Leipzig

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Harry Matters Platz blieb leer.

Der Vorhang, den Harry lüftete, hob sich nicht mehr. Der Juni war die Lektion. Was hatte Sinn? Was war sinnlos? Die Bibliothekarschule hieß jetzt Erich-Weinert-Schule. Die neue Schulordnung war am 14. Oktober 1953 erlassen worden. Verlust des Fachschülerausweises war spätestens innerhalb von 24 Stunden der Schulleitung schriftlich zu melden. Jede Verfälschung, missbräuchliche Überlassung oder unrechtmäßige Benutzung kann eine Schulstrafe nach sich ziehn. Die Eingänge zur Schule sind in der Rathenaustraße zu benutzen. Der Pförtner öffnet eine halbe Stunde vor Beginn des Unterrichts den stadtwärts gelegenen Zugang. »Ich weiß, dass ich verpflichtet bin, die Schulordnung einzuhalten.«

Die SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) übernahm die Direktorenräume, die FDJ (Freie Deutsche Jugend) das »SED-Zimmer«, der Direktor das »FDJ-Zimmer«, Frau Trautmann das Dozentenzimmer, die Wirtschaftsleitung den Tischtennisraum.

In diesem Umzug steckte der zweite heiße Juni. Beim ersten waren die Russen mit den Deckelmützen gekommen und die Muschkoten mit Käppis, Stiefeln, Stoffbeuteln.

Zeichen blieben.

Als der Vorkurs anfing, sagte Irina, waren die Klassen schon geteilt, aber wir redeten ohne Wandzeitung. Jetzt haben wir die Wandzeitung; du wirst angegriffen und musst dich verteidigen. Darin besteht die Kollektivbildung. Friedhelm in einer der Großen Pausen sagte aus dem Anlass, mir gehen die Wahlverwandtschaften durch den Kopf. Du wirst mit der Pflichtlektüre vielleicht nicht so weit sein, Hannes, ich habe zügig weitergelesen, wegen dieser Beziehungen, in denen sich die Paare bewegen. Er bewunderte, wie Goe­the die Schicksale der Frauen ineinander gedreht, ja verschlungen hatte, das sagte er ohne jede Beimischung von Sarkasmus, auf die man bei ihm immer gefasst sein musste. Was dort passiert, dass man sich öffnet, findet bei uns, ich meine in unsrer Klasse unter den Werktätigen, so weit gehe ich, nicht statt. Wenn du die Stelle im 13. Kapitel gefunden hast, diskutieren wir. Das war die Stelle. »Völlig fremde und gegeneinander gleichgültige Menschen, wenn sie eine Zeitlang zusammenleben, kehren ihr Inneres wechselseitig heraus, und es muß eine gewisse Vertraulichkeit entstehen. Um so mehr läßt sich erwarten, daß unsern beiden Freunden, indem sie wieder nebeneinander wohnten, täglich und stündlich zusammen umgingen, gegenseitig nichts verborgen blieb. Sie wiederholten das Andenken ihrer früheren Zustände, und der Major verhehlte nicht, daß Charlotte Eduarden, als er von Reisen zurückgekommen, Ottilien zugedacht, daß sie ihm das schöne Kind in der Folge zu vermählen gemeint habe.«

Könnten wir beide das nicht sein? Eher nicht. In der Klasse nicht.

Wir hocken aufeinander und gehen doch auf Tauchstation. Ich les in die Stelle vielleicht zu viel rein. Es geht um das Freundespaar. Rudi und Pockrandt, wenn sie Partei spielen, könnten so ein Paar sein, doch schon bei denen gibt es eine Grenze, davon bin ich überzeugt. Der Dicke verrät nicht, wo sein Ausweis geblieben ist, und Rudi weiß von nichts. Du dagegen solltest ihnen am Siebzehnten alles sagen. Quer durch die Klasse lässt keiner die Hülle fallen, das Hemd gleich gar nicht. Deshalb findet Ehrlichkeit nicht statt.

Die Fragebogen-Antworten standen auf dem Zettel, die Vater mit ihm durchgesprochen hatte. Junge, dabei bleibst du, wie ich in Gefangenschaft, wenn sie mich in das Holzgehäuse reinstellten, nichts zum Sitzen, bloß um jemand reinzustellen, bis man zur Vernehmung rausgeholt wurde. Immer dieselbe Antwort geben. Geschlagen haben mich die Russen nicht, bloß gedroht.

Den Direktor sahen sie mit dem Gewehr zum Schießstand laufen. Du könntest in Gesellschaftskunde diese Stelle aus den Wahlverwandtschaften anbringen, Friedhelm. Der trat die Kippe aus. Bin doch nicht dämlich. Sie hörten Kleinkaliber. In der Großen Pause und nach dem Unterricht durfte geschossen werden.

