Kraniche über Otterndorf

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*

Sie wusste gar nicht, was sie zuerst machen sollte, es gab so viel zu erledigen. Ihr praktischer Sinn siegte. Sie griff zum Telefon und wählte ihre Tante an: „Beaaa“, sie zog ihren Namen bittend in die Länge, sodass ihre Tante schon insgeheim den Geldbeutel zückte.

„Ja, bitte“, fragte sie „was kann ich für dich tun?“

Britta grinste: „Möchtest du nicht einen kleinen Obolus leisten für die Kunst?“

„Pah, wenn du so fragst, bekommst du gar nichts. Sag doch einfach, du brauchst Geld und basta.“

„Okay, Tante“, Britta gab sich einen Ruck, denn nie zuvor hatte sie das Angebot ihrer Tante angenommen, zumindest für sich selbst überhaupt erst in Betracht gezogen, „ich brauche Geld!“

Als Beatrice die Summe hörte, musste selbst sie erst einmal schlucken: „Du machst dich, Kleines … “, man hörte, wie sie sich am anderen Ende der Leitung etwas notierte, „ich überweise es dir – und Britta, gib nicht alles auf einmal aus.“

„Danke, Bea“, sagte Britta, aber ihre Tante hatte längst wieder aufgelegt, denn in ihrer Küche wartete eine entzückende Pizza-Lieferantin auf ihr Wechselgeld …

Die finanzielle Seite war ja jetzt gesichert, nun ging’s an Konzept. Sie musste die Szenen umschreiben … für drei weitere Tänzer. Sie war so aufgeregt. Wie die neuen Teilnehmer wohl sein würden? Ob sie Tanzerfahrung hatten? Ob sie sich gut in die Gruppe eingliederten?

*

Kommissar Frank und Jochen Dressler fuhren diesen Weg nun schon seit vielen Jahren, und nie, dachte Hartmut, nie konnte er dieses unangenehme Gefühl abstreifen, beinahe einen leichten Widerwillen, diese Schwelle zu überschreiten. Die Kühle der Räume, die auf eine andere Weise schauern machte, als wären sie in einen Eisregen geraten, die nüchterne Sprache, die dem Fall zwar zuträglich war, aber die doch einen Menschen betraf, der vor Kurzem noch lebte und Wünsche und Ängste hatte und nun reduziert wurde auf, na sagen wir mal, zwei bis drei Pfund Hirnmasse und einen perforierten Darm.

„Grübelst du wieder?“, fragte ihn sein Kollege Jochen.

Hartmut wandte ihm kurz sein Gesicht zu, konzentrierte sich aber sofort wieder auf die Straße. Wie gut sie sich kannten! „Ja“, sagte er mehr zu sich selbst.

„Immer hereinspaziert, die Herrschaften“, begrüßte sie Gerichtsmediziner Lohmeier, der Fuchs, wie er allgemein genannt wurde. Er hielt ihnen die Tür auf mit einer Geste, als lege er ihnen die Welt zu Füßen. „Achtung, Stolperfalle“, schon war man wieder in der Realität angekommen.

„Etwa gegen Mitternacht trat der Tod ein“, Fuchs Lohmeier kratzte sich hinterm Ohr: „Nun ja, ein Blutbad.“

Er lüftete das weiße Tuch, das über den Toten gebreitet war. Der gesamte Körper, auch das Gesicht, war mir Einstichen bedeckt, und überall waren leichte und tiefere Kratzwunden. Auch das rechte Auge und der Hals waren schwer verunstaltet, und Hartmut wandte sich ab.

„Ihr seht ja selbst“, fuhr Lohmeier fort, „übersät mit Kratzspuren und Stichen. Aber es könnten natürlich auch Hackspuren sein, von einem spitzen, kräftigen Schnabel. Dafür spricht, dass die Halsschlagader regelrecht zerfetzt wurde, was die eigentliche Todesursache ist.“ Er druckste ein wenig herum: „Aber grundsätzlich bin ich mir noch nicht sicher. Die Federn, die an Körper und Kleidung klebten, sind nicht von der Hand zu weisen. Dennoch glaube ich nicht so richtig an einen Raubvogel. Dafür erscheinen mir die Wunden zu … mechanisch und in der Form zu gleichförmig. Ich habe eine Kollegin hinzugezogen, die da einige Erfahrung hat. Sie ist allerdings tatsächlich der Ansicht, dass es sich bei den tödlichen Wunden um Tierbisse oder Risse von scharfen Krallen handelt.“

Hartmut und Dressler sahen ihn groß an. Allein dass Lohmeier zugab, es nicht genau zu wissen, und eine zweite Person hinzuzog, war schon eine Seltenheit und kam nur alle zehn Jahre einmal vor.

