Leipzig

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Auf dem Fensterbrett Gewehre. Wir haben ein Recht drauf, dass wir wissen, wo du warst.

Bei mir.

Die Hand vorm Mund, Gertraude.

Bei Wolframs.

Du lügst?

Ich hab gelesen. Den Schwejk.

Erzähl uns das nicht!

Fahrt hin. Liegt dort. Walter bot sich an.

Es kam nicht dazu. Die Schärfe war raus.

Jetzt fragte Johannes. Was soll ich nicht mitgekriegt haben?

Na das, den Angriff auf unsere Grundlagen.

Wenn die politisch werden, friere ich, sagte Irina, als das überstanden war. Trotzdem, ich hatte den Eindruck, sie waren froh, als du reinkamst.

Irgendwas, Hannes, musst du doch mitgekriegt haben.

Lastwagen, Leute, vielleicht Fahnen.

Tarnung, sagte Rudi.

Ich weiß nicht, ob Fahnen waren.

Aber etwas musst du doch mitgekriegt haben?

Als Soldat war Rudi Gernitz bei den Panzern gewesen. Redete, die Zigarette zwischen den Fingern, die nicht ausging. In so einem Panzer hatte er gesessen und für einen Moment die Hände auf die Ohren gepresst. Freunde, sie oder du, im Krieg hast du keine Wahl! Das stand bei Curzio Malaparte. Ich hab plattgewalzte Menschen gesehn, das nämlich meint Die Haut, der Roman.

Beim nächsten Mal, Hannes, bist du, zack, zack, bei der Truppe.

Das es nicht geben wird! das nächste Mal! sagte Pockrandt, Parteiabzeichen am Blauhemd, an der Brusttasche. Er sah uns aus zusammenstehenden Augen an, uns alle, die wir zwischen diesen schiefen Wänden im Dachgeschoss standen. Hast allen Grund, klassenbewusst aufzutreten! Die Drohung blieb ihm im Ohr, die konnte er nicht vergessen.

Klaus Pockrandt hatte Dantons Tod gelesen, ihm das Reclam-Heft in die Hand gedrückt, die Stelle angestrichen, blau, dick, und vorgelesen, vor der Gruppe. Robespierre: »Die soziale Revolution ist noch nicht fertig; wer eine Revolution zur Hälfte vollendet, gräbt sich selbst sein Grab. Die gute Gesellschaft ist noch nicht tot, die gesunde Volkskraft muß sich an die Stelle dieser nach allen Richtungen abgekitzelten Klasse setzen. Das Laster muß bestraft werden, die Tugend muß durch den Schrecken herrschen.«

Die Tugend muss durch den Schrecken herrschen. Wenns stimmt, hat die Tugend die Panzer geschickt, sagte Friedhelm.

Wem kann ich trauen? Niemand. Die Frage war beantwortet. Wir verwandeln uns, sie hatten sich auf die Gefahr eingestellt.

Dass du nichts mitgekriegt hast, sagte Pockrandt, das konnte er nicht vergessen. Es war so. War es so oder anders? Pockrandt kam nicht drüber weg. Immer waren beide Seiten betroffen.

Der Regen hatte die Plakate vom Ausnahmezustand Tage später nicht abgeweicht, sie wurden abgekratzt, die am Lindenauer Markt, anderswo, überall. Gertraudes Eltern berichteten aus Görlitz, dass Arbeiter die Bonzen zur Besichtigung in einen Hundezwinger gesperrt hätten. Uta Schäfer hatte Parteiabzeichen auf der Straße liegen sehn, weggeschmissene. In Großenhain auch, sagte Klaus Grimm. In Jena haben sie Straßenbahnen zusammengeschoben und einem Panzer den Weg verlegt, erzählte Ursula Uhlmann. Gertraudes Bruder war am Theaterplatz dabei, wo vom Italienischen Dörfchen bis über die Brücke zum Neustädter Markt die Straßenbahnen standen, überall Menschen, Polizei dazwischen, Russensoldaten auf Motorrädern und welche auf Lastwagen mit Maschinengewehr.

Stimmt, sagte Irina, die Lastwagen fuhren Kurven, um die Menschen an der Zusammenballung zu hindern. Jedes Mal, wenn ein Motor anlief, berichtete ihre Schwester, rannten Leute hin, umstellten das Fahrzeug, verhinderten das Weiterfahren. Wieder welche fluteten über die Gleise. Jemand nahm den Bügel von der Oberleitung. Den hätten sie abschießen können. Gefährlich wurde es, als Russensoldaten mit vorgehaltnem Gewehr, Messer dran, in Kette ankamen. Die haben den Postplatz geräumt, bestätigt meine Mutter. Mein Bruder ist schnell in die Straßenbahn und nach Weinböhla, wer weiß, was ihm passiert wäre.

