Mörderischer Galopp

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Sari: Vera Roth #1
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5

„Sorry, habe bis heute Abend zu tun“. Als ich Montagfrüh nach Hause kam, lag der Zettel auf dem Küchentisch. Ich hatte den Nachtzug genommen, weil ich noch vor der Arbeit zu Nine hinausfahren wollte. Der mysteriöse Anruf mit dem Pferdewiehern klang mir immer noch im Ohr, ich musste einfach so schnell wie möglich nach dem Rechten sehen.

Vor kurzem noch wäre ich enttäuscht gewesen, dass er bei meiner Ankunft nicht zuhause war, aber jetzt spürte ich so etwas wie Erleichterung, ich brauchte auf niemanden Rücksicht zu nehmen und konnte gleich in den Stall fahren. Das Büro konnte warten bis heute Nachmittag, dachte ich, schließlich hatte ich in Berlin einige Überstunden im Archiv abgesessen.

Es war kurz vor 10 Uhr, der morgendliche Stau auf der Berliner Straße und der Ernst-Walzbrücke hatte sich schon lange aufgelöst. Es war, als hätten alle Ampeln für mich eine grüne Welle eingestellt, nirgendwo musste ich anhalten. Für die touristischen Attraktionen unserer Stadt hatte ich keinen Blick, das Schloss lag ohnehin breit und behäbig wie immer auf seinem Hügel über dem Neckar und würde auch morgen nichts an seiner Lage verändert haben. Ich wollte nur eines – so schnell wie möglich zum Leierhof kommen, um Nine zu begrüßen.

Doch die Erste, die gleich, als ich aus dem Auto stieg, auf mich zukam, war Carmen

„Alles ist gut gegangen“, sagte sie strahlend. „Nine-Days-Wonder“ – sie betonte jedes einzelne Wort und bemühte sich um eine korrekte Aussprache – „ist richtig lieb gewesen. Echt! Du kannst öfter mal verreisen. Nine ist ein Schatz, eine süße Maus, ach Quatsch – ein Goldpferd.“

Ich wusste nicht, worüber ich mich mehr wundern sollte – darüber, dass Nine angeblich so brav war, oder darüber, dass Carmen ohne irgendwelche Umstände zum „Du“ übergegangen war.

„Und Nine hat mich wirklich nicht vermisst?“ fragte ich vorsichtig.

„Nein“, sagte sie. „Soll ich Nine gleich nach deiner Reitstunde absatteln?“

Ich schaute sie wortlos an und schüttelte den Kopf. Was sollte diese Frage? Hilfe beim Absatteln? Wofür hielt sie mich eigentlich? Da gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder für total vergreist oder für eine Anfängerin.

„Absatteln kann ich allein.“

Gleich darauf bereute ich meinen unfreundlichen Ton – was hatte Carmen mir eigentlich getan? Sie hatte mir doch nur geholfen, und geleistete Hilfe erforderte Dank.

„Ich melde mich wieder bei dir“, sagte ich, aber Carmen hatte sich schon umgedreht.

Nine stand gleichgültig in ihrer Box und kaute beharrlich an ihrem Heu. Kaum hatte ich sie am Putzplatz angebunden, ließ sie beide Ohren schlapp herunterhängen, entlastete den rechten Hinterfuß und fing an zu dösen. Ich striegelte ihr Fell, es kam mir merkwürdig matt vor. Aber was war das? In der Mitte des Halses entdeckte ich ein kleines kahlgeschorenes Viereck, als hätte da einer die Schärfe seines Rasiermessers ausprobiert. Vor meiner Abreise hatte Nine diese Stelle noch nicht gehabt. Ich schaute mich nach Carmen um, aber ich sah nur ihre beiden Freundinnen Penny und Mascha rauchend in der Sonne stehen. Als ich ihnen die Stelle zeigte, schauten sich die beiden vielsagend an und zuckten die Achseln. Immerhin ließ sich Penny dazu herab, mit dem Zeigefinger über das kleine Viereck zu streichen.

„Mindestens fünf Tage alt“, sagte sie mit einem unbewegten Gesichtsausdruck, der sehr professionell wirkte.

