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21

Die musst du alleine trinken. Das sagte sie nachher, als er in der Küche den Korkenzieher suchte

Die Woche verstrich anders. In ihren Augen war was, in seinen auch, wenn sie sich in den Pausen wie zufällig sahen.

Er sah den Spiegel im Flur bei Sparbeleuchtung, den Wolframs hatten. Die Fenstervorhänge waren zugezogen, der Wasserkrug war gefüllt. Im Hof die Frau, die ganz oben wohnte, hing Wäsche auf. Leinen waren kreuz und quer gespannt.

Wenn Regine jetzt käme, würde sie der Frau in die Arme rennen.

Die Tür war angelehnt. Die Glasfenster zum Treppenhaus hin waren mit Gitterranken gesichert, die Türkette nahm er ab, und als er sich umdrehte, stand Regine in der Tür, bisschen blass.

Hat sie dich gesehn? I wo. Hatte Wäsche vor der Nase.

Sie nahm die Weinflasche vom Tisch. Also hier wohnst du. Sie setzte die Flasche wieder hin. Die musst du alleine trinken. Das sagte sie nachher, als er in der Küche den Korkenzieher suchte.

Sie saß nackt auf dem Bett. Komm, ich küss dich. Das war in diesem Halbdunkel vor dem hellen gelblichen Vorhang, bis er sie spürte und sich fallen ließ, dass die Sprungfedern ächzten.

Sie legte die Sofadecke auf den Fußboden. Zudecke brauchen wir nicht. Gefall ich dir? Die Zeit rannte. Ja, so ist es schön. Bin ich dir zu schwer? Lass es kommen. Sie redeten nicht.

Als sie hereingekommen war und der Wein auf dem Tisch stand, hatte sie kess gefragt: Die brauchst du wohl? Und den Wein wieder hingestellt. Mit dem Rücken zum Fenster hatte sie die Bluse abgestreift und auf den Tisch geworfen. Du bist dran.

Sein Hemd hing am Stuhl.

Sie öffnete den Rock. Jetzt du. Es dauerte bissel, es hätte eine Ewigkeit dauern können.

Soll ich für dich ein Turnerhemd einpacken, hatte Mutter gefragt, das er auszog.

Sie löste das Häkchen, schlenkerte den BH, den sie in hohem Bogen über die Bücher fliegen ließ.

Plötzlich war die Spannung raus. Es gibt Mädchen, die keine haben, mir sind welche gewachsen, und verschränkte die Arme hinterm Kopf.

Der Rock lag unten. Ich lasse was an.

Hinten die Waschecke. Ich mag keinen Wein. Du hast nichts mit?

Na das. Das war der Unterschied zur Abiturklasse.

Musst dich nicht schämen. Ich will nicht schwanger werden.

Sie zog was an. Ich hab dich lieb. Sie fuhr ihm durchs Haar. Bist du mir böse?

Er ging über den Flur, holte Wasser.

Das Haus war dunkel, als sie ging, die Hände am Treppengeländer. Bloß kein Licht machen. Er schloss auf. Im Morgenlicht der Hof, kühl, still. Die Wäsche war abgenommen.

Den Ferienplatz hatten Wolframs vierzehn Tage.

In einer von den Großen Pausen standen Friedhelm und die halbe Werktätigenklasse zusammen, Irina, Regina, Inka. Walter fehlte. Friedhelm setzte sich an den Flügel. Regine kam dazu.

Es war wie immer und doch anders.

Brigitta ist Mama geworden, sagte Regina. Frank heißt er, 52 cm lang, wiegt achteinhalb Pfund.

Ziemlich schwer, was? Ich konnte mir Brigitta nicht vorstellen, ehrlich, mit einem richtigen lebendigen Baby. Du, Irina?

Dass Brigitta ein Kind erwartet, wussten sie seit langem. Der Molch guckt die Frauen so genau an. Mir hat sie’s als erstem anvertraut, bloß um das klar zu stellen, sagte Friedhelm.

Brigitta hatte sich von Pockrandt losgerissen. Sie versteckte den Bauch nicht mehr. Als das Kind zu sehen war, ging sie mitten im Unterricht zur Toilette. Klaus guckte weg. Vielleicht war ers doch? Sie saßen getrennt.

Du weißt, wie ich das sehe, Pomuchelskopp! Wolfgang lachte verlegen. Er hatte seine Funktion abgegeben. Seitdem gingen sich die Genossen Böckler und Pockrandt aus dem Weg.

Was bei Wolframs war, konnte Friedhelm nicht wissen, er hatte höchstens eine Ahnung davon und spielte: »Du, du, du, laß mein kleines Herz in Ruh«. Regine lief an.