„Hm, das ist ja ziemlich verwirrend“, kommentierte Dressler.

„Es ist eine schwierige Sachlage“, verteidigte sich der Mediziner, „aber ich kann mich den Argumenten meiner Kollegin nicht ganz verschließen. Wir müssen bis morgen warten, dann werden wir erfahren, ob tierische DNA im Spiel ist. Da kommt man sonntags nicht allzu weit.“

„Was mich noch interessiert“, überlegte Kommissar Frank, „wie war denn die körperliche Verfassung von Horst Kling? War da irgendetwas ungewöhnlich, hat er getrunken, war er tätowiert und solche Sachen?“

Jetzt schaute er wirklich wie ein Fuchs, dachte Dressler und musste grinsen.

Lohmeier räusperte sich vielversprechend: „Auf den ersten Blick alles normal, er war nicht gerade fit, aber alles im Rahmen. Getrunken hat er wohl nicht, seine Fingerkuppen deuten allerdings darauf hin, dass er geraucht hat, und zwar Selbstgedrehte. Das war ja lange Zeit völlig out, aber seit die Zigaretten so teuer sind, kommt es wieder häufiger vor … aus Geldgründen, aber oft auch … aus Nostalgie.“

„Interessant“, murmelte Hartmut, aber Geld hatte Kling ja wohl reichlich, überlegte er.

Der Gerichtsmediziner reichte dem Kommissar eine silberne OP-Schale mit zunächst undefinierbarem Inhalt: „Das hatte er im rechten Ohr, ein hochmodernes Luxus-Hörgerät. Das spricht nun wirklich dafür, dass er sich seine Zigaretten hätte leisten können. So etwas kostet mindestens 3000 Euro. Ich hab so eine Ausfertigung noch nie gesehen.“

„Okay, wenn du hier fertig bist, Tobias, schick es uns bitte ins Büro.“

„Mach ich. Ansonsten hab ich erst mal nichts zu bieten.“

*

„In der Umgebung seines Gehöfts bei Kehdingbruch konnten die Leute nicht viel über Holger Kling erzählen“, berichtete Amelung bei der Lagebesprechung, „er tauchte da nur selten auf und blieb auch weiterhin in Otterndorf wohnen. Befragt man dort seine Nachbarn, so galt er als ruhiger Zeitgenosse, war freundlich und umgänglich, nur in der Zeit, als ihn seine Frau verließ, wirkte er niedergeschlagen und fahrig. Jeder, den man fragte, war entsetzt über seinen gewaltsamen Tod.“

„Ich war in Brunsbüttel und hab mich mit Klings Ex-Frau unterhalten“, referierte als Nächster Jochen Dressler. „Eine durch und durch bodenständige, sehr sympathische Frau. Sie lebt dort allein, hat einen neuen Freund, war aber ehrlich erschüttert über das Schicksal ihres früheren Ehemanns. Was die Verpachtung seines Ackerlandes an die Windanlagenfirma angeht, das fand sie wohl nicht toll, sie ist aber keine ausgesprochene Windkraft-Gegnerin. Die Eheleute haben sich zwar kurz danach getrennt, doch sie betonte, dass das rein private Gründe hatte.“

„Glaubst du, sie könnte irgendetwas mit der Tat zu tun haben?“, fragte Hartmut.

Dressler schüttelte heftig den Kopf: „Auf keinen Fall! An dem Abend feierte sie in großer Runde das 25. Firmenjubiläum einer Freundin. Das dauerte bis in die Morgenstunden, und sie hat etwa dreißig Zeugen, die ihr Alibi bestätigen können. Nur …, ich hab sie nach dem Hörvermögen ihres Ex-Mannes gefragt, wegen des teuren Hörgerätes ...“, er zögerte, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, „er hörte tatsächlich ein bisschen schlechter, aber ein so spezielles Hörgerät hatte er ihrer Meinung nach nicht nötig.“

„Na ja“, warf Libuše ein, „so was Besonderes ist das doch nicht. Die beiden sind doch schon zwei Jahre getrennt, in der Zwischenzeit kann sich das doch verschlechtert haben.“

„Selbstverständlich“, überlegte Dressler, „aber irgendetwas daran macht mich stutzig.“

Hartmut bekräftigte seine Einschätzung: „Mir kam das auch gleich seltsam vor. Wir lassen das Gerät auf jeden Fall von einem Fachmann untersuchen.“