Wolfram fährt auf dem Hauptbahnhof Rollkarren, er hats am Markt brennen sehen, der Pavillon der »Nationalen Front« brannte lichterloh, die Propagandabude, sagt Wolfram. Die Leute gucken, manche lachten. Welche sind mit dem Fahrrad ganz nahe dran vorbei an den Russen. Vom Bahnhof aus zogen die Leute in die Innenstadt, mit einer schwarz-rot-goldnen Fahne, vielleicht an einer Wäschestange. Wolframs sind gleich im Garten geblieben.

Gertraude, vorsichtig: Hast du wirklich gelesen?

Ja, wirklich.

Irina blieb skeptisch, ob bei den Leuten in den Augenwinkeln Schadenfreude zu sehen war, als Johannes das sagte, der Pavillon wäre abgebrannt. In Augenwinkeln siehst du nicht viel.

Mir hats genügt, Irina. Im Haus der FDJ auf der Ritterstraße hatte er Gardinen aus den Fenstern hängen sehn, die hingen wie weiße Fahnen. Panzer hatten die Rohre stadtauswärts gedreht, waren an der Elsterbrücke aufgefahren, und tagelang rollten die Straßenbahnen dran vorbei.

Klaus Pockrandt wohnte bei einem von der Kasernierten Volkspolizei, bei Familie Krannich, Liebknechtstraße. Dem hatten sie ins Gesicht gespuckt. Gesindel, sagte Pockrandt. Statt den zu erschießen, hat der Kamerad ihm eine geklatscht. Unsre Genossen sind als Russenknechte beschimpft worden. »Hier wohnt Krannich – er schießt auf Deutsche.« Den Zettel bringe ich mit.

Nichts hat er mitgebracht.

Wolfgang Böckler befielen Zweifel, ob die Russen gezielt geschossen haben.

Herr Wolfram, schon im Nachthemd, erzählte von dem Zugbegleiter, den kenne er von Halle, der würde nicht sagen, dass sie welche erschossen haben, wenns nicht so wäre. In der Dimitroffstraße am Amtsgericht ist geschossen worden, am Untersuchungsgefängnis, darüber wollte er mit Wolfgang Böckler nicht reden. »Ihr werdet vom Ausnahmezustand gelesen haben, der über Leipzig verhängt ist. Ihr müsst Euch keine Sorgen um mich machen. Den Brief schreibe ich in Verwaltungskunde«, schrieb er nach Hause.

Schreibst heim?

Vorn spielt die Musik, Herr Böckler!

»Ab 21.00 und vor 5.00 darf niemand auf der Straße sein. Es waren gestern fast alle Leipziger auf den Beinen, und die Arbeit ruhte. Viele öffentliche Gebäude sind demoliert, die Scheiben eingeschlagen, das Gefängnis aufgebrochen, Gefangene raus, die Akten verbrannt.« Herr Boden fing an, die Kataloge zu behandeln, die Bestandsgliederung, Bestandsübersichten. »An allen wichtigen Punkten in der Stadt stehen die Panzer unserer sowjetischen Freunde und unserer Volkspolizei. Sie haben gestern auch einige der Radaubrüder und Westberliner Agenten erschossen.« Wird Vater verstehen, warum ich so schreibe? »Heute fuhren in der Stadt einige schwarze Wagen, durch deren weißes Milchglasfenster schwarze Särge leuchteten. In der Stadt sind leider auch einige große Friedenspavillons niedergebrannt, das größte Aufklärungslokal der Nationalen Front ebenfalls, die Transparente abgerissen. Gestern gab es regelrechte Schlachten zwischen Polizei und Randalisten. Man warf mit Steinen, das Pflaster ist aufgewühlt, mit Holzknüppeln und Milchflaschen.«

Die Post ist nicht sicher, behauptet Friedhelm.

»Ich kann abschließend nur sagen, daß die Regierung diese Mißstände bald beseitigen möge, um diesen Radaubrüdern und amerikanischen Agenten das Handwerk zu legen. Heute ist alles wieder ruhig, und fast alle arbeiten wieder.« Herr Boden behandelte den Schlagwortkatalog. »Nur an den Läden stehen Hunderte von Menschen. Es gibt daher kein Brot. Die Menschen hamstern ungeheuer.« Er klebte den Brief zu. Pausenklingeln.

Sei in allem sehr vorsichtig, schrieb Vater zurück.

Ich brauche Wäsche, deshalb schreibe ich.