Die glühte ja, sagte Friedhelm, als sie in der Großen Pause ihre Runde drehten. Kann dir egal sein, wie Frauen das beurteilen.

Du lernst wohl Russisch, rief Gertraude Schubert, die Rudi mit einem Zettel und Zigarette stehen sah.

Regine lachte. Da mischt sich die Abiturklasse nicht ein.

Es gab Unterrichtstage, da spürten sie sich heftig, wenn sie mit den anderen aus der Unterrichtsbaracke oder der Villa herausdrängten. Die Liebe war an manchen Tagen so stark, dass er erschrak. Sie fuhren nach der Schule durchs Leutzscher Holz, bis die Elster aufblitzte, drängten durch die Holunderbüsche, wo ihr Platz war, legten sich auf die braune Decke ins dicke Gras. Die schöne Sonne. Den Pullover unterm Kopf lag sie auf dem Rücken.

Hast du gedacht, dass was passiert ist?

I wo. Wie denn? Sind die guten Tage.

Und wenn jemand kommt? Kommt er eben. Er nahm sie in die Arme, bis sie sich wieder fanden. Ich hab dich lieb. Ja, so, bist du lieb zu mir.

Wenn jemand gekommen wäre, sie hätten es nicht bemerkt. Niemand kam, die Büsche reglos. Sie stützte sich auf. Wir sind verrückt. Mit dem Kleid deckte sie ihn zu. Mit dir ins Lager wäre ich lieber gefahren. Gemeint war das Pionierlager, in das sie fuhr.

Bis überübermorgen liebt uns die Sonne, wenn sie scheint.

Dass ich von der Schule vielleicht abgehe, kein wissenschaftlicher Bibliothekar werde, sollte ich ihr sagen.

An der Elsterbrücke, wo die Panzer gestanden hatten, trugen sie die Räder über die Gleise, zu der Zeit fingen die Dahlieninseln im Palmengarten noch nicht mal mit Blühen an. Im späten Juli werden die Blütenköpfe aufleuchten. Die blühen wochenlang, einfache, volle, halbvolle.

Du schwärmst ja, sagte sie erstaunt.

Solche Blüteninseln gibt’s, die eine flammend rot, in verglühendem Rosa die andre, dickes Dahliengelb dazwischen. Wenn die Herbstmesse anfängt, blühen sie immer noch.

Da geht das letzte Schuljahr los, sagte sie, und bald rollen uns die Kastanien vors Rad. Er begleitete sie fast bis nach Hause. Soll ich dich mal einladen, mag sie gedacht haben.

Am nächsten Tag am Bahnsteig wollte er Regine was sagen. Sie legte den Finger an den Mund. Sag nichts, ich will mir nicht vorstellen, dass es mal aufhört mit uns. Du schreibst mir doch?

Sie hatte das Abteilfenster heruntergelassen. Er winkte, bis ihr Winken nicht mehr zu sehen war.

22

Bestehe ich die Prüfung, entscheidet sich alles neu

Mutter hatte Wäsche auf der Bleiche. Du wirst mir die Weißwäsche gießen, sagte sie, als die Briefträgerin auftauchte, die das Fahrrad schob. Ich sehe, ich werde erwartet, sagte die Brieffrau.

Mutter sah zu. Nein, nicht von der Uni. Auf den Brief warte ich auch. Bloß, Mutter glaubte nicht, dass es ein Liebesbrief war.

Musst dir keine Gedanken machen, schrieb Regine.

Bei Wolframs hatte ich Schiss, das war gemeint, sie auch. Da hing die Wäsche im Hof, als ich den Korkenzieher suchte. Im Brief die Frage: »Soll ich ins Lager schreiben, wenn du dort sein wirst, oder möchtest Du das nicht, weil Friedhelm mitfährt?«

»Wie Du weißt, bin ich mit weißen Söckchen und Sommersachen hierher gekutscht, jetzt muß ich mir was für den Regen nachschicken lassen. Bin gestern bis auf die Haut naß gewesen. Gott sei Dank, hat es aufgehört zu regnen. Jetzt finde ich es sogar schön hier, liege auf dem Bauch und schreibe. Bloß tut mir der Bauch weh, der Magen, ich habe zu viel Reis verkonsumiert, ich entwickle einen tollen Appetit. Ich würde ja lachen, wenn ich in die Kleider nicht mehr rein könnte. Am Montag ging es ein bissel drunter und drüber, ich hatte nicht die geringste Lust fürs Pionierlager, das muss ich sagen. Jetzt habe ich mich damit abgefunden, dich so lange nicht zu sehen.« Sie wird ihren Vater in München besuchen.