Stundenklingeln. Heise gab Chemie. Engländer hatten sein Flugzeug abgeschossen. Beim Gehen knarrten die Prothesen. Deswegen blieb er am Pult stehn, groß war er, kräftig. Auf dem umgedrehten Stuhl, den sie ihm hinstellten, auf der Lehne, legte er das Gesäß ab.

Je weiter sie sich als Kollektiv, das sie nicht waren, von jenem Juni entfernten, sie kamen davon nicht los. Der Tag ging mit. Der Gruppenname erinnerte daran, die Hausordnung, der Ausweis, der trockne Knall am Schießstand, das Türschild, auf dem Zeugnis der Name, der Briefkopf, das Türschild, seit sich die Schule nach Erich Weinert benannt hatte. Den Namen Loest hatten sie abgelegt.

An Brigittas Stelle war Harry getreten. Im Kopf hatten die Panzer gestanden, in jedem Kopf, und jetzt war Hannes der Sekretär, den sie wählten.

Harry hatte an das Gute appelliert. Es hatte sich ihm nicht gezeigt. Wenigstens nicht ausreichend, vielleicht gar nicht. Die schweren Panzer hatten an der Elsterbrücke gestanden. Pockrandt zermürbte Harry Matter, als er die Klasse in feindliche Gruppierungen zerlegte. Eine Gemeinschaft von Arbeiterkindern, die zum Bewusstsein ihrer selbst gelangten, hatte Harry nicht gefunden. In der Arbeitszeit durfte nicht mehr Tischtennis gespielt werden. Das hatte die Verwaltungsleitung durchgesetzt. Ekelhaft diese Schmetterbälle.

Wolfgang Böckler hüpfte zur Wandzeitung und las, was Johannes mitzuteilen hatte: »Muß man immer schwatzen? Die Leitung möchte hiermit nochmals den Jugendfreund Klaus Pockrandt auffordern, mittwochs den Russisch-Unterricht für Anfänger zu besuchen. Dieser Russisch-Unterricht ist regulärer Unterricht und nicht etwa außerhalb unserer Schulzeit. Es geht nicht, daß man direkt Unterrichtsstunden schwänzt, nur weil demjenigen der Dozent oder etwas anderes nicht behagt. Wenn Klaus zum nächsten Unterrichtstag wieder nicht erscheint (Januar 54) dann werden wir die Schulleitung davon in Kenntnis setzen. Johannes, Sekretär, 17. 12. 1953.«

Kannst in Russisch nicht einfach zu Hause bleiben. So geit dat nöch. Johannes kam dazu, Rudi wechselte das Thema. Die Genossen waren zerstritten. »Gleiches trifft auf den obligatorischen Sportunterricht zu, zu dem Klaus z. B. gestern wieder nicht erschien. Ich erwarte eine Stellungnahme. Hans Joachim.«

Klaus erkrankte. Im Januar räumte er den Fehler ein. »Fehlen, ob unentschuldigt oder ›entschuldigt‹, ist auf jeden Fall falsch. In dieser Frage bin ich einer Meinung mit der Gruppenleitung. Doch da wir uns einmal dieser Frage zugewandt haben, sollte man auch die fadenscheinigen konstruierten Entschuldigungen einiger Freunde, die dem Russischunterricht auch fernbleiben, vonseiten der Leitung überprüfen. Der Satz, daß ich selbstkritisch meinen Fehler einsehe, würde hier wohl etwas abgeschmackt wirken. Klaus P.«

Sie bezogen die Schulbaracke, saßen nicht mehr zwischen schiefen Wänden. Alle waren erwählt, den neuen Menschen hervorzubringen, nicht bloß die Arbeiterkinder.

Sie redeten über Fasching. Du gehst als Korsar, schlug Friedhelm vor, das steht dir. Sie möchte die Jugend mal beim Fasching sehn, schrieb Mutter und berichtete, dass der Schneepflug nicht kam und von Jürgens weitem Schulweg. Als Sitzenbleiber muss er neue Freunde finden. An den Straßenrändern Schneemauern. »Du hättest mit uns, lieber Junge, heute Mittagessen sollen, Leber, Kartoffelmus, Pflaumen. Will zum Wochenende waschen, und Du schickst bitte sofort schmutzige Wäsche ab, alles, zehn Pfund ungefähr.« Immer drehte es sich ums Waschen. »Mit Postkarte, bitte, damit ich nachfragen kann, denn Wäsche ist kostbar.«

Auf der Faschingseinladung eine lodernde Flamme.