Sie warteten auf den Russischlehrer.

Pockrandt zweckte was an die Wandzeitung. »Russisch fällt aus, Herr Döhler dolmetscht.« Walter war damit zufrieden, er brachte russisch kein Wort richtig heraus.

Willi Zschiedert erschien. Also Zuckmayer.

Pockrandts Finger ging hoch.

Ich denke, wir bleiben bei Zuckmayer.

Wieder Pockrandt.

Sie, ja, bitte, Sie.

Ich heiße Pockrandt.

Zschiedert beugte sich übers Pult, strich die dunkle Mähne aus der Stirn. Wie schallend er lachen konnte. Bei solcher Begeisterung ließ er die Hand auch mal auf dem Kopf liegen, um das Haar zu bändigen. Der Hauptmann von Köpenick.

Pockrandt aufstehend: Wie stehen Sie zum »Tag X«, Herr Zschie­­dert, »Nicht Worte – Taten entscheiden«, und zeigte zur Wandzeitung. Heftiges Nicken bei Gernitz.

Was der 17. Juni war, Herr Pockrandt, wenn Sie das meinen, sagte Zschiedert endlich, dazu hat mein verehrter akademischer Lehrer, Hans Mayer, sich vor Assistenten und Gästen so geäußert, dass wir jetzt miteinander sprechen müssen. Dem schließe er sich an.

Zwischen den schiefen Wänden bemerkten sie mit einem Mal, wie heiß es war.

Das sagt uns ein Emigrant. Zschiedert suchte sein Taschentuch. Ich wiederhole ihn. Am 17. Juni ging es in Wahrheit um Faschismus oder Antifaschismus. Ich möchte ihn so verstehen, wir alle müssen Lehren ziehen. Erst wenn ein echtes Vertrauensverhältnis besteht, ist der Faschismus endgültig geschlagen.

Unsereinen betrifft die Literatur, meinte Zschiedert, da liegt vieles im Argen. Irina schob der Freundin einen Zettel zu. Wer redete da? Zschiedert oder sein akademischer Lehrer vom Germanistischen Institut.

Die Älteren unter uns haben gewisse Bilder in Erinnerung, gewisse Klänge im Ohr, klirrende Fensterscheiben, die Verbrennung von Büchern und Papieren, was an die Tage nach dem Reichstagsbrand erinnere, die Zschiedert nicht gesehen haben konnte. »Wir in Deutschland kennen die Weise, den Text und die Herren Verfasser.«

Böckler schnipste, fragte, wer? Was?

Weiß es jemand, fragte Zschiedert. Wer noch außer Herrn Eichler? Fräulein Großmann. Heine. Genauer?

 

Wintermärchen.

Sollte ein angehender Bibliothekar wissen. Vieles liegt im Argen. Zschiedert erinnerte an die große politische Rede, die Thomas Mann zu seinem 75. Geburtstag gehalten hat, in der er über die Sowjetunion sagte, wenn nichts anderes ihm Achtung geböte, so wäre es diese Gegenstellung zum Faschismus italienischer oder deutscher Färbung.

Gertraude Schubert unterbrach. Meine Wirtin sagt, die Arbeiter waren es, die Leute selber hab ich nicht gesehn, wir durften ja nicht raus.

Wer durfte nicht raus?

Du warst vielleicht draußen, ich nicht, Rudi, ich hatte nicht mal ’ne Decke beim In-der-Schule-schlafen.

Musst du doch zugeben, dass wir ziemlich eingesperrt waren, sagte Waltraud Arlt.

Dafür wart ihr in Sicherheit.

Die Diskussion lief auseinander. Nicht alle durcheinander.

Arbeiter, richtige Arbeiter? fragte Pockrandt. Mehr konnte er nicht sagen, Zschiedert kam ihm zuvor: Darüber sollte man sich nicht täuschen.

Mitläufer gab es auch, Unentschlossene, sagte Evelyne Fehrmann.

Arbeiter sind gegen unsere Staatsmacht aufmarschiert. Die Partei schätzt ein, dass sozialdemokratische Losungen aus faschistischen Händen in einer faschistisch gelenkten Bewegung vorangetragen worden sind, erklärte Pockrandt.

Friedhelm mit hängenden Schultern hörte zu. Irina hatte Walter im Blick. Du sagst dazu nichts, redeten ihre Mandelaugen. Sie nahm ein Spiegelchen zur Hand, als müsse sie feststellen, ob sie noch da war.

Wir müssen Lehren ziehen, das Volk, Zschiedert stockte, als würde eine Waage für Sagbares vor ihm stehen. Die Regierung aber auch. Er kritisierte das Banausentum in der Literatur.