Hannes, vergiss die Wäsche nicht!

Eine Libelle stand reglos am Teichrand, ein Sprung, sie war fort. »Die Pionierleiter sind ganz prima. Einen davon nennen wir den rasenden Roland. Er ist Sanitäter und spioniert jedem nach, ob er sich die Hände nach dem Austreten wäscht, ob man Läuse hat oder sonstige Sachen. Heute muß ich Bücher für 450.– DM einkaufen. Wenn es mehr Geld wäre, würde ich damit vielleicht abhauen.«

Ob ich nun wissenschaftlicher Bibliothekar werde, fragt sie zum Schluss. »Dann müßtest Du ein viertel Jahr länger in Leipzig bleiben.« So weit denkt sie. »Schreibst Du mir bald? Sei mir bitte nicht böse, dass ich so geschmiert habe, aber wenn man auf dem Bauch liegt, geht es eben nicht besser. Viele Grüße von Regine.«

Er schrieb zurück. Dass er auf Zulassung zur Prüfung wartete, nicht. Wenn ich studieren werde, muss ichs sagen.

Als der Termin der schriftlichen Prüfung feststand, entschied er sich für Geschichte des Mittelalters, Ostexpansion. Er baute ein Tatsachengerüst, las, exzerpierte. Der Stoff kam ihm riesig vor.

Was sie zur Lagerbücherei schrieb, läuft ab wie in Prerow. Da gabs die Kim-Ir-Sen-Lagerbücherei der Volkswerft Stralsund. Vorm Tisch die Warteschlange. Alter abschätzen, damit fings an. Dann fragen. Es blinkt ein einsam Segel. Kenn ich. Timur und sein Trupp? Nee, das nicht, was von Seeräubern. Die Schatz­insel. Ja. geben Sie das.

Der nächste. Tom Sawyer? Gelesen. Paarmal. Huckleburry Finn? Kennst du die Fortsetzung auch? Wie die den Fluss runterfahren? Den Ohio, sagte der schmächtige Junge.

Ich hab schlecht geträumt, Gießwasser zu den Tomaten geschleppt, Regine gesehen, die ihr Kleid drüber deckte. Post, ruft die Briefträgerin, und ich habe Regines Brief von gestern in der Hand.

»Unser Kulturknopp ist der Meinung, ich wäre hochmütig. Das kam so. In einer Sitzung wurde mir gesagt, ich möchte eine Buchbesprechung ausarbeiten, eine über Ernst Thälmann. Weißt Du, wie? Daß die Pionierleiter das Buch nicht lesen brauchen und trotzdem eine Vorlesestunde halten können, so eine. Ich habe der Polit­abteilung klarzumachen versucht, daß, wenn man das Buch nicht kennt, auch keine Vorlesestunde stattfinden kann. Was denkst du, was da los war? Ich dachte, die fressen mich. Das Ferienlager ist am Sechsundzwanzigsten zu Ende, ich bleibe keine Minute länger und werde am Neunundzwanzigsten wahrscheinlich nach München fahren, da sehn wir uns nicht nochmal.« Auf einem Zettel stand: »Vielleicht sehen wir uns doch noch, wenns klappt. Du schreibst, im kommenden Semester hättest Du Zeit zum Fortgehen usw. Weil die Prüfung ja erst nach Weihnachten ist. Wann willst Du denn lernen? Aber Du weißt ja alles! Na, jetzt muß ich Schluß machen, mein Bett (Strohsack) ist noch in Unordnung. Es grüßt herzlich Regine.

 

Entschuldige bitte, daß ich mit Bleistift geschrieben habe, meine Tinte ist alle und im ganzen Lager keine vorhanden.«

Bestehe ich die Prüfung, entscheidet sich alles neu.

23

Ist das nun alles, was bleibt? Im Untergang des Ganzen war auch die Leistung des Einzelnen untergegangen

Am Morgen lag die Julihitze noch auf den Feldern, als sie zum Bahnhof gingen. Die Vögel lärmten. Vater hatte Johannes den Pappkoffer abgenommen. Er dachte an Schubert, den er vor einiger Zeit unter gänzlich gewandelten Verhältnissen aufgesucht hatte. Sie hatten sich gegenüber gesessen, wie damals, wenn der, den er mit Herr Oberregierungsrat anredete, ihn einbestellte, vor dem wuchtigen Schreibtisch, an dem der Regierungsrat inzwischen nicht mehr saß. Der Blick auf die Türme der Stadt war geblieben, der Abstand zu früher, wie die untergegangene Zeit inzwischen hieß, irgendwie auch.