„Wir müssen los!“ Die beiden Mädchen drehten sich um und flöteten mir ein zuckersüßes ‚Tschü-üü-ss’ zu. Ich kam mir ziemlich blöde vor, weil ich mir sicher war, dass die beiden etwas vor mir verbargen. Was es war, würde ich nicht herausbekommen, sie hielten doch zusammen wie Pech und Schwefel. Wo steckte eigentlich Carmen? Sie war wie vom Erdboden verschwunden, wenn ich sie einmal brauchte, war sie nicht zu finden! Ich schaute auf die Uhr und bekam einen Schreck – es war zehn Minuten vor 12 Uhr. Um 12 hatte ich eine Reitstunde mit Roberto Kraus verabredet.

Schon von weitem hörte ich die Kommandos. Ich erkannte die Reiterin sofort wieder. Sie übte die gleiche Dressuraufgabe wie bei meinem ersten Besuch auf dem Leierhof. Und genau wie damals verspannte sich das Pferd bei den fliegenden Galoppwechseln vor dem Umspringen auf die linke Seite. Auch an die Dogge, die laut bellend um das Pferd herumgesprungen war, erinnerte ich mich genau.

„Marga, den Galoppwechsel nur denken – versuch’s noch ein Mal.“

Sie heißt also Marga, dachte ich.

Marga ritt im versammelten Galopp durch die ganze Bahn. Kurz vor dem Wechselpunkt zögerte der Wallach.

„Genug für heute“, sagte Kraus, der mich am Eingang warten sah.

„Kann man denn hier überhaupt nicht mehr in Ruhe arbeiten – dauernd kommt jemand dazwischen!“ Damit war ich gemeint. „Wo ist eigentlich Karlchen?“, schrie sie und stieß einen Pfiff aus, der mir im Trommelfell schmerzte.

„Der Eingang ist frei“, rief der Reitlehrer mir zu.

Marga, die ihre Runden trabte und erfolglos nach ihrem Hund Karlchen rief, warf mir giftige Blicke zu und ignorierte beharrlich mein ‚Guten Morgen’. Roberto Kraus begrüßte mich mit Handschlag und tätschelte Nine den Hals. Er sieht unverschämt gut aus, durchfuhr es mich, als ich ihm in die braunen Augen sah. Es fehlte gerade noch, dass ich rot wurde, aber glücklicherweise hatte ich dazu gar keine Zeit.

„Alles wieder in Ordnung, hoffe ich?“

Ohne meine Antwort abzuwarten, begann er mit dem Unterricht.

Nine setzte sich richtig in Szene – sie machte ihren Hals krumm, warf die Vorderbeine, dass es eine Freude war und trat mindestens zwei Handbreit unter. Roberto Kraus war begeistert.

„Eine Nerwa-Tocher, ohne Zweifel“, sagte er anerkennend. Natürlich bezog ich das Lob auf mich – ich war darüber so froh, dass ich mich gar nicht fragte, woher der Reitlehrer eigentlich die Abstammung meiner Stute kannte – außer mit Carmen hatte ich doch mit niemandem sonst darüber gesprochen. Aber warum sollte ich mir unnötig den Kopf zerbrechen – wichtiger war doch, dass ich nach unserer ersten Vorstellung von ihm als Reitschülerin akzeptiert war.

„Mittwochs um neun Uhr – wenn es Ihnen passt. Oder wollen wir nicht lieber „Du“ sagen? Komme bitte fünf Minuten später, du solltest es dir nicht mit Marga verderben!“

Natürlich sagte ich sofort zu allem ‚Ja“’. Ich kam mir richtig geschmeichelt vor. Der Mann war ein richtiger Profi, der etwas von Pferden verstand, aber noch während ich so dachte, hörte ich eine mir wohlbekannte innere Stimme, die mich mit der Frage nervte – vielleicht versteht er nicht nur was von Pferden, sondern auch von Frauen? Glücklicherweise gelang es mir auffällig schnell, diese Stimme abzustellen. Doch dann bildete sich sofort eine neue Frage: Was hatte Kraus eigentlich mit ‚alles wieder in Ordnung’ gemeint?

„Na, ob sich Nine wieder von ihrer Kolik erholt hat!“

„Von welcher Kolik?“

Roberto schüttelte ungläubig den Kopf: „Das weißt du nicht?“

„Ich war auf Dienstreise.“ Ich spürte ein schlechtes Gewissen, obwohl ich gar nicht wusste, warum eigentlich, aber aus Robertos Tonfall hatte ich jede Menge unausgesprochener Vorwürfe herausgehört.

