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Horst soll technischer Offizier werden, Rosemarie Binnenhandel studieren, du siehst, Mutti hält dich auf dem Laufenden.

Bei mir im Arbeiterzug sagen sie, die Kasernierte Volkspolizei wird die künftige Armee. Der Spitzbart wäre ohne die Russen erledigt gewesen. Verschwinden hätte man müssen, damals, aber wohin? Mir gefielen die Rheinländer. Mein Bruder, der tot ist, könnte dir das bestätigen.

Da wohnten wir schon Bahnhofstraße, sagte Edith. Kosels mit ihrem Jungen wohnten am Markt, andre mussten nicht fort.

Wie soll ein Mensch sich das vorstellen? Soldat? Von einer Stunde auf die andre, Hannes? Liegst in der Badewanne, die bringen dir die Einberufung. Wie ich zum ersten Mal die Uniform gegrüßt hab. An so was erinnert sich der Mensch, andres wird vergessen. Oder in Frankreich bei Kriegsanfang, als wir in einem Schloss auf rosaseidnen Betten lagen, ich als Melder mit Fahrrad. Oder wie ich den Stoff kaufte, aus dem der Hensel Walter deinen Konfirmandenanzug geschneidert hat, da gings bei mir nicht um Tod und Leben, ich hab mich später geschämt, dass ich was mitgebracht habe.

Was ganz Feines, sagte meine Muttel, die den Stoff bezahlt hat.

Bezahlt, Edith!? Wer hat was bezahlt? Keiner wird mehr rot und wissen es alle. Diese Sucht, was mitzubringen. Manche Frauen waren reineweg übergeschnappt.

Lass liegen, wo’s liegt, lebst leichter, sagt Adele. Sagen inzwischen alle.

Sie haben, sagst du, auf dem Schulgelände einen Schießstand gebaut? Die Hand soll abfallen, die ein Gewehr anfasst. Da war ich noch in Gefangenschaft, als die Tägliche Rundschau das schrieb.

Hoffentlich kommt kein Krieg mehr.

Wer weiß das? Ich weiß nur, was der Krieg mit mir angestellt hat, diese ständige Angst, die schicken einen an die Front.

Jürgen war im Kino. Du bist so ernst, Junge, hast du was auf dem Herzen?

Auf dem alten Schießplatz in Bautzen spielt Zirkus Aeros, sagte Vater, als sie zum Bahnhof gingen. Ein Menschenaffe aus dem Wagen hat mich durchdringend angeguckt, als wäre die Einladung für mich. Sie bauen einen Schießplatz für die Schule. Ich hatte den Eindruck, du hörst gar nicht zu, weil du dazu nichts gesagt hast. Oder habe ich nicht zugehört?

Mir geht zu viel im Kopf rum, die Umbenennung, das Kollektiv, das wir werden sollen.

Er hatte die Nacht fast nicht geschlafen, an Ruth gedacht, ihr geschrieben, dass er heimfahren müsse wegen der Wäsche, wegen Hunderterlei.

Erwin arbeitet bei der »Bauunion« als Maurer, entweder ist bei ihnen das Geld auch knapp, oder sie sorgen für Siegfrieds Stipendium vor. Vater fuhr die Wäsche, die Mutter gewaschen und gebügelt hatte, auf dem Leiterwagen. Den Valtenberg schrammten tief hängende Wolken.

Der Bahnhof war zu sehen, als sie an dem Waldstück stehen blieben, das Abeles Busch hieß. Geh mal ins Theater und schreib mir davon. Menschen, deren Beruf es ist zu lernen, wie du, beneide ich. Edith, die mitgegangen war, erinnerte sich an die Strahwalder Mühle. Die war ein Fenster in unsrer Welt. So ein Fenster hat jeder Mensch. Unser Vater brachte Neuigkeiten mit. Wir Frauen warteten drauf.

Deine Kameraden aus der Dorfschule finden sich langsam zusammen, heiraten, ist eben der Lauf der Welt. Wir haben zu spät geheiratet. Horst in Berlin solls schön getroffen haben, Wohnheim, Vierbettzimmer. Klubmöbel, Schreibtisch. Hat was Festes.

Der Zug kam pünktlich. Zu Advent schick ich was Gutes, mein Junge.

Zum Heimfahrtwochenende hielten die Dresdner Bibliothekarschüler Platz. Er war in Dresden-Neustadt umgestiegen, saß neben Irina, als Ruth erschien. Sie war die voll besetzten Abteile durchgegangen, und auf dem Gang draußen hatte sie ihm die Meinung gesagt. Mit seinem schweren Koffer voll Wäsche verlor er sie auf dem Hauptbahnhof im Gewimmel der Fahrgäste in der Osthalle aus den Augen.