Ja, wollen Sie denn wirklich weg? Er hatte die Frage sogar wiederholt: Für diesen Fall wolle er ihm ein Zeugnis ausstellen.

Es kam zu einem Gespräch, und nebenher hatte Georg gefragt: Mit den Juden – glauben Sie das?

Schubert sagte nicht ja, nicht nein, nickte bloß. Vorsicht stand zwischen ihnen wie ein Fliegenfenster. Auf ein persönliches Gespräch schien er sich nicht einlassen zu wollen, dazu hätten sie sich näher treten müssen, näher als früher, und Schubert brach ab, als das Gespräch dahin abzugleiten drohte. Sobald ich das Zeugnis ausgefertigt habe, sende ich es Ihnen auf dem Postweg zu.

Als Georg eines Sonnabends von der Arbeit kam, lag das Papier auf dem Tisch, engzeilig mit Maschine geschrieben. »Er ist ein eifriger, pflichttreuer, ziel- und verantwortungsbewußter, vielseitig verwendbarer Beamter gewesen, geschickt im Verkehr mit dem Publikum und durch sein ruhiges, offenes Wesen beliebt bei seinen Mitarbeitern. Seine Tätigkeit wurde am 26. 8. 1939 durch Militärdienst bis 1942 unterbrochen und nach nochmaliger militärischer Einberufung im Februar 1943 und Kriegsgefangenschaft beendet.«

Edith hatte den Brief geöffnet, als befürchte sie, der Inhalt werde noch einmal in ihr und sein Leben eingreifen. Edith, sag was! Ist das nun alles, was bleibt? Er fuhr sich über die Augen, schluckte. Im Untergang des Ganzen war auch die Leistung des Einzelnen untergegangen. Wie eine Todesanzeige nahm er das am 21. September 1954 Geschriebene entgegen, wie eine Grabinschrift, die für ihn verfasst war.

Es hätte schlimmer kommen können, Georg, und du wärst wie Alfred, verzeih mir, dass ich so rede, irgendwo zu Staub zerfallen. War das nicht Grund genug, dankbar zu sein, dass er zurückgekehrt war, dorthin, wo alles begann? Gestellungsbefehl in der Tasche, die Siebensachen gepackt, zum Albertgarten. In der Kaserne hatte er die Uniform übergezogen, war in viel zu große Stiefel gestiegen, setzte das Käppi auf.

In einer abgerissenen Offiziershose war Georg aus der Gefangenschaft heimgekommen. Alfred, der in der Uniform eines Oberzahlmeisters steckte, weil er als Lehrer ein Stück höher stand, die Pistole gehörte dazu, starb in einem Schusswechsel, nachdem die Panzerdivision Müncheberg in Spandau kapituliert hatte und die vier Zahlmeister der Verpflegungskompanie in Richtung Westen losfuhren, wo sie vor Falkensee auf Russen stießen. Der Fahrer überlebte und teilte Alfreds Tod in Gefangenschaft einem Dritten mit. Georg war das erspart geblieben, auch Schubert.

Geboren Null Zwei, wohnhaft dort und dort, manches war in Georgs Beurteilung unterstrichen. »Ist nach zwanzigjähriger Tätigkeit zunächst in der Bezirkssteuereinnahme und dann in der städtischen Verwaltung hier am 1. Januar 1938 in die Reichsfinanzverwaltung als Steuerinspektor im Finanzamt übernommen worden, wo er erst in der Bewertungsstelle mit allen vorkommenden Arbeiten und dann in der Veranlagungsabteilung als Bearbeiter eines Steuerbezirks tätig gewesen ist.« Gezeichnet Georg Schubert, Oberregierungsrat a. D., Vorsteher des Finanzamtes bis 1945. Diese Feststellung war die Hauptsache. Mit diesem Zeugnis ließ sich das vergangene Leben, wenn man überlebte, fortsetzen, wo es aufgehört hatte. Schuberts gabs viele. Ohne Partei, mit Partei. Georg könnte nach getaner Arbeit am Rhein spazieren. Wer bin ich? In Baracken hatte er gelebt, Kohlrübensuppe im Leib, bis Wärme in die Gesichter gestiegen war und der Streit anfing über Kochrezepte, wessen Frau oder Mutter, deine oder meine, am besten kochte, gestritten wurde bis aufs Messer, bis der Hunger zurückkehrte. Sinnlos alles, die Sinnlosigkeit nahm kein Ende.