„Warum hat Carmen mir nichts davon erzählt?“, sagte ich ärgerlich. Roberto Kraus zuckte die Achseln: „Es ist doch alles noch mal gut gegangen“, sagte er. Auf einmal schien der Reitlehrer den Vorfall nicht mehr besonders ernst zu nehmen. Nine also auch, dachte ich. Jetzt fängt es bei Nine an. Was dieses ‚es“’ bedeutete, wusste ich nicht, ich fühlte nur, wie meine anfängliche Wut einer mir unbekannten Bangigkeit wich. Ich hatte doch selbst miterlebt, wie Windspell an einer Kolik zugrunde gegangen war, es war mir, als sähe ich das große Pferd wieder in seiner Box auf dem nassen, zerwühlten Stroh liegen und röcheln. Ich musste mich schütteln, um die schrecklichen Bilder loszuwerden. Doch dann sagte ich mir: Nine lebt doch und Koliken waren anscheinend gar nicht so selten wie ich bisher geglaubt hatte.

In der Sattelkammer traf ich Marga.

„Willkommen auf dem Leierhof“, sagte sie mit einem frostigen Lächeln. „Sie nehmen Unterricht bei Roberto?“

„Ja“, antwortete ich freudig. „Nine hat ihm gefallen, glaube ich.“

Marga sah mich spöttisch an. „So? – Glauben Sie? Sie haben Glück, dass es Ihrer Stute wieder gut geht und noch mehr Glück, dass Roberto Sie als Schülerin angenommen hat. Normalerweise gibt er keinen Anfängerunterricht.“

Ich schluckte, meine gute Stimmung war jetzt vollends verflogen. Ich hatte den Eindruck, dass jede X-Beliebige auf dem Leierhof über Nine besser Bescheid wusste als ich und, was noch schlimmer war, – sie hielten mich für unverantwortlich – ich war sozusagen eine Rabenmutter! Und dass Marga ‚Anfängerin’ zu mir gesagt hatte, machte mich richtig wütend. Sie kannte mich doch überhaupt nicht! Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, pfiff Marga nach ihrem Hund. Sie winkte mir kurz zu: „Ich hab’s eilig – wir reden ein anderes Mal miteinander!“

Carmen hatte die ganze Zeit draußen am Putzplatz gestanden und unser Gespräch mitangehört. Mein Zorn auf sie war plötzlich verflogen, ich war froh, dass ich mit ihr ein paar Worte wechseln konnte.

„Carmen, habe ich vielleicht was falsch gemacht – hätte ich Nine wirklich nicht alleine lassen sollen?“

Carmen beruhigte mich: „Vergiss es“, sagte sie. Sie zeigte abwechselnd auf ihr rechtes Ohr: „Da rein“ – und auf ihr linkes: Da raus“, sagte sie grinsend. „Und überhaupt – Marga sollte lieber ihren Mund halten.“

 

Ich verstand ihre Anspielung nicht und schaute sie fragend an. Darauf hatte Carmen nur gewartet.

„Hast du eigentlich mitbekommen, dass Karlchen wie von der Bildfläche verschwunden ist?“

„Nein“, sagte ich. Aber dann fiel mir ein, dass Marga mehrmals erfolglos nach ihm gerufen und ich seinen Ungehorsam insgeheim auf Margas inkonsequente Erziehung geschoben hatte.

„Im Stall gibt es die wildesten Gerüchte“, fuhr Carmen fort. „Es geht um Iwan. Nichts gegen Russen, aber Iwan kann Hunde nicht leiden – irgendwie verständlich, denn schließlich muss er die Anlage sauber halten und Hundekot stinkt. Er soll Kontakte zu der Hundefängermafia haben. Sie fangen Rassehunde, betäuben sie und verkaufen sie dann für teures Geld übers Internet. Oder – noch schlimmer – wenn sie sich nicht verkaufen lassen, kommen sie in den Fleischwolf – Tierfutter!“

Carmen redete so schnell, dass ich überhaupt nicht dazu kam, mein eigentliches Anliegen zur Sprache zu bringen – warum Nine eigentlich diese Kolik bekommen hatte, wollte ich sie fragen – da gab es doch sicherlich einen Grund? Oder war ich doch die Schuldige, vielleicht hätte ich wirklich nicht so lange wegfahren dürfen? Gerade als ich meinen Mund aufmachen wollte, sagte Carmen: „Vera, ich muss los – wir sehen uns später“, und verschwand in Richtung Reiterstübchen.