Monatsplan und Wettbewerb. Termine und Verantwortlichkeiten: 4. Februar Funktionärssitzung. 7. Februar Heimfahrtstag. 20. Fasching. 26. Aufbaueinsatz. 28. Jugendgesetz. Fünfter März Stalinfeier. Friedhelm verzog den Mund. Irina mit hochgezogenen Augenbrauen. Stalin. Bloß keine Diskussion anfangen, aber Gertraude meldete sich, die nahm zum Glück den Arm gleich wieder runter.

Für den Theaterbesuch erwarte ich drei Vorschläge von der Kultur. Ich denke, dass alle mitgehn.

Irina drehte sich um. Warum alle, Brigitta? Immer hundert Prozent. Dann eben nicht.

Über den Termin der Gruppenversammlung konnten sie sich nicht einigen. Gabs bei mir nie, maulte Pockrandt. Als Jochen sagte, war mal, warf er den Kopf in den Nacken.

Zum Tagesordnungspunkt 2, Wettbewerb. Bei Friedhelm die Andeutung eines Grinsens. Den Wettbewerb führte Walter. Döring hatte in der Wettbewerbsführung nichts zustandegebracht. Wills nochmal versuchen. Denkst du, das funktioniert, Walter? Ich kann das Punktesystem nicht verbessern. Lass den Wettbewerb laufen, wie er läuft, meinte Friedhelm. Klappt er nicht, beschließen wir, dass wir ihn verbessern, oder die Sache hat ein andrer am Halse, oder wir sind weg von der Schule.

Verstehe, sagte Walter, bloß hängts jetzt an mir.

Gibt Schlimmres. Du lässt dir melden, zählst die Punkte zusammen, vielleicht stirbt er von selber der Wettbewerb. Erst mal stirbt er über mir, Friedhelm. Walter steckte sich ein Stück Würfelzucker in den Mund. Gibt Kraft. Lasst mich bloß nicht sitzen mit dem Wettbewerb.

Es gab Pluspunkte für Agit-Einsätze, Leseabende, Buchbesprechungen. Regina, die an ihrem Halskettchen spielte, war Sportfunktionär. Agit-Einsätze sind an Friedhelm zu melden. Zettel genügt. Der Wettbewerbssieger fährt kostenlos zum Deutschland­treffen. Irina: Wenn der nicht will, auch?

Die Versammlung wäre zu Ende gewesen, als Friedhelm einwarf, er sei nicht einverstanden, dass Agit, die Hausagitation war gemeint, bei der sie zu Dritt anmarschierten, bloß einen Punkt bringen würde. Er nannte das seine Tournee. Ich mache Ernst, Jugendfreunde, rief er, er verteilte die sechs Häuser der Georg-Schwarz-Straße. Einsatzbericht geht ans Aufklärungslokal der Nationalen Front, Karl-Liebknecht-Platz.

 

Waltraud hing die Punkteübersicht an die Wandzeitung. Die quatschen einem nach dem Munde oder sagen nichts, nörgelte Inka. Rudi las, die Zigarettenschachtel in der Hand, dass das Leistungsabzeichen Sport Gold fünfzehn Punkte brachte. Hast du dich beim Aufbaueinsatz geschunden, dir Kleidung besorgt, dich umgezogen, geschippt, geschwitzt, gefroren, die Stube halb kalt und stehst vor der Waschschüssel, geben sie dir einen Punkt. Den gabs auch für die Lesestunde. Trabst hin zum Lesen, denken die sich, liest was vor, fertig. Die spinnen, wenn das bleibt, wars meine letzte, sagte Renate Großmann. Die Pionierleitertätigkeit bringt fünf Punkte.

Orden bringen das meiste, meinte Friedhelm. Die Partei wird das ändern, versprach Rudi Gernitz.

Alles Unfug! Nichts geschah.

16

Und du, Hannes? Du möchtest studieren. Den Pockrandt wirst du nicht los, das weißt du

Kein Drängen in der Erde, Schnee, und auch noch Fasching. Dieses Gedrängel am Einlass der Apothekenschule, an der Ruth Jansen Schülerin war. Du gehst mit, Hannes, entschied Friedhelm. Diese Blicke, das Aufeinanderlosgehn, als die Musik anfing. Friedhelm genoss es. Die Weiber wollen das. Man fand sich, knutschte, klebte aneinander, anfangs in dunklen Ecken, später bei Licht. Unter einer von den Maskeraden steckt Ruth, war vielleicht das Nasengesicht, das ihn anlachte. Mädchen, die sich nicht zierten. Die Lust regierte.

Er vermutete sie hinter jeder Maske, in jeder Pose, bis ihn diese maskierte Offenheit ankotzte und er weglief. Erst in der Straßenbahn riss er sich die schwarze Pappbrille ab, die Korsarenmütze.