Danach waren sie sich noch einmal begegnet zwischen vielen Straßenbahnen, neben ihr in Friedhelms Alter ein junger Mann.

12

Die nicht mitgehn, sind das Problem, die das Paradies nicht erkennen, weil vielleicht keins existiert, zu denen gehöre ich, oder die keins suchen

»Nicht Worte – Taten entscheiden!« Das griff Harry auf, als sie über den Wettbewerb redeten. Es war entschieden, Erich Loest, auf den sie zweimal gewartet hatten, erschien nicht.

Warst tu Huus? Wolfgang war auch zu Hause gewesen, schmuck, mit blauweißem Hemd, dazu blauer Binder. Johannes steckte in einem Oberhemd, das Vater auf Bezugsschein besorgt hatte; das kratzte beim Anziehn, weil Holz in die Wolle gemischt war.

Wie ich euch beneide! Min Mudding wäscht nicht, sagte Friedhelm, höchstens mich, wenn die Wirtin verreist ist, wir das Badezimmer haben und in See stechen.

Der Rückbenennungsstreit war nachmittags. Evelyne Fehrmann fasste zusammen: Drei grundsätzliche Meinungen herrschen: Die es genau wissen, sind die eine, die Vorsichtigen, wenn sie fremde Meinungen wiederholen, die andre, die Übriggebliebnen die dritte. Sie lachte. Waltraud, Regina, Friedhelm, Irina, Johannes, Christel, Gertraude sind das. Evelyne rechnete sich auch dazu.

Klaus Pockrandt fing an. »Erich Loest hat es abgelehnt, zu seinem Artikel eine klare Stellungnahme abzugeben. Mögen die Meinungen über Loest in unserer Klasse weit auseinandergehen, einem Menschen, der nicht die Verantwortung für sein Tun zu tragen gedenkt, kann man nur ablehnend gegenüberstehen.«

Ich bin da andrer Meinung. Bloß weil Loest keine Stellungnahme uns gegenüber abgibt, sagte Joachim und zeigte auf das blaue Brett. Wir erwarten das aber von ihm, erwiderte Pockrandt ziemlich scharf, und außerdem hast du nicht bis zu Ende gelesen. Ich formulierte: »In unserer Diskussion ging es um sehr wichtige politisch-persönliche Fragen wie: Opportunismus? Vertrauen zur Partei der Arbeiterklasse?«

Ich kann selber lesen.

Die Diskussion mit Loest, setzte Pockrandt fort, sollte letzte Klarheit bringen. Sie wird nicht stattfinden. Wir werden diese Klarheit selbst herstellen. Loest hat sich so weit von der Masse gelöst, dass ihm nichts daran liegt, in einer F.D.J.-Gruppe, die seinen Namen trug, selbstkritisch-kritisch parteiische Klarheit zu schaffen. Mut zur eigenen Meinung? Das fehlt. Stattdessen Schönrednerei.

Arnold, gestrecktes Bein, stieg über den Schwellenbalken. Unsere Klassengruppe wird weiter den Namen: »Wladimir Majakowski« tragen, sagte Pockrandt noch, da war Friedhelm schon dabei, sich auf Arnold zu konzentrieren, der die römische Kaiserzeit ein zweites Mal durchquerte, aber Eichler nicht zur Kenntnis nahm.

Bei Frau Pelikan in Literatur schliefen sie ein.

Den Beschluss zur Namensänderung in Majakowski fassten die Gruppenfunktionäre am 22. Oktober. Brigitta, Stecknadeln zwischen den Lippen haltend, heftete den Beschluss an, als Friedhelm auftauchte. Verschluck dich nicht, Gitti, ich konnte nicht ahnen, dass du so zeitig aufkreuzt und mir in die Quere kommst, ich wollte schlafen.

Harry wird’s.

Noch was Neues?

Ich erwarte ein Kind.

Dass ich nicht lache. Von Klaus?

Du unterschätzt mich.

Lass mich lesen. »Ergebnisse der Funktionärsbesprechung vom 22. X. 53. I. Feststellung: In der bisherigen Arbeit der Leitung trat folgender Fehler auf: Die Beschlüsse der Funktionärsbesprechung wurden mit den Mitgliedern der Gruppe allzu breit diskutiert und hinderten so nur eine gute konzentrierte Arbeit.«

Soll das der Fehler sein?

Ich hab die Diskussion eben laufen lassen.

»Die Funktionäre besitzen das Vertrauen der Mitglieder und können auf Grund des in der Verfassung festgelegten demokratischen Zentralismus Beschlüsse ohne breite Diskussion mit den Mitgliedern fassen.«

Geht das?