Ich geh mal aufmachen. Irina ging zum Fenster, vorbei an Walter, der sich mit einem Löschblatt Luft zufächelte.

Schreckensherrschaft der Sonne, wie Jorge Amado sie beschreibt, sagte Harry Matter, der Amado bewunderte. Immer diskutieren dieselben, vieles muss geändert und verbessert werden.

Das nehme ich auf, sagte Pockrandt. Fehler haben das Vertrauen der Werktätigen erschüttert. Daran ist unsere Organisation mit Schuld. Noch mehr Schuld trägt die FDJ daran, dass sich viele Jugendliche am 17. Juni von den Provokateuren zu unüberlegten Aktionen und Demonstrationen haben verleiten lassen. An der Schule haben wir das verhindert.

Willst du damit sagen, wir wären fähig gewesen, uns hinreißen zu lassen? Das verbitte ich mir.

Mit Aufstehen hatte Gernitz angefangen. Irina blieb sitzen, als sie das sagte.

Pockrandt ist gefährlich, meinte sie hinterher, der schreibt mit, wenn er sagt, ich formuliere das gleich mal, und einen festnagelt.

Pockrandt dankte den Sowjetsoldaten, den Volkspolizisten, den Kameraden der KVP, der Kasernierten Volkspolizei, die den »Tag X« verhinderten, der die Deutsche Demokratische Republik zum Tummelplatz von asozialen Elementen und Faschisten gemacht hätte.

Willi Zschiedert, den Kopf gesenkt, ließ den Erguss über sich ergehen.

Gernitz meldete sich.

Sie, bitte.

Warst du eher, Walter?

Gernitz redete parteigemäß, bis er aufhörte. Walter Döring sagte, er hätte sich gar nicht gemeldet. Im Kabuff hatte er zu Friedhelm mal gesagt, wenn einer in der Klasse ein Prolet ist, bin ichs. In der Werktätigenklasse zu sein, fand er, wäre eher keine Empfehlung.

Harry Matter meinte, am 17. Juni habe sich in einer entscheidenden Stunde eine Stimmung geäußert, wenn auch nicht als Unterstützung der Provokateure, aber als bedenkliche Lethargie, weil Kritik und Selbstkritik, dieses unverzichtbare Prinzip, nicht mal in Ansätzen sichtbar geworden wären, in unserer Klasse auch nicht. Harry nahm die Brille ab, wenn er aufgeregt war: Die Regierung habe jetzt den Anfang gemacht, was nur ein Anfang sein könne.

Es klingelte Pause. Pockrandt hielt sich nicht dran. Die Niederschlagung am Siebzehnten hat den Dritten Weltkrieg verhindert, sagte er jetzt. Unsere Jugendorganisation, die voller Vertrauen die Politik der Partei und der Regierung unterstütze, müsse grundlegend ihre Arbeitsweise ändern, auch unsere Gruppenleitung.

Pause! Gilt auch für dich, Klaus!

Grundlage dafür soll die Aussprache – Gertraude stand auf, blieb stehn – über den Bericht der Leitung zum Umtausch der Verbandsdokumente sein, auf der wir unter Anwendung von Kritik und Selbstkritik zu allen Erfolgen und Fehlern offen Stellung nehmen werden.

Zschiedert hatte die Tasche schon in der Hand, als er sagte: Es war ein Fehler, dass wir mit der Regierung nicht längst offen und rückhaltlos gesprochen haben. Was er über die Bonzen, das kunstfeindliche Banausentum, die bürokratischen Kunst- und Literaturdiktatoren gesagt hat, meinte Friedhelm nach dem Mittagessen, traut sich nicht jeder.

Wie sich herausstellte, hatte Pockrandt das Mitgliedsbuch der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft eingebüßt, verloren und zeigte den Verlust bei Böckler an, der DSF-Vertrauensmann war. Weggeschmissen wird ers haben, behauptete Gerlinde Otto, die sonst nie redete, als sie für sich waren.

Brigitta als FDJ-Sekretär beantragte Ersatz.

5

Ich traue niemand, dich ausgenommen, aber auch nicht unbedingt. Gershwin traue ich, meiner Erfahrung

»Wir waren in großer Sorge, weil keine Post kam, nun sind wir beruhigt. Hier ist alles ruhig, auch in Pirna, wo ich am Sonntag mit Lene, die mich fein bewirtet hat, einen schönen Schiffsausflug machte«, schrieb Mutter, »und vergiss Vaters Geburtstag nicht.«

»Nicht Worte – Taten entscheiden«, blieb an der Wandzeitung hängen. Die Niederschlagung hat den III. Weltkrieg verhindert, glaubst du das? Pockrandt genießt, wenn jemand seine Artikel liest, meinte Johannes, und Böckler stellte sich an die Wandzeitung. Na, ihr, lachte Irina, steht alles in der Zeitung, mein Wirt sagt, man muss die Zeitung richtig lesen. Wolfgang liest bestimmt, stichelte sie.