„Ich habe die Nachbarn der umliegenden Häuser des Tatorts befragt“, setzte Libuše die Runde fort, „die meisten haben nichts mitbekommen. Bis auf den Schrei natürlich. Bis dann jemand am Fenster oder auf der Straße war, hatte man sich nur noch für die Leiche interessiert. Frau Bedecker allerdings, die über dem Bäcker wohnt, hat einen großen Vogel wegfliegen gesehen. Und jetzt haltet euch fest, der Junge von Paulsens erzählte mir ganz aufgeregt, er habe die Tat beobachtet. Ein großer Vogel habe den Ermordeten von hinten angefallen und immer wieder auf ihn eingehackt. Der junge Paulsen hatte heimlich zu später Stunde ferngesehen und hätte es erst gar nicht glauben können, weil es wohl wirkte wie in einem Gruselfilm. Alles sei so schnell gegangen, dass es schon vorbei gewesen war, als er seine Eltern holte. Und die hatten dann gedacht, er erzähle Märchen.“

„Das ist ja wirklich der Hammer“, machte Dressler sich Luft.

Und Hartmut wollte wissen: „Wie schätzt du den Jungen ein? Kann man ihm trauen?“

„Also, ich glaube ihm schon“, überlegte Libuše, „im Gegensatz zu seinen Eltern. Selbst als sie die Leiche sahen, sprachen sie nur von seiner ungezügelten Fantasie. Was allerdings wirklich sehr dubios klingt, er behauptet stock und steif, es hätte sich um einen Kranich gehandelt.“

„Ein Kranich?“, Dressler konnte es nicht fassen, „die greifen doch niemanden an, und vor allem töten sie keine Menschen!“

„Das wäre dann der Erste“, stellte Libuše trocken fest.

„Ist das dein Ernst?“, fragte Hartmut sie mit eindringlicher Stimme.

„Nun könnten wir ja vielleicht noch einmal neu über meine Vermutung diskutieren, inwieweit man Kraniche abrichten kann“, mischte sich Liz mit süffisantem Lächeln ein und trat in die Mitte des Raums.

„Dazu kann euch mit Sicherheit Maria Marquard etwas sagen“, trumpfte Amelung auf, der sich die ganze Zeit zurückgehalten hatte, „sie ist Falknerin und eine enge Freundin meiner Schwester!“

„Na, dann mal her mit ihr!“, sagte Hartmut Frank, „ist doch interessant, was ihr alle für Freunde und Bekannte habt.“ Dabei ruhte sein Blick wohlgefällig auf Liz, die ihn daraufhin so herausfordernd anschaute, dass er plötzlich gute Laune bekam.

 

*

Endlich war Dienstagabend. Britta schwang sich stolz auf ihren neuen Motorroller. Es war schon ein prächtiges Teil, eine schicke cremefarbene Vespa, genau das Richtige für den Stadtverkehr und kurze Fahrten über Land. Es war die erste Anschaffung vom Geld ihrer Tante, es würden noch weitere folgen. Da die Proben seit heute in den Seelandhallen Achtern Diek stattfinden sollten, fühlte sich die junge Choreografin für die An- und Abreise gewappnet. Zu Fuß war das schon ein Angang, die Hallen befanden sich außerhalb in der Nähe des Campingplatzes, nahe der Medemmündung in die Elbe. Und sie war sich noch nicht sicher, ob sie den Ort beibehalten sollten. Vor allem für den Rückweg sollten sich Fahrgemeinschaften zusammenfinden.

Heiner, Henriette und die anderen waren schon da und hatten sich zusammen in den Zuschauerraum gesetzt. Eine unbekannte Frau stand bei ihnen, und das Gespräch schien zu florieren. Ein etwa dreißigjähriger Mann versuchte anzudocken, was nicht so gut gelang.

Britta ging auf die Gruppe zu, war aber dennoch nicht ganz bei der Sache, sollte nicht noch ein Dritter dazukommen?

„Hallo“, sie gab zuerst der Frau die Hand, dann dem Mann, „ich bin Britta Peters. Toll, dass Sie zu unserer Gruppe stoßen!“

Es stürmten nun Begeisterungsbekundungen, Kurz-Biografien und allerlei Fragen auf sie ein. Aber nichts davon drang wirklich bis zu ihr vor. Sie stand nur lächelnd da und nickte und gab Laute von sich, die als Zustimmung gedeutet werden konnten. Denn sie hatte ganz hinten im Saal in einer der letzten Reihen einen Mann entdeckt, der die Gruppe interessiert beobachtete, aber aus irgendeinem Grund nicht nach vorne kam. Entweder war er zu schüchtern oder noch nicht sicher, ob er wirklich teilnehmen sollte. Britta wusste auch nicht, warum sie der Fremde so nervös machte, immer wieder schaute sie zu ihm.