Die Beschlüsse sind so.

Damit verändert sich alles.

Und Harry?

Ich hab Harry vorgeschlagen.

»II. Beschluß Nr. 1: Die Ablehnung Erich Loests zur Diskussion über seine Artikel in unserer Schule zu erscheinen, ist einem Ausweichen vor entscheidenden ideologischen Fragen und der Desinteressiertheit der FDJ-Gruppe, die bisher seinen Namen trug, gleichzusetzen. Wir beschließen, daß die Klasse 7a weiter den Namen des großen sowjetischen Dichters ›W. Majakowski‹ behalten wird.«

Ist inzwischen den meisten egal, wie wir heißen. Wenn du mich fragst, mir auch.

»III. Beschluß Nr. 2: Die Leitung der Gruppe ›W. Majakowski‹ beschließt, den Jugendfreund Harry Matter für die Neuwahl als Gruppensekretär vorzuschlagen.« Harry wird’s schwer haben. Ich habe Klaus verhindert.

Gertaude erschien, Regina, die kleine Porzelle.

Einige begrüßten sich mit Handheben.

Majakowski, sagte Gertraude und zeigte den Vogel.

Pockrandt war gegen die Neuwahl. Die außerordentliche Gruppenvollversammlung durch Evelyne Fehrmann konnte er nicht verhindern, er wurde krank. Harry wurde gewählt. Stand vor ihnen. Ich sehe euch gar nicht, sagte er, und fing an, die Brille zu putzen, vielleicht weil er so gerührt war. Ich setz die Brille lieber auf, damit ich seh, wer da ist. Er bedankte sich für die kämpferische Auseinandersetzung. Die Geburt eines wirklichen Kollektivs, einer festen Gemeinschaft, ich weiß, ist eure Hoffnung.

Regina hatte sich neben Johannes gesetzt. Er sagte ihr was ins Ohr.

Wenn ihr fertig seid, kann ich ja anfangen.

Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf. Die Gurke. Ob die vergessen ist?

Vergessen. Ist vergessen.

Es sei nun unser aller Aufgabe, diese neue Gemeinschaft zu schaffen. Dass wir uns für »Wladimir Majakowski« entschieden haben, bringt uns anderen Klassen voraus. Unsere kämpferischen Talente haben wir bewiesen. Wir waren, einen Moment stockte er, hart zueinander, müssen das weiterhin sein, er stockte wieder, als würden ihn Zweifel plagen, selbst wenn es vielleicht anders ginge. Es wird darauf ankommen, eine FDJ-Gruppe zu bilden, die sich aus voller Erkenntnis und Überzeugung für die Sache unseres Staates einsetzt. Ein »nicht wollen«, um auszuweichen, nicht aufzufallen, kann es unter uns nicht geben.

 

Hinterher im Klubraum am Flügel Friedhelm, der Fingerübungen machte und plötzlich die Finger streckte, sie zusammenzog wie Krallen. Der Matter hat Züge eines Fanatikers. Bis an den Punkt hat er in sich reinsehen lassen, mir genügt dieser Punkt. An wen erinnert mich Matter? Ich finde kein Gesicht. Er redet vom Kollektiv wie von einer werdenden Mutter, die ihr Kind unter Schmerzen zur Welt bringt. Helft, Freunde, dass es nicht missrät.

Mehr sagte Friedhelm nicht und fing an, was Wildes zu spielen. Das Kollektiv überlebt, als Einzelne gehen wir unter, niemand bringt es von dem einmal beschrittenen Weg ab, hat er gesagt.

Als er so redete, saß Harry noch zwischen den schiefen Wänden. Friedhelm schraubte am Füllhalter. – »Ihr habt mich zu eurem Sekretär gewählt, ich danke euch. Die Zukunft wird erweisen, ob ihr in der Wahl richtig gehandelt habt. Wir werden einen neuen Kurs in unserer Gruppenarbeit einführen. Ich bitte um volle Unterstützung, ich verlange von jedem Funktionär den vollen Einsatz seiner Leistung und eine vorbildliche Haltung. Freundschaft!«

Der Neue Kurs. Wieder bestimmten sie Böckler zum Verbindungsmann für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Walter Döring sprach über den Wettbewerb.

