihn neue Daseinsform, aber was er nicht wusste, es gab Steigerungen. Referate wurden im Parteizimmer beschlossen. Im Studienjahr bestimmte Gothlinde, die Partei bestimmte über die FDJ und alles andere. Ständig hatten sie was durchzuführen, zu beachten, weiterzugeben, irgenwo teilzunehmen.

Du hast dich verändert, hatte Mutter gesagt.

33

Mit Umtopfen meinte Vater, die drehen euch das Gehirn um

Umtopfen, nannte die Kindertante von der Bahnhofstraße in Bautzen die Verwandlung, die sie an Johannes, wenn er zu Besuch kam, beobachtete.

Die drehen euch das Gehirn um, sagte Vater, was dasselbe war.

Du schreibst mit, Hannes? Protokollierst? Nagelst mich fest und Mutter gleich mit, sagte er im Spaß.

Weil ich Geschichte studiere.

Besser, es bleibt im Kopfe, statt was aufzuheben, wo man dich dafür, was du denkst, festnageln kann. Ist Gefangenschaftserfahrung, Kriegserfahrung auch.

Ich studiere mit dir mit, wenn du über die Universität redest, bemerkst es manchmal bloß nicht.

Es gab Lehrer, die echt waren, daran war nicht zu zweifeln, Heinrich Sproemberg, Fachrichtungsleiter, war einer davon, über den sie redeten, Mittelalterhistoriker, oder Markov, der aus dem Widerstand kam. Die sind mir sogar sympathisch, wenn ich an die Weimarer Republik denke und mit der Nazizeit vergleiche.

Der Satz, dass Sein das Bewusstsein bestimmt, war plausibel, und von dem Neuanfang ging eine gewisse Zwangsläufigkeit aus. Etwas Neues hatte angefangen, anfangen müssen, weil alles eine Fortsetzung hatte. Übriggebliebne suchten den Anfang, andere ihren Vorteil.

Otto Pinkert auf seiner Lok hatte die kalten Züge nicht zu verantworten, das Ganze war viel schwieriger. Der Satz vom Sein, das das Bewusstsein bestimmte, hatte seine Richtigkeit, selbst wenn Georg auf den bemalten Pappen den Schnauzbärtigen sah. Würde er das letzte Wort haben, wenn Sein und Bewusstsein ineinandergreifen? Es kam anders. Das veränderte Sein brachte bald schon Unerwartetes hervor, Ungarn, die Revolution.

34

Die Säule der Autoritätsgläubigkeit steht noch unerschüttert im Denken vieler junger Leute, wenn man jetzt auch in etwas breiteren Bahnen öffentlich diskutieren darf

Dass ich im Februar zu Semesterbeginn auf Wunsch von Sproem­berg, und durchaus gegen meinen Willen, zum Seminarsekretär ernannt worden bin, zu einer Figur in einem auf lange Sicht geplanten und gut eingefädelten Spiel, das zu unliebsamen und gefährlichen Zusammenstößen führen kann, verdanke ich meiner Stellung innerhalb des ersten Semesters und meiner Haltung, nicht nach rechts und nicht nach links zu schlagen. Begründung, ich sei objektiv, »der älteste«, das heißt im Stillen, keiner von den »anderen«, was ein sehr zweischneidiges Schwert ist.

Mein Ziel, die Neuwahl des Seminarsekretärs im dritten Semester.

Wenn Sproemberg, Professor, der Fachrichtungsleiter, geduldet wird, um die Loyalität des Hauses nach außen zu demonstrieren, wenn sein Name als Aushängeschild für die den bürgerlichen Intellektuellen gestatteten Freiheiten benutzt wird, die sehr beschränkt sind, so wird man dem geistig nicht hervorragenden Sohn, der sich wichtig tut, dies niemals gestatten, auch weil in seinem Anhang einige Gleichgesinnte schwimmen, die auf den Vater bauen, und dieser weiß genau, dass der Sohn nicht aus der Haut kann und nicht soll, die der Vater ihm übergezogen hat, weil die väterliche Macht nur in bestimmtem Maße auf gewisse Personen ausdehnbar ist, während die Fäden in den Händen der Partei zusammenlaufen. Der Alte hofft vielleicht auf eine gute Beurteilung für seinen Sohn zur Zwischenprüfung.

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