Friedhelm war geblieben, entschuldigte sich für früh. Ich kann dir gar nicht sagen, wie geil die war mit den wasserblauen Augen, die Blonde. Übermüdet unter den Augen, Haut knittrig, und vielleicht hing ihm noch Puder im Gesicht. Die Mütze war plötzlich weg, ich dachte, das Schiff, das du geentert hast, liegt im Hafen.

In der Großen Pause spazierten sie durch den Park. Sie erinnerten sich an den Klassenraum, der die schiefen Wände hatte, zwischen denen Harry die Welt geraderücken wollte. Matter hatte Züge von einem Missionar; der dir eine Welt zusammenbaut und glaubt, er hat dazu den Schlüssel, sagte Friedhelm.

Endlich Tauwetter. Vom Barackendach tropfte es, die Tropfenabstände werden kürzer.

Der Frühling.

Wir haben überwintert

Ein wenig besser als die junge Saat

Auf hartgefrornem Feld.

Nun taut der Schnee.

Bissel konventionell, sonst nicht schlecht, stand mit grüner Füllertinte auf dem Zettel, den Hannes auseinanderrollte.

Den Brief nach Westdeutschland, wer schreibt den? Du, Gertraude? Nein, bitte nicht, ich habe mich gemeldet, weil ich gegen eine Stalinfeier bin.

Rudi entgeistert. Irina überrascht. Böckler guckte zu Rudi, und Klaus Pockrandt hatte plötzlich was Lauerndes im Gesicht.

Ich bin dafür, schlug Gertraude vor, dass wir statt der Feierstunde das Denkmal aufsuchen. Soll ich schwarz erscheinen?

Zwinkerte sie ihm zu? Ich sehe sie zweifach, ganz hinten als die, die sich die Ringelsöckchen hochzog, als ich an die Schule kam.

Jugendfreunde, wir legen was nieder, schlug Rudi vor, eine Klasse wie unsre kann den Todestag nicht vorbeigehn lassen.

Irina, welches Denkmal? rief Annelies.

Gibt’s denn zweie? Wenns zweie gibt, wird das große genommen, in der Innenstadt das, entschied Gertraude.

Die Gebinde, die Blumen, die Kränze mit den totenfarbnen Kunstblumen waren vom Schnee ziemlich bedeckt. Stalin findest du, hatte Regina gesagt, wenn du vom Kroch-Hochhaus aus der Passage kommst, einen Arm hat er vor der Brust, der andre hängt.

Auf Stalin liegt Schnee, behauptete Gertraude. Annelies hat keinen Schnee entdeckt. Habt eben nicht richtig hingeguckt.

Auch Stalin, zu dem sie gehen wollten, war eine von diesen Wiederholungen, an die sie sich gewöhnten. Schnee lag, und manchmal waren selbst die Straßenbahnen nicht mehr zu hören vor lauter spätem Schnee, der bis in die Zeit der Frühjahrsmesse hinein liegen blieb. Die Straßenbahnen fuhren wie auf Watte, bloß ziemlich grau war die.

Am Hauptbahnhof begegnete er noch einmal Ruth. Hast dich verändert. Ich mich auch. Es täte ihr leid, sie gehöre einem anderen, sagte sie verlegen. Weil der neue Mensch, mag sie gedacht haben, hinter deinen Büchern aufragt.

Er behielt diesen Frühling, der über ihn hereingebrochen war, in Erinnerung. Regina brachte Narzissen. Die schlammgelben Wege von der Schulbaracke bis zur Essenausgabe waren von Märzenbechern gesäumt. Krokusse schossen hervor, blaue Keile, gelbe.

Friedhelm wischte mit der Hand über die Tasten, als läge Staub drauf. Schön, wenn niemand hereingestürmt kommt. Sie redeten, und Friedhelm sagte: Mal wird es vielleicht kommen, das Erden­paradies, auf das du wartest, wenns gerecht zugeht auf der Welt, wenn nicht so, dann eben anders. Ich rechne damit, dass es nicht funktioniert. Wie denn? Den Himmel auf Erden wollten schon viele. »Wir wollen und werden erkämpfen den Himmel auf Erden.«

Stell dir vor, der Zettel, auf dem das steht, steckt hinterm Spiegel. Den vergiss, und wenn du ihn wiederfindest, bist du entweder im Himmel auf Erden, oder die Zeit hat dich widerlegt.

Du lachst? Ich lache nicht. Wieso soll einer lachen, Hannes, weil jemand hofft?