Als Schluss war, zog Harry den Mantel über und ging. Er war Schuldelegierter und nicht rausgerückt mit der Sprache, bis beim Fußballspielen durchsickerte, Annelies Schenk, FDJ-Sekretär der Weinert-Schule, kann nicht mehr. Die Tränen sind ihr gelaufen. »Wenn ich abends heimkomme, die viele Arbeit sehe und was ich nachzuholen habe, die Pflichtlektüre vom letzten Semester, fange ich an zu weinen. Die endlosen Versammlungen, hat sie erklärt, da nutzt kein Bewusstsein, kein gesellschaftlicher Wille, da kommt der Zeitpunkt, an dem man nicht mehr weiter kann.«

Die Annelies ist mürbe. Der das sagte, spielte mit Johannes Fußball. Am 9. Oktober war das. Sie soll was durchsetzen, was sie nicht kann, eingesetzt hat die Schulleitung sie.

Liebst du sie noch, du Zuspätgekommner, fragte Friedhelm dazwischen. Warum fragst du? Weil ich jemand sehe, der zu dir passt.

Bis ein Nachfolger gefunden ist, sagt die Schulleitung, will sie es nochmal versuchen.

Ich sehe, ihr wisst schon alles, sagte Harry zwischen zwei Unterrichtstunden, die vergangen waren. Wir haben Annelies aber geraten, dass sie niederlegt. Ihre schulischen Leistungen sind sehr schlecht; außerdem ist sie zu weich. Steudel, der als Schulleiter rot unterschrieb, vermutete, sie wäre schwanger. In diesem Nervenzustand, so drückte er sich aus, kann die Annelies zu die Massen nicht dringen, nicht die kämpferische Diskussion entfachen. Man muss ihren Rücken stärken, muss dich helfen. Jede Klasse delegiert vier Freunde, die sich zusammensetzen und beraten werden. Es stimmt doch, man muss helfen. Da wurde gelacht, sagte Harry.

Die suchen jemand, ders macht, wenn Annelies abgelöst wird, wusste der Fußballspieler.

Als Pockrandt dann auf der Delegiertenkonferenz die sofortige Ablösung beantragte, ist dem Steudel was aufgegangen. Pockrandt will an die Spitze, der keinen Ball über die Torlinie bringt, der möchte die Grundeinheit führen. Bloß die Genossen sind sich nicht einig, Hannes. Vermutlich wird mir zum Vorwurf gemacht werden, soll Pockrandt gesagt haben, dass ich die Ablösung in die Diskussion gebracht habe, obwohl sich die Mehrheit dagegen entschieden hat. Formal natürlich völlig richtig, denn wir müssen Annelies Schenk helfen. Deshalb schlage er, Pockrandt, vor, sie zu entbinden. Man muss dir in deiner ausweglosen Lage schnell helfen, Annelies. Die Delegierten nominieren den Nachfolger. Da machte er gleich wieder Selbstkritik. Meinen Fehler, Freunde, begreife ich voll und ganz, ich wollte helfen.

Dem Pockrandt geht das wie Honigseim über die Lippen.

Der aus der Abiturklasse fragte mich, ob ich Pockrandt als gefährlich einschätze. Als kreuzgefährlich hab ich gesagt. Da waren sie schon unterwegs zur Straßenbahn, als Brigitta bedauerte: Um Harry tuts mir leid. Bist viel größer, wenn man dich ganz sieht, nicht bloß am Klavier, sagte sie zu Friedhelm, als der auf dem Sitz die Beine lang machte und antwortete, am Flügel, liebe Brigitta.

Warum willst du heim, Hannes?

Wolframs warten.

Niemand wartet. Die wundern sich höchstens, dass sie nicht einschreiten müssen, weil du keine anbringst. Er blieb bei Friedhelm. Im Radio hörten sie die ganze Nacht diese swingende Musik, und früh im Dachraum stand die Luft.

Wie der Pockrandt rumläuft, seit wir ihn entmachtet haben, sagte Hans Joachim, der entschieden für Loest eingetreten war, was Johannes imponierte. Er war in Radeberg Büchereilehrling gewesen, der Vater bei der Kirche, deshalb hatte Jochen auch keine Oberschule.

Pockrandt fand sein Gleichgewicht schnell wieder, zuerst kritisierte er Böckler wegen mangelhafter Gruppenarbeit und gab daran Harry Matter die Schuld. Der Jugendfreund Böckler verliert die Mitgliedsbücher der DSF und wird trotzdem eingesetzt!

Beim Skaten liegen lassen, giftete Gertraude. Gernitz widersprach nicht. Böckler wurde abgelöst. Die Funktion übernahm Irina. Dabei bleibt es aber, sagte sie. Für dieses Kollektiv typisch, maulte Pockrandt. Irina schnitt ihm das Wort ab. Sei endlich pünktlich, erledige deine Aufgaben. Du behauptest, wir sind ein Kollektiv, das Gegenteil sind wir, erklärte Matter.