Manchmal denke ich an die Ärztin, die mir das Leben gerettet hat, die dort saß, als ich aufwachte und deutsch mit mir redete.

Georg erinnerte sich, wie er bei Schnee und Sonne den Weg vom Bahnhof heruntergekommen war, in dieser knielangen schwarzen Wattejacke, die vielleicht einem russischen Panzersoldaten gehört hatte, unendlich müde, vor sich die leere Straße. Die schweren Schuhe mit angegossener Gummisohle, Kriegshilfsgut, amerikanisches, hinterließen Tritte im feuchten Schnee. Er hatte im gleißenden Licht die Augen zusammengekniffen und mit einem Mal den Jungen erblickt. Jetzt brachte er Johannes, auf den sich seine Hoffnung richtete, zum Bahnhof.

Georg hatte sich entschieden zu bleiben. Es wäre ihm schwer gefallen, aus einer Vielzahl von Gründen dafür den Hauptgrund herauszufinden. Ediths Gründe waren nicht seine. Sich trennen? Wer würde die Gräber pflegen, wenn nicht sie? Alles aufgeben? Für welche Zukunft? Georg konnte nicht einmal seine Wattejacke wegwerfen. Die Anzüge, mit denen er ins Finanzamt gegangen war, waren in seinem Schrank hängen geblieben. Er hätte den Anzug nur wieder anziehen müssen, den Hut aufsetzen und auf der anderen Seite in einem Finanzamt mit dem Zeugnis von Schubert vorsprechen.

Dass sich der Junge der Sonderreifeprüfung stellte, war Teil der Entscheidung hierzubleiben. Sie spürten die Kühle in dem Wäldchen, in das sie eingetreten waren. Georg wusste, dass Johannes aus ihrer Welt wird heraustreten müssen, wenn er die Studienzulassung bekommt.

Sie bemerkten vor sich die Verwandten, Adele und Erwin, die auch zum Bahnhof gingen, sodass sie langsamer gingen. Solche Zufälle, mein Junge, musst du aushalten.

Die Fahrkarte war gekauft. Die Taschenuhr in der Hand, kon­trollierte Georg die Zeit.

Seit Frühjahr arbeitete Erwin bei der Bauunion. Unter den Lausitzer Wäldern lag Kohle, und die wurde aufgeschlossen. Die vor uns, er meinte Adele und Erwin, haben es im Leben richtig gemacht und machen es wieder richtig. Damit war Siegfried Arbeiterkind. Stipendienantrag und Lohnbescheinigung sind einzureichen.

Siggis Stipendium war Erwins Lohnzulage, und wenn Siegfried Arzt wird, wird er dir die Zähne ziehn, oder dich, wenns auf der Brust pfeift, abhorchen, entweder in der Poliklinik oder der eignen Praxis. Du, Hannes, wirst in der Gemeindebücherei Leuten wie mir vielleicht Bücher empfehlen, damit unsereins nicht in Trostlosigkeit versinkt in diesem Lande, wo die Pförtnerloge inzwischen in jedem Amtseingang steht und du dich ausweisen musst.

Die Partei bestimmt, ob sie dir zwei Zimmer zubilligen oder drei oder gar keins. Die »Genussen« sind Verteiler von etwas, was sie sich genommen haben. Hingeschmissen haben ihnen das die Russen.

Georg verfiel in Schweigen. Die Schritte knirschten. Schlaglöcher, die mit Sand zugeschüttet waren.

Ein Studiendirektor für Kader und Erziehung hatte über die Prüfungszulassung entschieden. Johannes hatte die Gebühr für die Sonderreifeprüfung an die Arbeiter- und Bauern-Fakultät eingezahlt, fünfzig D-Mark, Konto der Universität, Deutsche Notenbank, Sachkonto 2011, Sonderreife. Der Einzahlungsbeleg war vorzulegen, Schreibmaterial mitzubringen. Fahrgeldermäßigung gewährte die Universität nicht.

Das hatte Georg in der Küche vorgelesen. Die Fahrkarte werden wir bezahlen können.

Wie muss ich mir einen solchen Studiendirektor vorstellen, der die Unterlagen überprüft und die Zulassung ausgesprochen hat, fragte er. Wirst du ihn zu Gesicht bekommen?

Es wird gelingen, sagte Mutter zum Abschied. Sorgen machte sie sich, dass der Schwindel, wie sie es nannte, im Fragebogen entdeckt werden könnte. Der Mensch soll bei der Wahrheit bleiben. So bin ich erzogen.

Georg widersprach. Dieses Dasein ist verlogen, und auch wenn es deine Verwandten wieder richtig gemacht haben, bleibt es verlogen.