Wat meinst?

Ob du Zeitung liest? Hannes zeigte mit dem Finger drauf. Ob du Pockrandt gelesen hast? »Wir müssen in Zukunft unsere Beziehungen zueinander kameradschaftlicher gestalten. Leitsatz in unserer Arbeit soll hierbei der Satz sein: Nicht Worte – Taten entscheiden! K. Pockrandt.« Schwungvoll hat er durchgezogen, das P, sagte Irina.

Margot Röbke stellte sich vor Pockrandts Aufruf hin. Zu lang, was du da aufgesetzt hast. Brigitta ging nachprüfen.

Denkst du, dass wir übernommen werden? Davon gehe ich aus, Margot. Bei dir wäre ich mir nicht so sicher, sagte sie, als Klaus sich einmischte. Der lachte. Brigitta war Gruppensekretär, er ihr Stellvertreter.

Deine Überzeugung möchte ich haben, Klaus, dass wir übernommen werden, weil wir Arbeiterkinder sind. Bei der Disziplinlosigkeit vielleicht die Hälfte. Meinst du mich, Harry? Ohne Brille wirkte Harry Matter richtig hilflos. Dich auch, Klaus. Mich ärgert, dass ihr, Rudi, du, regelmäßig zu spät kommt.

Die Stunde fing an. Rolf Recknagel behandelte Jack London. Wir reden in der Pause, sagte Friedhelm.

Die meisten halten Abstand, meinte Regina in der Pause. Ich sehe, wie Pockrandt um Brigitta rumschwirrt. Denkst du, der glaubt dran, was er redet?

Bin ich der liebe Gott, Regina? Ich traue niemand – und Johannes ansehend –, dich ausgenommen, aber auch nicht unbedingt. Gershwin traue ich, meiner Erfahrung.

Wenn du genauer hinguckst, was Irina sagt, stimmt. Es hat sich was verändert seit Juni, die ganze Schule, überall. Ich sehs an Wolframs. Was ist mein Mann erschrocken, sagte Frau Wolfram, der war auf dem Bahnhof. Da hat das Erschrecken angefangen.

Die Verbandsdokumente waren umgetauscht. Das war Beschluss. Die halbe Klasse bestand aus Leitungsmitgliedern, hatte Posten, Funktionen, bloß Irina nicht.

Das Antilopenhafte an ihr sind die Augen, behauptet Friedhelm.

Klaus Grimm hatte den Sport unter sich. Walter Döring redete über Fußball, Rudi auch. Gernitz war mit seinem Rauchen schwer zu ertragen, genauso wenig, wenn er politisch wurde. Seine Stärke war Erzählen. Stehe ich doch gestern am Potsdamer Platz, mir gegenüber ein Heimkehrer. Sie redeten. Krieg, nie wieder! Die Bahn rollte durch Trümmer. Überall ist was Buntes angeklebt. Im Leben geht’s immer weiter, wenn du am Leben bleibst. Auferstanden aus Ruinen. Das Lied war gemeint. Sie bedienten sich von seiner Packung.

Döring dachte vielleicht an den Heimkehrer, denn er fing zu erzählen an. Als es aus war, war ich im Seekreis, im Mansfeldischen, da gings nach dem Zusammenbruch bloß ums Essen, ums Überleben, Wäsche. Die Flüchtlinge konnten sich nicht mal die Hände abtrocknen. Den Umsiedlerzug seh ich vor mir, die hatten nichts. Da sind die Genossen zu den Russen hin und mit die (er meinte die Genossen) zu den Nazis, den ehemaligen. Gebt für die Schuld, die Ihr habt, wenigstens Wäsche her, was klappte. Die Dolmetscherin kriegte von den Russen zur Belohnung ein Schneiderkleid, ein richtiges Kostüm war das.

Russen? Das Wort missfiel Pockrandt. Für mich sinds Russen, darauf bestand Döring, sagen doch alle. Hast du was andres gehört, als sie eingerückt sind mit ihre Panzer? Die Dolmetscherin zog sich gleich aus. Die hab ich in Schlüpfern gesehn, die erste Frau, die ich in Schlüppern gesehn hab, damals zur Anprobe, außer Mutter. Das Kostüm musste auf die Kommandantur hingebracht werden. Walter erwähnte ein russisches Ehrenmal.