Das Wochenende lag dazwischen, als Pockrandt an der Wandzeitung antwortete: »Über die Bildung von kollektivfeindlichen Gruppierungen in unserer Klasse«. Hannes war zweimal genannt, Regina auch, ich komme nicht vor, dachte Friedhelm. Weiß der liebe Gott, warum ich nicht vorkomme? Bin ich der richtige Falsche? Muss so sein. Er war seine Tasche holen gegangen und Pockrandt, das Gesicht verkniffen, auf der Treppe begegnet.

Ich muss zu Hannes fahren, der geht aufs Ganze. Pockrandt ist gefährlich. Wollen die Hannes rausschmeißen? Irina hat er genannt, Regina. Die klagen einige an, und einen sprechen sie schuldig. Ich fahre hin.

Pockrandt ist nicht normal, sagt Irina, aber beweise dem das mal, dass wir normal sind, das schafft nicht mal Gernitz.

Eichler lief die Lützner Straße hoch, die kaum beleuchtet war. Vor dem langen Klingelbrett suchte er den Namen, klingelte.

Frau Wolfram öffnete. Tut mir leid, dass ich Sie rausbimmle.

Ihm ist nicht wohl, die Nase läuft schrecklich.

Friedhelm musste nicht viel sagen. Das Kollektiv ist der Haken, sonst gäbs keine Kollektivfeinde. Gehörst zu den Kollektivfeinden, Irina, Regina, Inka auch, die hasst er. Hat dich an der Wandzeitung breitgeschmiert, Namen sind rot unterstrichen. Ich komme nicht vor, eigenartigerweise, Harry auch nicht. Weiß der liebe Gott, warum ich nicht, Harry, das verstehe ich, er will das Beste und hat mit angesehen, wie wir abirren. Harry ist der Hauptschuldige, den werden sie anklagen, wenn die Kollektivfeinde erledigt sind.

Keine Angst, die können dich höchstens von der Schule schmeißen.

Rudi ist der schöne Schein lieber, von dem geht’s nicht aus.

Was steckt dahinter? Du bist harmlos, Hannes, nimm mirs nicht übel, Regina ist harmlos, ich, ohne Bedeutung, alle harmlos, und trotzdem geht Pockrandt auf euch los. Redet von kollektivfeindlichen Gruppierungen. Hat er gesagt. In Berlin gabs die. An höchster Stelle. Er möchte welche aufdecken, sonst stimmt die Welt nicht, die sie sich geschaffen haben. Wenn an der Basis keine Kollektivfeinde sind, stimmt das Ganze nicht.

Regina sagt, Pockrandt will Macht. Bestimmt will er das, ich denke, die müssen was aufdecken, die brauchen das. Friedhelm stellte Überlegungen an, wozu das Kollektiv gebraucht wird. Damit die träge Masse in Bewegung gesetzt werden kann.

Ruth hat gesagt, dass sie nicht mal in der FDJ ist.

Was hat das damit zu tun?

Entschuldige.

Sie hatte Sehnsucht, Hannes, die hast du ihr ausgetrieben. Musst dich jetzt um dich selber kümmern, sonst dreht Pockrandt uns einen Strick. Wir treffen uns morgen. Lass die Nase laufen! Wenn in der Schule was losgeht, schmeißen die dich vielleicht raus.

Pockrandt spinnt, sagt Irina. Der ist das Arbeiterkind, das er vielleicht selber gar nicht ist.

Die haben sich auf die Arbeiterkinder versteift, die den neuen Menschen hervorbringen. Du bist keins, ich nicht, Böckler könnte eins sein, aber wenn du zu kratzen anfängst, ist er vielleicht auch keins mehr. Übrig bleibt Katzengold. Deshalb müssen die Individualisten weg, solche Individualisten wie ich.

Ich brenne mir eine an. Er ließ den Rauch steigen, nahm für die Asche die Untertasse.

So ist das Leben, weil es so ist, dieses Leben. Guck dir Pockrandt an, da hast du ein Erdenparadies. Friedhelm lachte. Du hast mal gesagt, es wird eins kommen. Rudi hat seins gefunden, Arnold, hoffe ich, auch. Die nicht mitgehn, sind das Problem, die das Paradies nicht erkennen, weil vielleicht keins existiert, zu denen gehöre ich, oder keins suchen.

Ich muss los. Wir treffen uns morgen. Kannst du Irina abfangen, damit sie vorgewarnt ist?

Frau Wolfram kam herein. Dass nicht geraucht wird, war Bedingung. Sie öffnete das Fenster. Ausreißen müssen Sie nicht, ich vertrags bloß nicht.