Es liegt auch daran, dass sie sich einig sind.

24

Das große Teilen hatte begonnen. Dafür war die akademische Bildung im Wert gestiegen

Bei Mutter bestand eine gewisse innere Unfreiheit, das hatte Vater längst erkannt. Die Verwandtschaft legte Vermögen in Grundbesitz und Sachwerten an, Villa mit Herrenzimmer und stattlicher Treppe, Schmuck, Porzellan, vor der Währungsreform bogenweise Briefmarken. Inzwischen waren Grund und Boden nicht mehr unantastbar, das Eigentum erschüttert. Das große Teilen hatte begonnen. Dafür war die akademische Bildung im Wert gestiegen.

Studieren! Am besten Medizin, weil der Arztberuf unangreifbar schien, was auch Hedwigs und Ediths Ziel war. Daraus wurde nichts. Die Oberschule fehlte.

In der Schule hieß Rechnen jetzt Mathematik. Die Zahlen verbündeten sich mit den Buchstaben. Nicht jeder Neulehrer konnte die Buchstabenrechnung erklären. Erwin aus dem Baufach schloss Siegfrieds Lücken zu Hause. Physik, Chemie, Mathematik, analytisches Denken waren was Besonderes. Die gebildeteren Frauen hatten bestenfalls die Haushaltschule besucht oder Maschineschreiben gelernt.

In Gefangenschaft glichen die Verlorenen einander, abgeschabt, wie sie waren, mager. Es gab Gegenbeispiele mit Bildung auch in Gefangenschaft. Vater ließ diesen Gedanken fallen. Es gab entwertetes Wissen; darüber wurde auch geredet. Im Arbeiterzug las Georg, was die Gemeinbebibliothek hergab, Verbotenes und Verbranntes von damals. Erwin las so gut wie nicht, er hatte weder das Leben eingebüßt, wie Alfred, noch die verlorenen Jahre aushalten müssen.

Es ging eben ungerecht zu. Wenn Mutter von Herzensbildung sprach, meinte sie Bildung, die mehr war als Wissen. In guten Jahren war in der Richter-Mühle und der Familie Geld. Als die Mühle verloren war, schien der Beamte das bessere Los gezogen zu haben.

Das Politische ist gefährlich, meinte Mutter, ich möchte, dass wir mit Politik nichts mehr zu tun haben. Im Dorf studiert niemand Geschichte. Wenn sie davon hören, werden sie dich auslachen.

Edith hatte Vater den grauen Sommerhut hingehalten, bevor sie losgingen. Den hängte er zurück in den Schrank. Bei Rönischs schnaubten die Pferde. Mutter, leise, wiederholte: Hauptsache, der Schwindel kommt nicht raus.

Sein Gesicht nahm einen verschmitzten Ausdruck an. »Beruf des Vaters?«, Angestellter. Verquatschen darfst du dich nicht. Wir werden zu Meistern im Lügen, sinds schon. Bei Hitler fing das an. Mit Lug und Trug stehn wir auf du und du. Sie waren längst auf dem Weg zum Bahnhof, als er das sagte. Kannst Beelzebub nur mit Beelzebub austreiben. Was hilft dem Schwachen sonst? Meine Mutter, diese fromme, gute Seele auf der Messergasse, hätte mich gescholten, würde sie noch leben. Der Krieg hat die Ehrlichkeit vollends zerstört. Diese biederbraven kleinen Leute, die in der Bibel lasen, haben sie hochgehalten.

Ehrlichkeit, Brüderlichkeit, mein Vater glaubte, dass sie vorangetragen werden. Er neigte den Roten zu. Mutter vom Dorf kam aus einer Maurerfamilie. Sie war in ihrer Güte so selbstlos, dass Vater, selbst wenn er andrer Meinung war, sie nie verletzte, anders als ich, was ich mir zum Vorwurf mache. Die Lüge hat eine Grenze, ich denke, Hannes, dass ich sie noch nicht überschritten habe.

Vögel flogen auf, die über den Wiesen schwebten, vielleicht Bussarde, mit Rufen aus großer Höhe. Frauen, die frisch gehaunes Gras zerstreuten. Vater sah nicht hin. Alles Fleisch ist wie Gras, sagte er, wenn auch mein Leben noch nicht zu Ende ist.

 

Ins Amt lassen sie mich nicht mehr, Lehrer ja, die kommen zurück. Damit muss ich mich abfinden.

Am Bahnhof hing die große Normaluhr, die sich von beiden Seiten ablesen ließ, die Verwandtschaft, Adele und Erwin, einen halben Schritt voraus. Die fahren weit, sagte Georg. Wir gehn durch, wenn sie ihre Fahrkarte gelöst haben.