„Hallo, junger Mann“, rief sie ihm schließlich zu. Das war eine ziemliche Übertreibung, aber sie wusste nicht, wie sie die Anrede formulieren sollte, „möchten Sie nicht zu uns kommen?“

Unbehaglich rutschte der auf seinem Stuhl hin und her, schien sich dann aber einen Ruck zu geben, stand auf und kam nach vorne. Sein Gang war langsam und vorsichtig, entbehrte jedoch nicht einer gewissen Eleganz. Ganz in Schwarz gekleidet, aufrechte Körperhaltung, dunkle Haare, stechend blaue Augen, die er jedoch meistens abzuwenden versuchte. Britta bemerkte durchaus die Schärfe seines Blicks, hätte aber die Augen eher als leuchtend blau beschrieben. Unwillkürlich lächelte sie ihn an. Sie schätzte ihn auf etwa 30 Jahre, nur ein paar Jahre älter als sie.

Zögernd reichte er ihr die Hand: „Robert Alsfeldt.“ Ein Siegelring mit blauem Stein blitzte auf. Ihr Blick suchte seine Augen, wie um zu überprüfen, ob der Ring die gleiche Farbe hatte. Sofort schaute er zur Seite und zog die Hand zurück.

„Ich freue mich“, preschte Britta vor, „dass Sie heute gekommen sind! Wir brauchen so dringend Verstärkung.“

Nun doch ein zaghaftes Lächeln: „Ja, es war der Name Ihres … Balletts, der mich angezogen hat.“

„Darf ich mich auch vorstellen“, der andere Neuankömmling, breitschultrig, in Jeans und Turnschuhen, ergriff die Hand von Robert, die er ihm gar nicht angeboten hatte, und schüttelte sie kräftig: „Pieter Neukamp!“ Erst wollte Robert sich schnell wieder zurückziehen, doch ein seltsamer Trotz überkam ihn, und er hielt die fremde Hand hartnäckig fest, einen Augenblick über Gebühr.

Pieter Neukamp schaute ihn irritiert an, ein bisschen eingeschüchtert, aber auch neugierig forschend. Robert blickte durchdringend zurück, und man merkte deutlich, wie unangenehm ihm diese Begegnung war. Die beiden waren etwa gleichaltrig. Freunde werden das aber keine werden, dachte Britta und führte die Gruppe zusammen.

„Wir wollen uns mit einem Kranich-Ballett oder -Tanzstück an der Ausschreibung zum 60. Bestehen der Kranichhaus-Gesellschaft beteiligen“, sie wandte sich dann wieder den neuen Teilnehmern zu, „am besten ich erzähle euch einmal die Handlung, die ich mir ausgedacht habe. Vielleicht kennt ihr die Geschichte vom Kranich Blacky, der sich tatsächlich hatte hinreißen lassen, mit den skandinavischen Kranichen nach Schweden zu fliegen und dort auch den Sommer zu verbringen. Für einen ausgewachsenen Vogel ist das sehr ungewöhnlich, vor allem scheint er bis auf den heutigen Tag nicht zurückgekehrt zu sein. Nun habe ich diese wahre Begebenheit weitergesponnen, und in unserem Ballett verliebt sich Blacky in eine schwedische Kranich-Dame, wird jedoch nicht erhört und folgt ihr quasi als Mutprobe und als Beweis seiner Liebe ins fremde Land.“

Gerlind, die neue Mitwirkende, guckte sparsam, Pieter Neukamp nickte beifällig, und Robert Alsfeldt zeigte keinerlei Gefühlsregung, er schaute Britta nur vollkommen ernst an: „Und kommen die beiden zusammen?“

Britta bekam weiche Knie unter diesem Blick, der für sie eine Grenze überschritt, und so irrational es auch war, sie hatte plötzlich das Gefühl, sie sei gemeint und sie müsse die Antwort sehr genau abwägen.

Sie holte tief Luft und sagte zögernd: „Ja, was wäre denn das sonst für eine Geschichte.“

Sie vermied es, den schlanken, dunkel gekleideten Mann dabei anzusehen. Unbefangen und erleichtert strahlte Gerlind übers ganze Gesicht: „Gott sei Dank, ich dachte schon, es gibt am Schluss so was wie den sterbenden Kranich. Ich steh nämlich auf ein Happy End.“

„Wer tut das nicht“, entgegnete Robert, und bei diesen Worten entspannten sich seine Gesichtszüge, machten sie weich und milde und auf eigentümliche Weise schön.