Im Haus flog eine Tür zu.

Ich hau ab.

Ich passe Irina ab. Am Lindenauer Markt steige ich zu, wenn sie von der Angerbrücke kommen.

Hannes konnte nicht schlafen.

13

Klaus hat in seinem Artikel verschiedene Freunde unserer Klasse zu einer »kollektivfeindlichen« Gruppe zusammengefasst. Unsre Klasse ist gespalten, das wird nichts mehr

Diese Aufregung früh. Wir wehren uns. Dass sie uns rausschmeißen, schätzte Irina, so weit wird es nicht kommen.

Pockrandt im Blauhemd, Parteiabzeichen.

Wie angestochen rannte die kleine Porzelle herum. Ich bin dafür, dass wir gleich nach dem Unterricht dableiben, soll Klaus doch offen sagen, was ihm nicht gefällt.

Regina hätte sich die Qualifizierung zum Bibliothekar durch Lippenbekenntnisse verschafft. Du musst doch spinnen, Klaus!

Über die Versammlung entscheidet die Gruppenleitung.

Sofort passiert gar nichts, entschied Evelyne Fehrmann. Wenn der Termin bei Harry feststeht, mach ich einen Aushang.

Pockrandt genoss die Aufegung, obwohl mit ihm außer Rudi kaum jemand redete.

Dass sie uns rausschmeißen, die Werktätigenklasse, kann ich mir nicht vorstellen. und dass sie Hannes anschießen, versteh ich nicht, sagte Klaus Grimm, bevor der Unterricht anfing.

»Die Diskussion zur Kollektivbildung findet am Montag, dem 16. XI. 53, 14 Uhr statt.« Mit Rotstift den Aushang ließ Evelyne Fehrmann lange hängen. Wie eine Warnung.

Dann die Versammlung. Ihr wisst, dass Klaus Anschuldigungen erhoben hat. Welche das sind, habt ihr gelesen. Sie saßen vor Harry Matter. Die Anspannung war ihnen anzusehen.

Rudi hatte was vorbereitet und nahm vorn Platz. Weil das Kollektiv vorher nur ein Kon­glomerat war, fällt es jetzt einigen Schülern nicht schwer, diesen losen Zusammenhang auseinanderzureißen, ich nehme das nicht hin. Ein anderer Teil von Schülern versucht durch Lippenbekenntnisse darüber wegzutäuschen. Ihr Tun ist umso verwerflicher, da sie zu feige sind, an der Wandzeitung gegen Beschlüsse der Gruppenleitung oder das Benehmen und Tun anderer, mit denen sie nicht einverstanden sind, offen Stellung zu nehmen.

Sie hörten Harry atmen.

Ich frage, was sie zu diesem falschen Handeln trieb.

Ich werde Stellung nehmen, aber schriftlich, redete Irina dazwischen.

Genauso verwerflich ist die völlige Teilnahmslosigkeit eines andern Teils der Schüler unserer Klasse. Es kann so nicht weitergehn. Denn das Bemühen einzelner Freunde muss durch den dauernden Druck erlahmen. Es wird dadurch in der Folge immer weniger getan werden, bis unsre Klasse in Lethargie absinkt und die bisherigen Erfolge zunichte gemacht sind.

Irina, du hast das Wort.

Sie spitzte die Lippen. Ich äußere mich an der Wandzeitung, wo sich das Kollektiv bildet. Geschminkt war sie, was die Blässe überdeckte, die Augenbrauen nachgezogen. In ihren Augen entdeckte Johannes ein Funkeln. Gleich wird sie kratzen.

Die waren am Verlieren, die Panzer haben entschieden, sagt Vater.

Kollektivfeindlich, die spinnen. Mit Schwejk das hatte Pockrandt nicht vergessen.

 

An der Wandzeitung antwortest du, sagst du, und wann?

Um eine Winzigkeit verzog sie die Mundwinkel. Morgen. Damit der Klassenkampf nicht aufhört.

Für einen Moment schloss Walter Döring die Augen.

Du, Regina? Auch an der Wandzeitung, wo das Kollektiv entsteht.

Es sind noch mehr genannt. Harry, Brille in der Hand: Du? Ich hab deine Hand nicht gesehn.

Meinst du mich? Kollektivfeindlich? Was heißt feindlich? Kriegstreiber sind Feinde. Sind wir Kriegstreiber?

Feindlich habe ich nicht gesagt.

Dann eben dem Kollektiv feindlich. Ist dasselbe. Hast du geschrieben. Wenn das Kollektiv das höchste ist, was es gibt, ist jemand, der dem Kollektiv feindlich ist, das letzte. Sind wir das?