Sie betraten jetzt die kleine Schalterhalle. Der lange Bahnsteig war frühe Eisenbahnzeit, hatte gusseiserne Säulen mit Blechdach. Die elektrische Uhr gabs auch, bloß kleiner.

Morgen miteinander.

Guten Morgen, ihr beiden.

Auch so früh. Ja. Keine Seite fragte, wohin.

Es hatte gedauert, und so hatten sie aus dem Schalterfenster gehört, wohin die Reise ging. Greifswald hin und zurück, zweimal, wiederholte die Frau mit Käppi und Haarspange über der Tolle. Marianne Johne schob Adele die Fahrkarte hin.

Als der Schnellzug Wasserdampf zischend über den Bahnsteig blies, stellte sich Jojo, wie sie genannt wurde, mit der roten Deckelmütze und in der für die Deutsche Reichsbahn üblichen Kostümuniform an den Zug, sah Adele und Erwin zusteigen. Johannes war im anderen Wagen zugestiegen. Der Zeiger schnellte auf die Abfahrtminute, die Fahrdienstleiterin hob die Kelle.

Georg sah den Zug entschwinden, bis Jojo sagte: Bei mir wissen Sie gleich, wo die Verwandtschaft hinfährt.

Ich denke, das wird klappen mit der Wohnung, sagte Frau Johne noch und trug Edith Grüße auf. Sie kannten sich seit jungen Jahren. Ihr Mann war im Krieg geblieben. Sie beobachtete scharf, war stets vergnügt, was Georg nicht gegeben war.

Die reisen, damit sie Siggi freigeben, der sich verpflichtet hat, sagte Jojo, der will nicht Militärarzt werden.

Wenn ich mitgeh, kommen mir bloß die Tränen, hatte Edith gesagt, als Georg zurückkam.

Auf uns könnt ihr euch verlassen. Erwin hatte die Rede geschrieben, und jetzt fahren sie bitteln. Militärarzt, diesen Preis will er nicht zahlen, und vielleicht liegt auf dem Tisch dort auf der Akte, wenn sie reinkommen, eine Deckelmütze. Wir brauchen den Jungen, wenn er studiert, und vielleicht wird Adele sagen, weil wir zur Gemüseversorgung viel beitragen, und Erwin hilft, die Energieversorgung in Schwarze Pumpe sichern.

Ich bin gehässig.

Bin’s geworden.

25

Die Termine für die Mündliche kommen mit der Post. – Was machen Sie mit mir?

Er hatte sich an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät Döllnitzer Straße, Haus 2, einzufinden, einem Neubau von ziemlicher Größe mit hohen Fenstern. Im Giebelfeld prangte ein Wappenschild. An der Tür, auf Pappe geschrieben: 9.00 bis 12.00 Thema für alle (Gewi), 14.00 bis 17.00 Fachklausur (gewünschtes Studienfach).

Die sich dort sammelten, schwiegen, bis ein Mädchen in Blauhemd klinkte. Immer noch zu, rief sie, und Hannes tauchte in den Ereignisstrom ein. Den wird die Erinnerung vielleicht einmal freisetzen, auch für das Mädchen im Blauhemd, auch für Hannes, für alle, die bestanden haben und sich zur Immatrikulation versammeln, in der Kongresshalle des Zoo, unter Fahnen, Musik und dem Gelöbnis, in das hinein ein Löwe brüllen wird.

Die Aula war Turnhalle, in die sie eintraten, an einer Seite Wandmalerei. Ein Barren stand herum, ein Turnpferd mit abgewetzter Lederbacke, dem ein Prüfling, den er im Hörsaal 40 wiedertreffen wird, einen Hieb versetzte, bevor er seinen Platz suchte. Geschrieben wurde an Tischreihen. Jeder zweite Stuhl blieb frei. An der Wandtafel mit Kreide das Thema.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Fenster vor sich sah er eine mit wildem Wein bewachsene Villa, im Fenster hing Wäsche.

Zweieinhalb Stunden später gaben die ersten die Klausur ab. Mit dem Allgemeinen umzugehen, hatte er inzwischen gelernt. Die Handgriffe saßen wie damals beim Sirupkochen, als der Richter-Großvater im Waschhaus Rüben wusch, schnitzelte, kochte, presste, eindickte, anschmeckte. Hannes hatte Gustav vorgelesen.

Die Anspannung, in die er beim Schreiben geraten war, ließ nach. Was hatte die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät in der alten Aula, die nicht mehr so hieß, nicht alles hinmalen lassen?