*

Sogar eine Sauna hatten sie in ihrem Hotel, das gefiel Liz ausgesprochen gut. Eine Sauna mit zwei Räumen und einem schönen Abkühlungsbereich. Nur zu gerne überließ sie sich der trockenen Hitze, schwitzte all die Anspannungen der letzten Zeit heraus und rieb sich draußen genüsslich Füße und Beine mit dem bereitstehenden Eis ab. Und dann hinein in das kleine, langgezogene Schwimmbassin. Mit jeder neuen Schwimmbewegung fand sie wieder zu ihrer alten Form zurück, die der unangreifbaren, selbstbewussten, ein bisschen vorlauten Profilerin aus der Weltstadt Berlin.

Etwas kleinlauter wurde sie allerdings, als sie in ihrem Zimmer in der Hotelbroschüre las, dass sich Restaurant und Frühstücksraum im 6. Stockwerk befanden. Da hatte sie sich ja zielsicher eine echte Herausforderung ausgesucht. Sie kämpfte das ungute Gefühl nieder, das sich sofort einstellte. Auch bezwang sie den Impuls, auf der Stelle auszuchecken. Nein, sie wollte sich konfrontieren. Morgen konnte sie sich ja immer noch ein anderes Hotel suchen. Zumindest sollte sie schon einmal das Frühstück stornieren, sie würde sich irgendwo in einem Café am Deich einen Kaffee mit Croissant bestellen. Sie wollte jetzt gar nicht länger über ihre Schwächen nachdenken, hier half nur Ablenkung. Und sie holte die Unterlagen des neuen Mordfalles aus ihrer Tasche und breitete sie auf dem Bett aus.

*

Als Robert Alsfeldt auf sein Motorrad stieg, lag noch immer jenes eigentümliche Lächeln auf seinem Gesicht, das sich nur bei ihm einstellte, wenn er bis ins Innerste berührt war. Diese junge Frau meinte es wirklich ernst mit ihrem Ballett, und sie war so sehr bei der Sache, dass ihre Wangen glühten vor Eifer. Die meisten Menschen fand er oberflächlich, er wusste, dass er hier hart urteilte, aber man musste doch überlegen, wofür man seine Zeit opferte. Und für sie würde er das gerne tun, er hatte sogar vor, sich anzupassen, so gut es eben ging. Einfach damit die Verständigung zwischen ihnen besser funktionierte. Die anderen Mitspieler fand er nichtssagend, bis auf diesen Pieter vielleicht, der war ihm richtig unangenehm. Er kam ihm sogar irgendwoher bekannt vor, er durchforstete seine Erinnerung, fand aber kein Bild, das er mit ihm in Verbindung bringen konnte.

Es war ihm nicht leichtgefallen, nach so vielen Jahren wieder in das Haus zurückzukehren, das Haus im Lande Hadeln, in dem er seine Kindheit verbracht hatte und das mittlerweile schon ziemlich baufällig war. Alles war ihm fremd und doch immer noch schrecklich vertraut. Und Bilder überfluteten ihn von früher, von seiner Jugend, von Einsamkeit und Unverstandensein, von den Gewaltexzessen seines Vaters … und dann als Rob 16 Jahre alt war und sein Vater plötzlich verschwand. Rob war lange krank gewesen damals, und wer weiß, was aus ihm geworden wäre, wenn sich nicht eine Verwandte der Mutter seiner erbarmt hätte. Das war seine Rettung. So hatte er lange Zeit bei ihr in Göttingen gelebt und dort auch studiert. Und nun war er vor ein paar Monaten doch heimgekehrt, hatte zunächst einmal das Gröbste renoviert und ein, zwei Räume wieder wohnlich gemacht. Und sofort war er abermals zum Eigenbrötler geworden. Er konnte sehr gut allein sein, hatte an niemanden Erwartungen, und darin lag seine Stärke. Menschen waren für ihn austauschbar. Ihre Bestrebungen und Sehnsüchte waren so leicht vorauszusehen und blieben ihm fremd. Wenn er an einem seiner Projekte arbeitete – dem Buch und der elektronischen Konstruktion –, vergaß er sich und die übrige Welt. Einsamkeit und höchste Konzentration waren Voraussetzung für diese Arbeit und eine gewisse Unschuld, die jedoch nur spürbar war, wenn er es fertigbrachte, selbst hinter die Sache zurückzutreten und einfach nur ihr Werkzeug zu sein.