Kollektivfeindliche Gruppierungen, ich bleibe dabei, schnaufte Pockrandt.

Johannes begriff, dass er kein Zuschauer mehr war, er war es noch, als Pockrandt zischte: Du lügst!

Zuschauer war ich, als sie Stalin beweinten und ich in den Gesichtern nichts gefunden habe außer aufgeschwemmten Tränensäcken vor einer bemalten Pappe, Blässe und Tränen.

Die Diskussion ging zu Ende.

Ich bringe meins mit. Ihr wartet im Kaffee.

Die Fahnen in der Diele hingen reglos. Im Klubraum Friedhelm, mit einer Hand ein und dieselbe Melodie spielend, als übe er.

Wenn der phantasiert, der Molch, ich könnte stundenlang zuhören, aber zum Schreiben brauch ich Ruhe, sagte Irina.

Harry war gegangen.

Pockrandt fängt an, uns auf dem Kopfe rumzutanzen.

Irina ging in den Dachraum.

Friedhelm schlug einen Akkord an, dem ein Ton nachhinkte.

Eine Leuchte brannte. Ach du bists, Hannes. Ich brauch kein Licht. Die Verzierung musste ich mal üben, meine Lehrerin spielte sie, aus Schuberts letzter Klaviersonate in B-Dur. Die endet mit einem F-Dur-Akkord, unter dem ein Triller zu spielen ist, leise, in tiefer Lage pianissimo auf ges, die größtmögliche Dissonanz, die du dir denken kannst. Schneidend. Schmerz klingt so.

Wenn du weißt, es ist zu Ende, mit diesem Knacks, der ins Leben eingebaut ist. Hörst du’s? Er ließ die Hände sinken.

Wir gehn los, rief Regina.

Irina liebte das kleine Kaffee. Sie nahmen an einem Marmortischchen Platz. Mutters Wünsche fielen ihm ein. Das Kopfkissen sollte er am besten gleich abziehen, Bettwäsche auch. Schicke alles, ich wasche, wir kommen hin bis Weihnachten.

Unsre Klasse ist gespalten, das wird nichts mehr. In Pockrandt sehe ich einen Menschen, der Macht will. Regina rührte in der Tasse. Müsstest mal den von drüben trinken, nicht den Perlonkaffee. Wären wir doch weitergerollt, statt in Leipzig auszusteigen, sagt unsre Mutti.

Bestellst du noch einen? Die Bedienung guckt schon.

Irina! – Hans Joachim nahm ihr den Mantel ab. Sie zog was Geschriebnes aus der Tasche. Ich donnre denen einen Schuss vor den Bug, setzte sich. Meinungsverschiedenheiten müssen geklärt werden. Ich springe gleich rein. Begrüße die Stellungnahmen sehr, bla, bla, bla, das Positive zuerst.

Soll ich Rudi nennen? Warum nicht, Hannes? Alles eine Soße. Ich begrüße also die Unverschämtheiten. »Haben wir nicht schon so oft gehört, dass Kritik vor allem sachlich sein muß?« Bla, bla. »Klaus hat in seinem Artikel verschiedene Freunde unserer Klasse zu einer ›kollektivfeindlichen‹ Gruppe zusammengefaßt.«

Gruppierung. Kollektivfeindlich in Anführungszeichen.

Selbstredend, Jochen. »Ich bin durchaus nicht der Ansicht«, gehts bei mir weiter, »daß in unserer Haltung eine Kollektivfeindlichkeit zum Ausdruck gekommen ist, nur weil wir nicht immer der gleichen Meinung waren.« Soll Klaus, der ja im Namen der SED und der FDJ-Gruppenleitung spricht, Beispiele nennen, wo wir kollektivfeindlich aufgetreten sind. Die will ich von ihm hören.

Die Partei schickt Pockrandt vor.

Heute hast du die richtige Frage gestellt, Hannes, nicht immer nannte sie ihn so, wenn du für meinen Geschmack dich auch gerne raushältst. Ich verstehe, dass du dein Leistungsstipendium nicht aufs Spiel setzen willst.

Soll ich den Satz zur Partei anbringen, fragte sie?

Eher nicht, meinte Jochen.

Pockrandt will Macht, sagst du. Lässt sich kaum trennen, Regina. Ist auch egal, was er will. Ihr müsst euch wehren, sagte meine Mutter, warf Irina ein. Meine Schwestern und ich standen alleine da, die Männer tot, in Gefangenschaft, verschollen. Ich kann nicht warten, ob mir ein Mann hilft, hat sie gesagt.

Regina schlug vor: Im Namen der Genossen der SED. Bezieht sich auf die bei uns.