Sowjetisches, kartete Pockrandt nach, was Walter ignorierte.

Die Schneiderin war meine Oma. Dirwegen hab ich den Faden verloren! Beim Essenausgeben hatte er den Faden wieder. Dass Oma sagte, »Bonzen gingen, Bonzen kamen – Amen«, kann Mutter bezeugen.

Übers Wochenende fuhr Walter zu seiner Frau. Den haben sie aus der Chemie von der Arbeit in die Partei geholt, von der Partei in die Bücherei. Walter ist delegiert, ich auch, sagte Friedhelm, deshalb sind wir Werktätigenklasse.

Die sich mit der Besatzung einließen, gabs die bei euch auch?

Im Kabuff stand die Luft. Walter überhörte die Frage. Die machten es für Speck und Brot, sagte Walter zu Friedhelm, als sie an der Haltestellte standen. Manchmal klebten Zettel am Lichtmast. Mit Maschine getippt. Hure, dazu der Name. Meist haben Hitlerjungs geklebt, sagte Friedhelm, als wäre er dabei gewesen.

Walter hatte die Demontagen erlebt, die Bodenreform, Neubauern, die Vertriebnen. Die Bauern sahen das ganz negativ, kein Spannvieh, keine Kühe, keine Gebäude. Verhaftungen durch die Russen. Die Russen haben hier manches Kind gemacht für Brot oder was andres. Wer will das auseinanderhalten? Die Demontagen werden totgeschwiegen, sagte Walter, die ganzen Russengeschichten.

Ich hab in Bautzen am Bahnhof die ausgeglühten Panzer gesehn, in denen wir rumgekrochen sind, und auf den Bahnsteigen die Holzkisten, reihenweise, meist Maschinen.

Im Kopf lief vieles ab. Als wäre alles auf einmal passiert. Sie redeten über Russenfilme. Tschapajew, Lenin, die Stalinfilme. Warm wars im Kino. In Gefangenschaft hat Vater Klaviere abgeladen, auf freier Strecke, runter damit, die Wagen wurden gebraucht, und ein Kamerad hatte sich über die Tasten gebeugt, das Klavier wimmerte.

Saß man in der Straßenbahn, verschwand zuerst die Bibliothekarschulvilla vor lauter Grün und dicken Kastanien.

Am Lindenauer Markt stieg er aus, erinnerte sich an die Plakate und vielleicht an Klaviere, die durch Birkenwälder rollten. Friedhelm stichelte: Kannst die Demontagen in Gewi ja anbringen. Walter Döring winkte ab. Die stören den Aufbau bis heute, bloß niemand redet drüber.

Hast du eine? Solche Fragen stellte Friedhelm mitten im Gespräch, wenn er nicht weiter reden wollte, da sprang dann eben das Gespräch hin und her.

Schreib, wie du dich nach ihr sehnst. Dass du von ihr träumst, dass sie neben dir liegt, wenn du aufwachst, blank wie eine Münze, du willst sie küssen und beißt ins Betttuch. So redete Friedhelm. Eines Tages wird deine Ruth angefahren kommen, und Wolframs werden den Besuch unterbinden. Wenn das pasiert, komm zu mir, ich zieh für paar Tage aus. Nimm sie, oder sie fliegt einem anderen zu, wenn du sie nicht bissel heiß machst. Frauen sind so, die brauchen Liebe.

Am Himmel hinter der gestutzten Linde vom Hinterhof der Lützner 75 stand der Mond. Da waren viele Hinterhöfe entlang der Lützner Straße. Die Vögel waren verstummt. Er hörte Wolfram sagen, Mutter, isch gehe los.

Einen Toten hatten sie durch die Stadt getragen, bedeckt mit abgerissenen Blumen. Den hatte der Wolfram gesehn, die Panzer auch, die in den weichen Asphalt drückten. Uta Schäfer behauptete, Luftgewehre wurden gleich an die Hauswand geklatscht.

 

Warum kann ich nicht schlafen? Wegen Harry? Das war gestern. Wegen Regina? Weil ich so blöde war. Er trank den Tee gleich aus der Kanne. Was sich neckt, das liebt sich, hatte Irina gerufen. Ein Stück Gurke war geflogen. Harry hatte die Gurke abgekriegt, die Regina treffen sollte. Was sich neckt. Harry kapierte das nicht. Er spielte sich auf und stellte sich an die Wandzeitung. »Befinden wir uns unter Rind-, Schweine- oder Hühnervieh? Die Frage ist berechtigt, wenn es vorkommt, daß sich einige Freunde, vor allem Regina und Johannes, so benehmen, als ob sie sich dazu rechnen. Oder ist eine neue Sportart des Gurkenwerfens eingeführt worden? Als Sportfunktionärin ist es doppelt beschämend, sich so albern zu benehmen. Wir hausen doch nicht in einem Stall.«

In der Pause schnitt sie Harry den Weg ab. Passt dir wohl nicht, dass du mit uns in einer Klasse bist? Regina wütend, was Johannes nicht verstand. Irina hatte die richtige Einstellung, sie winkte ab.