Doch es gab auch jene Tage, an denen er es nicht aushielt und etwas in ihm nach Teilnahme schrie, selbst wenn es ein noch so banales Miteinander wäre, das nur einen winzigen Abglanz von Gemeinsamkeit in sich trüge. Ja, es gab diese Tage … für die er sich verachtete. Aber heute war mit einem Mal die Sonne hinter den Wolken hervorgebrochen, und nichts in ihm protestierte dagegen oder machte sich lustig.

Er fuhr über Land, genoss die abendliche Brise, die schon nach Herbst roch und dabei seine Haare angenehm durcheinanderwirbelte. Und plötzlich fühlte er sich frei und lebendig. Den Wind im Haar, wurde er immer mutiger und verspürte fast so etwas wie Glück. Sollte es möglich sein, dass es auch für ihn … Leichtigkeit und Freude geben könnte? Die Bäume, Felder, Häuser flogen an ihm vorbei, und alles, alles fand er schön und genau richtig so, wie es war. Warum nur war er immer so zynisch und abschätzig anderen gegenüber? Wie hatte er so lange blind sein können für all die Schönheit? Er berührte seine Lippen, strich beinahe zärtlich mit zwei Fingern darüber, als wolle er erkunden, wie sich sein lächelnder Mund anfühlte, so ungewohnt war ihm dieser Zustand. Und für einen Moment sah er diese Frau von den Ballettproben vor sich – Britta –, wie sie ihm einladend zuwinkte, nach vorne zu kommen, und er … er hatte nicht länger gezögert, sich nicht mehr mit Fragen gemartert, sondern war einfach zu ihr gegangen. Beinahe war er stolz auf sich.

Von Weitem sah er die kleine Waldschneise, den Weg, der zu seinem Gehöft führte, und seine Stimmung wurde verhaltener. Wenn er Gedanken an seinen Vater zuließ, legte sich sogleich ein dunkler Schleier über dessen Haus. Als er in den Hof einbog und das Motorrad abstellte, war die Freude fast vergangen. Selbst als Cara auf ihn zuflog, begrüßte er sie heute nur flüchtig, er wollte sich nur noch verkriechen. Sein Schritt beschleunigte sich, als er den Brunnen passierte und ins Haus huschte. Wenn man hereinkam, stand man gleich in einer großen Wohnküche mit Herd und Ofen und Holzmöbeln. Obwohl die Tür hoch genug war, duckte er sich wie aus alter Gewohnheit … Er hatte unten bis auf die Küche alles so gelassen, wie es sein Vater eingerichtet hatte. Schnell durchquerte er den Flur und stieg die Treppe hinauf in sein Refugium. Er ging über die knarrenden Bodenpaneelen zu der Tür am Ende des Flurs, schloss sie auf und verschwand dahinter.

*

Es landete direkt auf seinem Tisch. Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit beendet. Kommissar Frank öffnete den Plastikbeutel und holte behutsam den Origami-Kranich heraus. Warum hatte der Mörder ausgerechnet die Farbe Gelb gewählt, ob das eine Bedeutung hatte? Er betrachtete das kleine Kunstwerk von allen Seiten und faltete es dann auseinander, strich den Papierbogen mit seinen Händen glatt und legte ihn vor sich auf die Schreibtischplatte.

Dabei fühlte er eine Unebenheit des Papiers und besah es sich noch einmal ganz genau. Die Linie einer Zeichnung hatte sich durchgedrückt, die offenbar jemand auf dem Blatt darüber ausgeführt hatte. Sofort war Hartmut hellwach. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Alles um ihn herum versank ins Unwesentliche, nur der Schreibtisch existierte, nur dieses Stück Papier. Immer wieder befühlte er es, hielt es gegen das Licht, dann schraffierte er mit einem Bleistift den Mittelbereich des Origamiblattes, und es schälte sich eine geschwungene Linie heraus. Sie sagte ihm erst einmal gar nichts. Enttäuscht schob er das Blatt beiseite. Doch sie musste eine Bedeutung haben, auch wenn er die zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht erkannte. Heute würde er hier nicht weiterkommen.

 

Amelung streckte den Kopf zur Tür herein: „Hartmut, hast du gerade Zeit?“

Erleichtert atmete Hartmut auf, das kam ja wirklich im rechten Augenblick: „Klar, worum geht’s?“

„Ich fahre zu Maria Marquardt, der Falknerin, hast du Lust mitzukommen?“

„Klar komm ich mit.“ Hartmut griff sich seine Jacke.