Nein, wir werden uns treffen, vielleicht im Leutzscher Holz bei himmlischer Wärme auf einer Parkbank, und wenn du fragst, wo­ran ich denke, werde ich sagen, ans Paradies, an Schlachten, die wir glücklich gewonnen haben, und mir eine Zigarette anbrennen.

Dummes Zeug! Ich verblöde. Er fingerte eine letzte Zigarette aus der Packung. Andersrum wird’s sein. Eichler verzieht sich in eine stille Bibliothek, wo lauter neue Menschen leben, in der Hoffnung, sie merken nicht, dass ich keiner bin. Sind die Prüfungen bestanden, gehe ich in die Bücherei zurück, leihe aus, lese, werde Lesungen veranstalten, solange es gute Bücher gibt, mich vergraben, hoffen, sie merken es nicht, und wenn, setze ich mich auf den Zug.

Und du, Hannes? Du möchtest studieren?

Den Pockrandt wirst du nicht los, das weißt du.

17

Hausversammlung. Der Genosse mit Stock und steifem Bein sagt: Ein Bericht ist besser als keiner. Pfingsttreffen

Hausversammlung Georg-Schwarz-Straße hundertvierundzwanzig. In der Küche einer Wohnung die stumme Runde der Frauen. Der Genosse mit Stock und steifem Bein sagte zu den Agitatoren, wenn die Zeit rum ist, geht Ihr.

Wenns so leicht wäre, wegzugehn. Der Krieg hat euch bloß gestreift. Eine Frau nickte. Ihr habt Ahnung! Bevor du sterben darfst, musst du leiden, so ähnlich drückte sich der Mann aus, und die Frau hatte Tränen im Blick. Friedhelm rieb sich die Augen. Den Bericht brauche ich, selbst wenn nichts los war, der muss zum Karl-Liebknecht-Platz. Der dort sitzt, sagt, ein Bericht ist besser als keiner.

Und Ihr wollt eine Welt erobern?

Hausversammlung ist bei Meier,

Zweimal klingeln eine Treppe oben.

Wieder tönt zu uns die alte Leier.

Nun werden wir en gros erzogen.

Und der Agitator spricht

Sich die papiernen Lippen wund.

Mit gedachten Größen ficht

Er gegen unsre stumme Rund.

Hausversammlung ist bei Meier,

Und die Überzeugungsplatte kreist,

Lauter wird der heisre Schreier,

Seine Hand auf uns, die Masse, weist.

Denn in deinen Rechnerein,

Sollen wir die Nullen sein.

»Hausversammlung« gelungen, aber Fragment, Friedhelm, hatte der in der Schule mit seiner grünen Füllertinte an den Rand geschrieben. Bei uns gings, sagte er beim nächsten Mal, ich unterhalte die Leute, bis die Zeit rum ist. Eine Frau hatte gefragt: Kommen Sie wieder? Nächste Woche. Ich will Sie nicht erschrecken, war Spaß. Die hatten nichts dagegen. Viele sind einsam. Junge waren nicht dabei. Wäre mir aufgefallen.

Es dauerte noch Wochen, bis die Wärme draußen Farbe in die Blüten trieb, Pfingstrosen ihre Blütenköpfe neigten, weiße, rote, und der Rittersporn wie eine wasserblaue Fontäne über den Gartenzaun langen wird.

Blau wie die Wandzeitung war der Himmel unter der blauen Fahne mit der aufgehenden Sonne. Die Jugend wird zum Pfingsttreffen aufmarschieren. Aufziehen nannte das Rudi. Friedhelm warf einen Blick auf die Wandzeitung. Die Delegierung der Klasse war beschlossen. Uns hinzuschicken, als Auszeichnung, ist für die Leitung am einfachsten. Da musst du keinen überzeugen. Ich nehm dir nicht übel, was du sagen wirst, Johannes.

Der Gruppensekretär hatte die Delegierung zu erläutern. Wir müssen uns darüber klar sein, liebe Freunde, dass der Beschluss der Zentralen Schulgruppenleitung, unsere Klasse zum II. Deutschlandtreffen vollzählig zu delegieren, uns anerkennt. Wenn zwingende familiäre Gründe vorliegen, nicht hinzufahren, werden sie selbstverständlich berücksichtigt. Bei begründeten Geldschwierigkeiten wird die ZSGL, die Zentrale Schulgruppenleitung, die Teilnahme ermöglichen. Funktionnärssitzungen waren am 10. Juni und die Auswertung zum Deutschlandtreffen am 24. Juni. Ohne Termin Theaterbesuch (Irina), Kinobesuch. Wettschwimmen übernimmt Klaus Grimm. Das Sportfest bereiten Regina und Joachim vor. Nach der Prüfung Abschlussfeier.