Er machte das Fenster weit auf. Bloß von der Straße kam Licht, ab und zu war ein Auto zu hören, sonst vollkommene Ruhe.

Du kannst doch nicht im Ernst behaupten, dass wir mit Nahrungsmitteln um uns schmeißen; Harry, sagte ich ihm, das bissel Gurke, ungenießbar war sie außerdem, und da hat der dumme Harry, sagte Regina, sich aufgeblasen, als er behauptete: »Die Reinemachfrauen haben es nicht nötig, Gurken aus Papierkörben und Ecken zu klauben. Mein Sprachschatz hat noch schönere Wörter, ich sage, mit Ferkeln muß man in ihrer eigenen Sprache reden«, sagte Harry.

Zu der Zeit standen an der Elsterbrücke die schweren Panzer.

Hannes hat Spaß gemacht, mischte sich Irina ein. Warum, das möchte sie nicht beleuchten, und du hast was abgekriegt, was sie zurückgeworfen hat, mehr wars doch nicht.

Regina lenkte nicht ein. Mich kannst du kritisieren, Harry, aber nicht mit solchen Übertreibungen, sonst gehe ich durch die Schule und zeige allen, wie der Jugendfreund Matter unsere Klasse in ein schlechtes Licht rückt. Der gab zurück: Wir bringen es nicht einmal fertig, in einer Gruppe von achtundzwanzig Personen Ordnung zu halten. Wie sollen Partei und Regierung im Land Ordnung schaffen, wenn bei uns keine herrscht.

Warum hat Matter diesen Streit angefangen und ist politisch geworden?

Auch Gernitz hatte sich eingemischt. Ihr seid nicht im Recht. Es ist eine schlechte Auffassung von Ästhetik, mit Nahrungsmitteln herumzuwerfen, und wenns nur ein Stück Gurke ist. Disziplinverstöße darf die Klasse nicht hinnehmen. Harry zeigt, dass die Arbeiter uns zeigen, wie man das macht, setzte Pockrandt fort.

Unästhetisch benehmen, was soll denn das sein? Das kam von Friedhelm. Wisst ihr überhaupt, was Ästhetik ist?

Sie lachten, bloß Matter nicht. Regina wehrte sich noch. Was Harry aufgesetzt hat, ist Quatsch, wenn du meinst, die Küche wird keine Nahrungsmittel mehr geliefert bekommen, ist doch Quatsch, wenn du das behauptest.

Wer sich nicht erziehen lässt, mit dem muss man anders reden, zuerst ist das die Wandzeitung, dazu stehe ich. Erklärt, dass ihr die Fehler einseht, dass sie nicht wieder vorkommen.

Sie verzog den Mund. Gefällt dir nicht, Regina.

Friedhelm hat recht, es sind Übertreibungen.

Irina sprach für alle. Wenn Klaus die Drohung mit den Arbeitern nicht zurücknimmt.

Was für eine Drohung?

Na die. Vielleicht haben wir uns missverstanden, Klaus.

Heise auf seinen Prothesen war hereingestiegen in den Dachraum, der diesen Querbalken hatte, über den jeder stolperte, der sich nicht auskannte. Hier geht’s heiß her, sehe ich.

Als müssten die Reinemachfrauen Gurken aus Papierkörben ziehen, wiederholte sich Regina, als ob sie Matter überzeugen könnte. Ich würde die Werktätigen missachten, behauptest du, die Frauen hole ich hoch, Harry, ein Stückl Gurke (sie redete schlesisch), mehr wars nicht, und ungenießbar war sie außerdem.

Die Stunde war zu Ende. Hört auf, Kinder! Friedhelm hob die Hände. Die Pause ist viel zu kurz.

Ich behaupte ja nicht, dass mein Verhalten richtig war, trotzdem übertreibst du, wenn du uns an der Wandzeitung angreifst. Mit Nahrungsmitteln herumwerfen, weil wir angeblich nicht wissen, wie kostbar sie sind, lasse ich nicht auf mir sitzen.