Maria Marquardt arbeitete im Zoo des Cuxhavener Kurparks, wohnte auch ganz in der Nähe in Döse, und offenbar teilte sie mit Amelung die Leidenschaft für gutes Essen, denn sie hatten sich im Gasthaus Behrens verabredet, das leicht vom Ort aus zu erreichen war, aber auch Spaziergängern eine angenehme Rast bot, denn es lag direkt am Deich mit Blick auf Strand und Nordsee. Hartmut war ewig nicht dort gewesen, und er genoss die Behaglichkeit, die ihnen entgegenschlug, als sie das Lokal betraten, die gut bestückte Bar passierten und sich im großen Gastraum an einem Fenstertisch niederließen.

„Kannst du mir vielleicht zwei Takte über Frau Marquardt sagen, damit ich ein Bild habe?“

Eine schlanke, kurzhaarige Frau kam durch die Tür, offenbar von der Toilette, umarmte Amelung von hinten und küsste ihn vernehmlich auf die Wange, was dieser sich nur zu gern gefallen ließ, dabei grinste sie den Kommissar an: „Die paar Takte übernehme ich doch lieber selbst. Was wollen Sie denn wissen?“

„Oh“, lachte Hartmut, „ertappt. Alles!“

„Ich arbeite im Zoo im Kurpark, nun schon im sechsten Jahr. Das ist zwar nur ein relativ kleiner mit ungefähr 250 Tieren, aber es gibt dort viele verschiedene Vogelarten, Pinguine, Uhus, Störche, Watvögel, Basstölpel. Und Vögel sind nun mal meine Leidenschaft, natürlich eher der Bussard, Habicht oder ein Falke.“

„Basstölpel“, konnte sich Amelung die Frage nicht verkneifen, „haben die etwas zu tun mit dem Spotttölpel aus Tribute von Panem?“

„Du wieder“, Maria Marquardt grinste, „Spotttölpel gibt es doch nur in diesem Film und dem Roman dazu, eine geniale Erfindung, nah an der Realität, aber eben mit einer besonderen Eigenschaft ausgestattet.“

„Schade“, grummelte Amelung vor sich hin.

„Dann ist die Falknerei eher Ihr Privatvergnügen?“, versuchte Hartmut bei der Sache zu bleiben.

„Sagen wir mal, es ist eine Nebentätigkeit“, erklärte Frau Marquardt, „Sie können mich gerne einmal zu Hause besuchen, ich habe ein eigenes Gehege mit einem Bussard und zwei Falken …“

„Und es waren schon mehr als einmal Leute vom Fernsehen bei ihr, die ihren Rat eingeholt haben“, fiel Amelung seiner Bekannten eifrig ins Wort.

„Okay, okay“, ruderte Hartmut zurück, „ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Sie genau die Richtige für uns sind und uns mit Sicherheit ein paar Fragen beantworten können, die uns unter den Nägeln brennen.“

Gespannt wandte sich Frau Marquardt ihm zu.

„Es betrifft unseren aktuellen Fall. Sie haben doch bestimmt von dem Mord in Otterndorf gehört?“ Sie nickte. „Wir haben versucht, die genauen Umstände geheim zu halten, aber es ist bereits genug durchgesickert. Ein Mann wurde durch etliche Bisswunden getötet, und einige Zeugen beschreiben einen großen Vogel als Täter.“

„Einen Vogel“, wiederholte Maria ungläubig, „sehr ungewöhnlich.“

„Es wird noch doller“, setzte Amelung hinzu, „es soll ein riesiger Kranich gewesen sein.“

„Waas?“, rief Maria aus, „das kann ich mir nicht vorstellen. Kraniche sind keine Raubvögel, sie greifen nicht an, verteidigen sich nur, sich und ihre Brut, vielleicht noch das Fressen, wenn es rar ist.“

„Ja, das haben wir uns ja auch gedacht. Aber eine Kollegin kam auf den Gedanken, ob man einen Kranich wohl abrichten könne, so etwas zu tun?“

Maria Marquardt verschluckte sich fast. Lächelte nachsichtig: „Nein. Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich würde sagen, es ist unmöglich. Bei Falken und Adlern da gibt es diverse Geschichten, auch eher im Bereich aufgebausch­ter Histörchen, doch das wäre noch eher vorstellbar, da es in der Natur des Vogels liegt. Sie greifen auch schon mal an, und wenn man sie abrichtet, ist da wohl einiges zu bewerkstelligen. Aber ein Kranich, nein – da muss ich Ihnen einen Korb geben.“