An der Wandzeitung hing Pockrandts jüngste Stellungnahme. »Aus der Selbsteinschätzung heraus bin ich der Meinung, daß ich die Zwischenprüfung kaum bestehen werde. In dieser Lage ist es mir nicht möglich, die Bibliographie der Neuerscheinungen für Mai zusammenzustellen. Um einen Beitrag zur Vorbereitung des II. Deutschlandtreffens zu leisten sowie zur Überprüfung unseres gesellschaftswissenschaftlichen Wissens, möchte ich den Freunden« – rot unterstrichen – »die Bildung eines Zirkels zur Vorbereitung auf die Prüfung für das Abzeichen ›Für Gutes Wissen‹ in Silber vorschlagen. Dieser Gutes-Wissen-Zirkel zur Unterstützung Eures Selbststudiums wird vierzehntägig zusammentreten, eine Stunde Lektion, die zweite Konsultation.« – Absatz. – »Zwei Freunde haben sich erboten, Lektionen zu halten, Rudi Gernitz: Die Entwicklung der Philosophie, Klaus Pockrandt: Die Entwicklung der Kultur. Der Zirkel wird seine Arbeit im Mai 54 abschließen. Euch wird nicht Zeit geraubt, sondern Wissen gegeben. K. Pockrandt.«

Acht Wochen war das her. Rudi hatte die erste Lektion gehalten und kein Ende gefunden, Pockrandt seitdem mit einem Ausdruck von Ermüdung, den er nicht los wurde. Rudis Gesicht war kantiger geworden. So stelle ich mir dich als Panzerfahrer vor, sagte Friedhelm, im Vorkurs sahst du voller aus. Du auch. Ich weiß, wo ichs verloren hab, angefuttert in meiner Bücherei bei Frauen, die mir Mutter waren – sie lachten beide.

Bin ferienreif, Hannes, und in Versorgungsschwierigkeiten, ich hab zwar noch Marken, wie die langen sollen, weiß ich nicht.

Johannes schrieb nach Hause: »Von den Eiern sind sechs Stück übrig, als letzte Reserve, wenn ich abgebrannt bin, könnt Ihr was schicken? Gesundheitlich bin ich noch auf der Höhe. Unbedingt lesen: Oskar Maria Graf, Wir sind Gefangene und Unruhe um einen Friedfertigen. Wir sind wie gehetztes Wild. Jeden Nachmittag ist was los, ich als Sekretär, außer der Schularbeit, erleichtere mir trotzdem vieles. Morgen und übermorgen Abzeichenprüfung. Mit dem Wissensabzeichen sollen wir aufmarschieren, an den Füßen Bundschuhe, die sind versprochen, die Verpflegungsbeutel auch, am besten zwei Stück. Von Nachmittag bis 20.30 Uhr habe ich Dienst in der Schießbude auf der Kleinmesse fürs Deutschlandtreffen. Nach Berlin fahre ich nun mit, halb gezwungen. Nach dem Treffen Fachschulsportfest. Man kommt von diesem verfluchten Karussell nicht runter. Die nächste Karte kommt aus Berlin.« Nachsatz: »Donnerstag! Drei Kreuze«. Ausrufzeichen. Weil da Schluss war.

Im Güterzug bleierne Müdigkeit. Anhalten, anfahren, halten. Endlich aussteigen. Sie warteten auf einem grauen endlos langen Bahnsteig. Von dort in die S-Bahn. Antreten in Marschkolonne. Schritt halten. Aufmarsch vom Alexanderplatz zum Brandenburger Tor, eingefügt wie der Bolzen in einer Verriegelung. Regina marschierte weiter hinten, mit ihr Hans Joachim.

Propagandamarsch hieß das früher, sagte Friedhelm, der die Baskenmütze aufgesetzt hatte, die ließ er sich nicht nehmen. Den Verpflegungsbeutel mit den harten Würsten hatte er sich zweimal geben lassen. Die Bundschuhe drückten nicht. Keine Blasen. Es konnte nicht besser kommen. Raus zum Stadion Mitte oder zum Friedrichstadtpalast? Da hatte sich Friedhelm schon eine Jugendfreundin angelacht.

Johannes fuhr bis zur Rennbahn Karlshorst über Ostkreuz. Schnelles Fahren. Solches Sausen. Schienenstöße. Haltepunkte. Im Treptower Park ragte die riesenhafte Figur auf, der Soldat mit dem Kind auf dem Arm und dem zertretenen Hakenkreuz unter den Füßen.

 

Gräberreihen! Steinberge. Vielleicht von Hitlers Reichskanzlei! Die Sektorengrenze eine rote Pünktchenlinie auf der Übersichtskarte, die hatte jeder mit dem Teilnehmerausweis bekommen.