Akzeptiert. Das mit der SED bleibt drin, von dort weht der Wind. Kalt der Kaffee, die Brühe. Ich ergänze.

»Ich und noch andere« – bla bla Freunde – »wären desinteressiert an unserer Qualifizierung zum Bibliothekar, legen Lippenbekenntnisse ab. Wie soll ich das verstehen?« Die Frage stell ich ihm.

Uns liegt das Kollektiv am Herzen wie unsere Qualifikation. Den Satz könntest du aufnehmen.

Gut. In einem Punkt, Hannes, hat er dich ausgespart, du bist kollektivfeindlich, aber berufsverbunden, ich bin kollektivfeindlich und berufsfremd, Regina auch.

Wollen die uns von der Schule schmeißen? Sie legten fest, dass Regina ihre Erwiderung früh mitbringt.

Klaus will beweisen, dass Harry Grüppchen zulässt und nicht fähig ist, zu führen. Mein Gefühl sagt mir, es geht um Harry, weniger um uns. Klaus will Macht, das wird stimmen, dazu schreibt am besten Regina.

Ich gehe so vor. »Klaus verfügt über ein großes Redetalent und dazu eine gute Portion Überheblichkeit. Beides benutzt er, um alle, die nicht immer seine Meinung teilen, einfach an die Wand zu reden.«

Bin noch nicht fertig, gleich. Umbringen könnte ich den. »Klaus sucht die Fehler nur bei anderen. Ich bin der Ansicht, daß er sie nun auch einmal bei sich suchen sollte.« An dem Punkt nagle ich ihn fest. Der Pockrandt hat solche Schwächen, bloß die Gruppenleitung hat bisher nicht reagiert.

Unsere Klasse ist gespalten, die zwei Lager gibt’s, das wird sich auch nicht mehr ändern.

Die keine Meinung vertreten, stehen dazwischen, die schwanken wie Pappeln im Wind. Dass wir uns feindlich gegenüberstehen? Soll ich so schreiben? Ich kann bei ihnen nichts andres erkennen, beim besten Willen nicht, das haben die richtig erkannt. Soll ich? Ich werde mich bloß noch bissel mehr verstellen.

Pappeln, Irina, stimmt nicht, sie sind bloß übervorsichtig.

Wie du.

Diese Dresdner Pappergusche, würde Mutter sagen.

Hat Gründe, Irina.

Verstehe. Wir sind einer Meinung, aber so kann ichs nicht schreiben. Die Pappeln gibt’s. Ich schreibe. »Die jetzigen Spannungen«, bla, bla, bla, »können aber nur dann aufgehoben werden, wenn wir uns ganz klar und deutlich aussprechen und nicht, wie Klaus versucht, wie die Katze um den heißen Brei gehen. Ich bitte deshalb nochmals Klaus und alle Freunde, die hinter ihm stehen, sich erst einmal zu fragen, ob sie nicht, vielleicht unbewußt, mit dazu beigetragen haben, daß in unserem Kollektiv der ›Klassenkampf‹ entbrannt ist.«

Euren Segen habe ich, sehe ich. Sparsam, wie du bist, Hannes, trinkst du kalt.

Inka bringt ihrs auch mit, sagte Regina.

Sie zahlten und verließen das Kaffee.

14

Harrys Lippen waren ein Strich. Bei der HJ gabs solche Typen auch. An der Stelle, wo das Lindenblatt klebt, sind sie verwundbar

Die stillen Tage waren vorbei, an denen Blätter durch die Luft segelten. Der hohe Himmel war nicht mehr mit grauer Wolkenmasse gefüllt, die Nacht kalt. In der Schule hatte Friedhelm auf Hannes gewartet, am Flügel gesessen, war dann zum Fenster gegangen.

Wird dunkel sein, wenn der Hausmeister zuschließen kommt. Was nicht sein kann, weil er im Krankenhaus liegt. Was ihm fehlt, sagen sie nicht. Frau Trautmann wird zuschließen. Als die Amerikaner kamen, war der Hausmeister mit einem Ami fast zusammengerannt, danach waren im Juni die Russen eingerückt.

Die Russen hab ich in Finsterwalde erlebt, als Pimpf.

Friedhelm war zur Tischtennishalle gegangen, wo drüber bis vor kurzem Frau Trautmann ihr Büro hatte. Den Chauffeur hatte sie schon nicht mehr erlebt, den Kutscher erst recht nicht, seit die Herrschaft abgeschafft war, wurde unter dem Büro Tischtennis gespielt. Nun war sie vom Ballgeklapper erlöst und den Schmetterbällen. Die Schulleitung hatte Frau Trautmann umgesetzt.