„Und was ist mit der Beizjagd?“

„Ja, das meinte ich doch eben. Falken, Sperber, Habichte, in Zentralasien auch die Weibchen des Steinadlers, klar werden die zur Jagd abgerichtet. Aber sie jagen und greifen das Wild, halten es in der Regel mit ihren Klauen fest, bis die Hunde kommen, töten es nicht unbedingt.“

„Wäre es möglich, sie auch aufs Zubeißen zu trainieren?“

„Möglich wäre es, aber auf Menschen … ich weiß nicht, ich glaube, Sie sollten sich einen anderen Mörder suchen. Doch … unmöglich ist gar nichts.“

Das hatte sich Hartmut im Grunde eigentlich alles selbst schon gedacht, und er fühlte sich von der Falknerin nur noch einmal bestätigt. Aber das würde natürlich bedeuten, dass er einen neuen Ansatz brauchte.

*

Liz blätterte ihre Aufzeichnungen durch. Ein brutaler Mord um Mitternacht in Otterndorf. Ein Junge behauptet, die Tat sei von einem Kranich verübt worden, auch andere hatten einen Vogel davonfliegen sehen. Der Arzt wollte sich nicht festlegen, das Ergebnis der DNA-Überprüfung stand noch aus, es gab keine Fußspuren im Blut der Leiche. Ein seltsamer Fall. Welche Richtung ihre Gedanken auch einschlugen, es war Zeitvergeudung zum gegenwärtigen Zeitpunkt, hin- und her zu spekulieren, sie brauchte noch einige Untersuchungsergebnisse, und die dürften ja am nächsten Tag bereitliegen. Also zog sie ihr Tablet aus der Tasche und gab auf gut Glück Kranich und Otterndorf ins Suchprogramm ein. Denn bisher war Otterndorf für sie nicht mehr als ein kleiner Ort an der Elbe gewesen.

Sofort prangte ihr das Otterndorfer Kranichhaus entgegen. Ein über 400 Jahre altes Bauwerk in der Dorfmitte, das heute das Museum des alten Landes Hadeln beherbergte. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts residierte der Gewürzhändler Radiek in dem Haus, das seine Witwe Elisabeth – die ihren Mann um 40 Jahre überlebte – zu einem kleinen Salz-, Gewürz- und Weinimperium ausweitete. Sie gab auch die herrlichen Stuckdecken und die barocke Fassade in Auftrag und ließ den Kranich mit einer vergoldeten Kugel in der Kralle am First des Gebäudes aufstellen.

Das muss eine interessante Frau gewesen sein, überlegte Liz, sich in einer solchen Zeit mit eigenwilligen Vorstellungen durchzusetzen war bestimmt nicht leicht gewesen. Also war der Kranich 1764 zum ersten Mal im Zusammenhang mit diesem Haus aufgetaucht und hatte ihm auch den Namen gegeben. Sie überflog viel Geschichtliches, immer auf der Suche nach weiteren Informationen über den Kranich.

Hier … war wieder etwas, beinahe hätte sie es übersehen: Der Kranich galt als Symbol der Wachsamkeit, das ging wohl auf Plinius zurück, der berichtete, dass einzelne Vögel die Kranichschwärme während der Nacht bewachten und dabei einen Stein in der Klaue hielten, der sie am Schlafen hinderte, da sie aufwachten, wenn der Stein nach unten fiel. Nicht schlecht, Liz schmunzelte und dachte sofort an eine ihr bekannte Zen-Geschichte, in der die Meditierenden nachts direkt am Abhang saßen, immer in der Gefahr, in den Tod zu stürzen, sollten sie einnicken. Das war ja dann noch ein bisschen drastischer.

„Der Kranich hält den Stein, des Schlafs sich zu erwehren. Wer sich dem Schlaf ergibt, kommt nie zu Gut und Ehren.“

Diese Inschrift soll in einem Balken des Giebels verewigt sein. Weiter unten fand Liz dann noch eine Sage, die sich ums Kranichhaus rankte. Der Kranich auf dem Dachfirst erwache jede Nacht um zwölf mit dem ersten Schlag der Kirchturmuhr, werfe seinem kleineren Artgenossen über der Haustür seine in den Krallen gehaltene Kugel zu, die dieser auffange und zurückwerfe. Schlag Mitternacht halte der obere Kranich die Kugel wieder fest in seiner Klaue.