Abtauchen in die U-Bahn. Am Bahnhof Gesundbrunnen war er ausgestiegen. Im Gewühl auf dem Bahnsteig Gertraude Schubert. Keine Pünktchenlinie, kein roter Strich, dafür Schaufenster, bunte Zeitungen.

Der Ostsektor gehörte der Jugend. Erinnert mich an was, sagte Friedhelm zu einem, der ihm Kekse und Drops auf den Strohsack legte. Pfundskerl! Die weisen uns die Falle gleich zu, den Schlafplatz.

Der mit der FDJ-Bluse fragte, warum trägst du keine? Weil ich schon in Jungenschaftsbluse rumgezogen bin. Da guckte er vielleicht. Das hast du ihm gesagt? Natürlich nicht. Friedhelm lachte, bloß gedacht. Wenn ich höre, Geländebeschreibung, Sonderzüge, Massenquartier, alles schon dagewesen, Fresspakete, Bodendurchgang. Der das sagte, wollte eine große Nummer sein, Verpflegungsstellenleiter, uns in die »Falle« scheuchen, denkste! Eichler kommt gar nicht. Nie der letzte sein. Was glaubst du, was für Bilder vor meinen Augen aufsteigen, in meiner Altersgruppe. Alle haben die Bilder im Kopf. Leute, die Arme hochreißen, gegen die Absperrung drängen, jubeln. Diese besoffenen Augen. Meine hab ich nicht gesehn.

Die Mundharmonika spielte, ich saß auf meinem Strohsack, dem andern, der dazugehörte, ich übte, wenn der Stubendurchgang vorbei war. Spiel noch eins, bettelten die Kameraden.

In den Staub dieses Deutschlandtreffens waren sie eingehüllt, der sich in die Schleimhäute setzte, bei jedem Schritt auf dem Stroh bis an die Dachsparren hochwirbelte und unendlich langsam heruntersank, wie ein wallender Nebel, der sich früh in Wiesen legt.

Er hatte einen Moment die Niedern Wiesen auf Putzkau zu vor Augen. Die Sonnenstrahlen waren die Zeigefinger aus Licht, die durch Dachluken lugten, bis der Staub in den mit Wasser gefüllten Zinkwannen versank.

Kneipen halb unter der Erde. Schönes kühles Bier. Die Puschkinallee endlos. Ein blauer Strom Jugend, Kopf an Kopf. Kulturgruppen tanzten auf Holzbühnen oder sangen. Ka-linka, ka-linka, ka-li-ni-ka moja. Antreten zwischen Trümmerbergen. Ein Gewitterguss vertrieb die Truppe. Davonstürzen wie im Krieg. Bloß der Fahnenträger blieb stehn. Blitze zuckten. Friedhelm hatte sich untergestellt: Die Fahne! Die heilige Fahne!

Der Pfingsthimmel riss auf. Nasse Straßen, dampfend unterm Sonnenstich. Sechzehnerreihen! Schließt auf! Gleichschritt! Du! Ja, du! Schritt halten. Ich latsch dir sonst auf die Kappen!

Schon passiert ... Links, zwei ... Still mitzählen, Großer! Der meinte mich. Jaaa. Sooo. Prima. Klappt. Oh, wie das klappte. Die Stimme hinter Hannes: Mussten wir alle lernen.

»Abzeichen für Gutes Wissen abgelegt. Gold. Kein Grund, stolz zu sein, die üblichen Fragen«, schrieb er nach Hause.

Joachim war mit Regina viele Stunden im Friedrichstadtpalast gewesen. Die sind zusammen zurück, sagte Friedhelm, sind Hand in Hand angekommen. Du weißt, was ich dir gesagt habe, wenn ich du wäre, ich würde Regina nehmen, solange sie noch zu haben ist. Warst deiner Ruth hinterher, du Esel, die Regina war für dich wie geschaffen, die hättest du haben können. Da war das Deutschlandtreffen schon vorbei, als Friedhelm das sagte.

»Vielen Dank für Euer reichhaltiges Paket, bloß der Appetit nach Hartwurst ist mir vergangen, so viel Wurst habe ich aus Berlin mitgebracht. Beiliegend die Kartoffelkarte, dazu 1.250 Gramm Fleischmarken, 3.690 Gramm Fett, 4.875 Gramm Zucker, das blieb übrig nach der Berlinfahrt. Im Friedrichstadtpalast tanzte die berühmte Uljanowa. Das war was! Für den Zucker könntest Du was einkochen. Sonst geht es mir einigermaßen. Prüfungsfächer dieses Jahr sind: Buchkunde (technisch, geschichtlich), Deutsche Literatur der Gegenwart, Russisch = schriftlich. KPdSU, Bibliothekslehre, Geschichte der Arbeiterbewegung = mündlich. An Rhabarber habe ich mich überfressen. Ich werde ein Paket schmutzige Wäsche schicken. Den Bezugsschein für ein Arbeitshemd habe ich mir erkämpft. Wollte zur Messe als Helfer gehen, als Fahrstuhlführer, hätte aber eine Woche vor Messebeginn anfangen müssen. Am 27. schreite ich gemessenen Schrittes zur Wahl, bin mir meiner staatsbürgerlichen Pflicht und welthistorisch bedeutsamen Aufgabe bewußt.«

Von Mutter kam Post.