Für mich wurde es auch höchste Zeit, dass ich fort kam. Ich wollte nur noch einmal bei Nine vorbeischauen, um mich von ihr zu verabschieden. Als ich gerade die Boxentür zurückschieben wollte, hörte ich auf der Stallgasse ein Geräusch, als ob jemand ein Gitter aufgemacht und schnell wieder zugeschoben hätte. Ich drehte mich um, konnte aber niemanden entdecken, das kam mir irgendwie merkwürdig vor. Ich ging zu Taxos Box hinüber und blieb abrupt stehen. Mitten in der Box stand Iwan. Offensichtlich hatte ich ihn daran gehindert, die Box zu verlassen. Doch er wirkte überhaupt nicht verlegen. Wie eine Art Trophäe hielt er ein paar Schlaufzügel und einen Gurt in die Höhe: „Unglaublich, was die Leute alles in ihrer Box vergessen!“, sagte er. „Sogar sogenannte Turnierreiterinnen“, fügte er mit einem unverschämten Lächeln hinzu und verschwand in Richtung Sattelkammer.

Er meinte Marga, das war mir klar, aber ich hatte sie immer als ausgesprochen ordentlich empfunden. Sie achtete auf ihr Sattelzeug wie auf ihren Augapfel, es kam mir merkwürdig vor, dass sie ihre Hilfszügel im Stall liegen ließ. Und seit wann ritt Marga überhaupt mit Schlaufzügeln? Ob ihr Roberto empfohlen hatte, sie einzuschnallen? Nachdenklich ging ich zu Nine zurück. Sie brummelte mir freundlich zu, mit ihr schien alles in Ordnung zu sein. Ich atmete auf, jetzt aber durfte ich wirklich keine Zeit mehr verlieren und musste mich schnell auf den Heimweg machen.


6

Meine Reisetasche stand nachmittags noch immer unausgepackt im Flur, in der Küche quoll der Müll aus dem Plastikeimer und in den Kaffeetassen hatte sich der Milchschaum zu einer bräunlichen Kruste eingedickt. Von Gerson fehlte jede Spur. Meine Laune war so mies, dass ich beschloss, erst einmal zu duschen. Ich ließ mir das heiße Wasser über Kopf und Schultern rinnen und dachte an Sven – ob er mit seiner Bina glücklich war? Er hatte überhaupt nichts von ihr erzählt, aber ich hatte ihn ja auch gar nicht nach ihr gefragt. Wo hatten sie sich eigentlich kennen gelernt? Bestimmt nicht im Kino, wie Gerson und ich.

Wir hatten uns ein paar Mal bei Bekannten gesehen, kannten uns aber nicht so gut, dass wir uns zum Kino verabredet hätten. Und dann saßen wir zufällig nebeneinander in: „All die schönen Pferde“, von Billy Bob Thornton. Ich hatte den Roman von Cormack Mc Carthy gelesen und war neugierig auf die Verfilmung – dass Gerson sich für diesen Film interessierte, hätte ich nie gedacht. Ungefähr in der Mitte, an der Stelle, als John Grady die Ausritte mit Alejandra beginnt, und sie Seite an Seite durchs weiße Mondlicht reiten, ohne Sattel und nur mit Strickhalfter, hatte ich meinen Kopf unwillkürlich zu Gerson gedreht und sein Gesicht von der Seite angeschaut. Im Gegenlicht sah ich sein markantes Profil, seine scharf geschnittene Nase und seine schöngeformten Lippen. In diesem Augenblick hatte er nach meiner Hand gegriffen und sie den ganzen Film über nicht mehr losgelassen.

Meine Gedanken schweiften wieder zu Sven – ob ich mir demnächst in Berlin ein neues Quartier würde suchen müssen?

Als ich mir die Haare fönte, hörte ich den Anrufbeantworter und erkannte die Stimme von Prof. Mäuslers Sekretärin.

„Frau Roth, melden Sie sich sofort! Frau Prof. Mäusler hat nach Ihnen gefragt. Es ist dringend.“ Die Sekretärin sprach von unserer Chefin immer mit vollem Titel, während sie meinen Doktorgrad natürlich nie erwähnte. Ich benötigte noch die Imprimatur, hatte sie mir kürzlich von oben herab verkündet. Und dafür war meine Chefin zuständig, erst wenn sie ihr Placet gab, konnte ich meine Diss. aufs Netz legen und ein Dr. vor meinen Namen setzen. Aber das war mir eigentlich ziemlich einerlei. Im Grunde bedeutete dieser Titel doch nur, dass jemand länger als andere Menschen kostbare Lebenszeit hinter Büchern vertan hatte, dachte ich patzig.