6

Der Siebzehnte hatte sie unvorbereitet getroffen. Sie vertrauten einander noch weniger. Höchstens, die sich küssen, feixte Friedhelm. Gernitz gibt die Linie vor

Sonnabend Mittag. Irina packte ihre Tasche. Matter will was zu bestimmen haben. Walter verabschiedete sich. Der Streit um die Gurke interessierte ihn nicht.

Friedhelm rauchte draußen. Alles wird besser, die Zeitungen sind voll. Grotewohl soll gesagt haben, die Regierung hat den Karren in den Dreck gefahren.

Irina mit spitzem Mund: Was sagt uns das? Ohne Wandzeitung findet nichts mehr statt.

Ich weiß, was du sagen willst.

Sie zog die Augenbrauen nach. Hängst du dran, musst du dich verteidigen, und das Kollektiv wächst.

Sie gingen zur Straßenbahn. Ist dir was aufgefallen? Die sagen nichts mehr. Die blassblonde Margot ist so eine. Sie hat kühle Hände, sagt der aus der Abiturklasse, der sie geküsst hat, ich könnte sie nicht küssen, die Margot, meinte Hannes.

Dieser ganze Quatsch fällt einem ein, wenn man nicht einschlafen kann, und Matter, der mir völlig egal sein kann, geht mir auch durch den Kopf, statt das wegzuschieben.

Wichtig ist, dass der Vorkurs übernommen wird, hatte Friedhelm gesagt. Denkt ihr, dass sich noch was ändert?

Der Siebzehnte hatte sie unvorbereitet getroffen. Sie vertrauten einander noch weniger. Höchstens, die sich küssen, feixte Friedhelm. Gernitz gibt die Linie vor. Wer steckt hinter Pockrandt? Die in der SED sind, wissen, wenn was brenzlich wird. Beim Hitlerattentat war das so, ich Pimpf. Wie ich dich kenne, wirst du ihnen nicht auf den Leim gehen. Attentat wirds keins mehr geben. Wie auch?

Seit Juni hatten sie den Fachschülerausweis bei sich zu haben. Besucher waren an- und abzumelden. Wer zu spät kam, hatte den bewachten Eingang zur Rathenaustraße zu benutzen. Mit der Zeitungsschau begann der Unterricht. Die Leitung arbeitete eine neue Schulordnung aus.

Die Fähigkeit zur Selbstkritik muss man erwerben, erklärte Rudi. Die Woche hatte begonnen. Damit Frieden ist, hängt ihr eine Selbstkritik ans Brett, riet Friedhelm, und Matter hat seinen Willen. Schon eingeleitet. Wer schreibt? Ich. Dann formulierst du. So war Regina. »Der Begriff Gurken, den Kollege Matter gebraucht, bezieht sich zur näheren Erklärung für die Leser unserer Wandzeitung nur auf einen Teil einer ungenießbaren Gurke, wir bitten Freund Matter in Zukunft keine solchen Übertreibungen zu gebrauchen.« Matter spinnt, setzte sie nach.

Du Ferkelchen! Mir geht der Matter so auf die Nerven, sagte Irina.

»Durch die Anschuldigungen wird ein schlechtes Licht auf unsere Klasse und vor allem auf uns geworfen, Als ob wir jede Pause mit Gurken schießen.« Muss rein. »Abschließend möchten wir nochmals betonen, daß wir unsre Fehler einsehen, diese nicht wieder begehen werden, und bitten die durch unser undiszipliniertes Verhalten Betroffenen um Entschuldigung.«

Eigentlich erkenne ich keinen Fehler, sagte Regina und unterschrieb.

Denkst du, ich?

Liest sowieso nur der dämliche Harry. Sie hatte erdfarbene Augen, wirklich, und Sommersprossen.

Harry hatte der Klasse Disziplinlosigkeit vorgeworfen. Diskussion wolle er keine neue entfachen, was sie nicht als Schwäche verstehen sollten. Gewiss gäbe es noch mehr Freunde, die nicht ganz unbefleckt wären, nicht immer richtig handeln. Er bemerkte nicht, dass er sich wiederholte. Unsre Klasse sei vital, bringe Elan auf, was kein Jugendfreund bestreiten werde. Das trage die Frucht des Gemeinschaftsgeistes, was beweise, dass Ausgelassenheit und Fröhlichkeit durchaus positiv gewertet werden können.

Irina sagte, wenn ich Harry wäre, würde ich, was sie über uns sagen, als Kritik lesen. Am Nachmittag war’s, als sie drüber redeten, Friedhelm am Flügel, Zigarette im Mundwinkel, raste die Zwölfte Straße runter, ließ sich austrudeln. Was Harry will, Hannes, ist mir nicht ganz klar.