Ein Bergmann in blauer Hose drückte den Presslufthammer in die Kohle. Wie Hennecke. An Blau fehlte es nicht. Blau waren die Mützen der Straßenbauer, die Teer abzapften. Frauen gingen in blauer Schürze und Kopftuch. Ein langhaariger Junge lenkte einen Traktor, an dem ein blauer Wimpel wehte. Auf Patzigs Feldern ist noch kein Traktor gerollt in der Zeit danach, der anderen Zeit. Das Wandbild war die Verheißung. Der Hochofenbauer war zum Kinderarzt geworden, der Hauer zum Agraringenieur.

Er ging essen, die Kommission auch, vorbei an dem blauen Meer, an der Weltkarte, an Kontinenten wie Inseln, vor denen niemand stehen blieb.

Die Anspannung hatte nachgelassen. Nach dem Essen bloß nicht müde werden. Manche rauchten.

Umschläge mit Namen lagen vor ihnen. Einer schlitzte seinen Umschlag auf, saß wie erstarrt vor dem Schreibzeug.

Johannes holte Luft, als müsse er einen Stein heben. »Die deutsche Ostexpansion im Mittelalter. Grundzüge und Verlauf.« Wieder sah er die Wäsche im Fenster auf der Straße gegenüber. Er schrieb einen kurzen Entwurf, die Ausarbeitung in einem Guss.

Die Slawen siedelten in Flussauen, erschlossen die fruchtbaren Böden, bevor die deutschen Siedler mit Waldrodung vordrangen. Das herrschaftliche Vordringen ging dem bäuerlichen voraus. Die Straßendörfer der Hufenbauern lagen im Oberland, in der Niederung die Runddörfer der Sorben. Herrschaftliche Urpfarreien entstanden für das überrannte Slawenvolk. Göda mit seiner Kirche war eine davon.

Die Aufsicht klopfte. Entwürfe sind abzugeben. Im Gehen gab er dem Turnpferd eins mit der flachen Hand. War mein Pferdsprung. Er dachte an Regine.

Das Mädchen in Blauhemd, das geklinkt hatte, stellte sich ans Fenster, er ging hin und sah in hellgrüne Augen.

Weil am Eingang sonst niemand im FDJ-Hemd zur Prüfung erschienen war, hatten einige überrascht geguckt.

Zufrieden?

Er wollte das auch fragen, da bemerkte er auf der Straßenseite gegenüber drei Männer, einen in Uniform, der ein Papier aus der Aktentasche zog.

Ist was?

Komisch.

Was, fragte sie.

Mir war, als hätte ich jemand erkannt.

Sie lachte. Das gibt’s. Wenn ich die Sonderreife habe, studiere ich Medizin, und du?

Geschichte.

Sie ging zu ihrer Tasche, legte zwei Tomaten aufs Fensterbrett. Eine für mich. Sie rückte ihren Rock zurecht.

Die Termine für die Mündliche kommen mit der Post, wer schriftlich bestanden hat, rief die Aufsicht.

Kannst dir ja mal die Internate ansehen gehen. Machs gut! Sie kannte sich vermutlich aus.

Wilder Wein kletterte über die Fassade von der Villa gegenüber. Die Tür war angelehnt. An der Wand Medaillons, gemalte Vasen. Im Hausflur stand ein zusammengebautes Fahrrad.

Jemand auf der Treppe rief von oben: Dazu haben Sie kein Recht! Was machen Sie mit mir!?

Bloß weg.

Am Ausgang zur Döllnitzer Straße, wo die Straßenbahn hielt, beherrschte die graue steife Kirche mit spitzem Turm den Platz. Hinter dem Park ragte ein Giebel heraus, an dem ein rotes Spruchband hing. Der Fahrer im Kastenwagen blieb sitzen. Russen. Kinder in Schuluniform. Die Garnisonskinder. Der Fahrer prüfte, ob die Türen geschlossen waren.

Was hätte das Mädchen im Blauhemd dazu gesagt?

Von den Männern auf der Straße war ihm ein Gesicht bekannt vorgekommen. Es erinnerte an jemand. Aber an wen?

Er lag lange wach. Waren Wolframs draußen im Garten? Ich kann nicht einschlafen. Was machen Sie mit mir!? Er hatte nur die Stimme gehört.

War die schriftliche Prüfung bestanden? Wann werde ich es Regine sagen? Sie hatte letztes Mal ihm die Arme um den Hals geschlungen, sie konnten sich nicht trennen in der Allee dort, wo sie bei ihrer Mutter wohnte.