Aus Versehen hatte sie einen Brief mitgeschickt, der für Vater bestimmt war. Wie durchs Schlüsselloch sah er plötzlich in ein Verhältnis, bloß dass es die Eltern waren. Gewiss, Mutter hatte manches berichtet, wie sie am Hotel Gude vorbei zur Rekrutensammelstelle gegangen waren, dass Mutter Vater am Valtenberg beim Skifahren kennenlernte, dass ihr auch Alfred gefallen hatte. Manches wusste er nicht. Er entdeckte ein Verhältnis, das stattfand, über das er bisher nicht hatte nachdenken müssen. Immer hatte er die Eltern als Ganzes gesehen, bloß zeitweilig getrennt. Krieg und Gefangenschaft trennten. Diese Trennung war überwunden. Warum sie nicht mitging, als ich den Vater am Bahnhof abholte, der in dieser unförmigen Wattejacke steckte, den Gefangenenbeutel auf dem Rücken, die Frage stellte er sich heute. Als ein Ganzes sah er Adele und Erwin, den Weifaer Walter mit seiner Frau, wenn der bei der Anprobe die Stecknadeln zwischen den Lippen hielt. Bist in den Beinen zu kurz geraten, Junge, eine Idee zu kurz. Dora Adolph und der Lehrer waren ein Paar. Das Schicksal hatte es auseinandergerissen und nicht wieder zusammengefügt.

Mutter schrieb, dass sie den Schlüssel gefunden hätte, der ihr beim Melken verloren gegangen war. Hatte es um den Schlüssel Streit gegeben? »Ich kann nicht in Unfrieden leben«, schrieb sie, »ich brauche Harmonie.« Sie nannte Vater einen Verstandesmenschen. Ein bisschen Liebe gehört dazu. »Der Briefträger wird die Post gleich mitnehmen«, hatte sie in Eile geschrieben und den Urlaubsbrief an die Lützner Straße geschickt.

Jetzt wusste er, Vater hatte für sie einen Ferienplatz beim FDGB organisiert, für sie, einen Einzelplatz, den niemand haben wollte, Hintere Sächsische Schweiz, um überhaupt mal einen der kostbaren Plätze zu bekommen. In der Bäckergenossenschaft war außer ihm niemand in der Gewerkschaft. Er war die Korridore entlang gegangen, an Türschildern vorbei, an den vielen Namen. Er war wegen dem Platz durch alle möglichen Zimmerfluchten des ehemaligen Landratsamtes gelaufen und mit dem Ferienplatz zurück in die Genossenschaft zu seinen Mehlrechnungen. Wenn das die Zukunft war, sie werden daran ersticken. Der Stillstand hinter den Türen hatte für Georg etwas Mahlstromhaftes. Das Landratsamt hieß inzwischen Kreisrat, es hatte wieder Glas in den Fenstern, die Dächer waren wieder dicht, die zerschossenen Panzer vom Bahnhofsvorplatz abtransportiert, die Betriebe arbeiteten, und er hatte einen Ferienscheck ergattert.

Ich hab was für dich. Sie strahlte, bis ihr einfiel, dass Georg die Ziege nicht melken konnte. Da schickte sie ihn in den Urlaub.

Ihre letzten gemeinsamen Ferien vor dem Krieg waren im Zillertal gewesen. »Ich freue mich, dass du endlich einmal verdient ausruhen kannst, und vielleicht wirst du manchmal nicht mehr ganz so kleinlich sein, in Zukunft, gelt Vati, und mit allen guten Vorsätzen geladen zurückfahren. Man muss im Leben nicht so sehr den kleinen Unschönheiten die Rechte geben«, hing sie noch an, »weil man sich oft um manche frohe, heitere Stunde bringt, und Tage braucht es, bis das innere Gleichgewicht wieder hergestellt ist. Schön glatt geht es in keiner Familie. Es ist eben die Kunst einer Lebensgemeinschaft, die Familie harmonisch zu meistern. Wir sind ja schon über die Hälfte des Lebens geschritten.«