Mit dem Fahrrad brauchte ich nur eine Viertelstunde bis in die Altstadt. Ich radelte die Ziegelhäuserlandstraße entlang, ein frischer Wind fuhr mir in die Haare, die Sonnenstrahlen tauchten den Sandstein der Alten Brücke in ein tiefes Orange, am liebsten wäre ich einfach weiter geradeaus den Fluss entlang geradelt, aber ich gab diesem Impuls nicht nach und bog auf die Brücke ab.

Wenig später saß ich in Prof. Mäuslers Büro und berichtete über meine Berliner Archiv-Funde – sage und schreibe 50 Adoptionsurkunden. Doch wenn ich geglaubt hatte, dass meine Chefin ein Wort des Lobes oder der Anerkennung für mich bereit hatte, dann hatte ich mich getäuscht. Sie interessierte sich für die Akten, das war alles – wann und wo die Urkunden ausgestellt worden seien, jede einzeln. Prof. Mäusler steckte sich eine Zigarette an und blies mir geistesabwesend den Rauch in die Nase. Ich hustete, aber die Mäusler inhalierte noch tiefer und atmete genüsslich aus. Ich vertröstete sie auf die Kopien, die ich in Auftrag gegeben hatte und die uns demnächst zugeschickt würden.

„Beim nächsten Mal machen Sie sich genaue Notizen“, sagte sie. „Stellen Sie sich vor, die Post geht verloren oder die Sendung fällt einem Unbefugten in die Hände.“

Ich versuchte, mich aus der Qualmwolke zu drehen und zuckte bedauernd die Schultern.

Prof. Mäusler wandte sich dem Poststapel auf ihrem Schreibtisch zu. „Wir sprechen uns, sobald mir die Akten vorliegen.“ Unsere Unterredung war beendet.

Auf dem Flur traf ich Helmut. Er promovierte seit kurzem auf einer halben Stelle als geprüfte Hilfskraft und betrachtete sich als rechte Hand unserer Chefin. Er verbrachte die meiste Zeit an seinem Schreibtisch im Büro oder in der Bibliothek, war blass wie ein Leintuch und ungefähr einen Zentimeter kleiner als ich, obwohl ich mit meinen 1,68 cm auch nicht gerade zu den Bohnenstangen gehörte. Aber seitdem er die Stelle hatte, schien er gewachsen zu sein. Wenigstens kam es mir gerade heute so vor.

„Warum hast du dich eigentlich nicht zurückgemeldet?“

Ob Helmut anfangen wollte mir hinterher zu spionieren? Es ging ihn doch überhaupt nichts an, ob und wann ich nach einer Dienstreise im Büro auftauchte, dachte ich. Eine andere Angewohnheit von ihm war noch störender – die Gespräche mit ihm zwischen Tür und Angel oder auf dem zugigen Institutsflur hatten die Tendenz sich auszudehnen. Für einen kleinen Schwatz war er immer zu haben, während ich Fluchtgedanken entwickelte, sobald ich ihn sah.

„Ich muss ganz schnell ins Uniarchiv – ans Lesegerät“, log ich.

Aber Helmut stellte sich mir in den Weg. „Einen Augenblick“, sagte er. Er nahm seine Brille ab, die er sich ins Haar geschoben hatte und schaute mich triumphierend an.

„Ich weiß nicht, ob es dir Prof. Mäusler schon gesagt hat?“

Ich brauchte nicht lange herumzurätseln, die Botschaft war klar – die Chefin hatte nicht mir die Neuigkeit mitgeteilt, sondern Helmut.

„Was hat sie gesagt?“

„Dass wir zusammen ein Arbeitszimmer bekommen – genau gegenüber von Frau Norden, ihrer Sekretärin.“

„Oh nein!“, entfuhr es mir.

Aber Helmut war viel zu begeistert, als dass er meinen entsetzten Aufschrei gehört hätte.

„Ist das nicht toll – ein Zimmer nur für uns – wir müssen uns nur noch einigen, wie wir die Schreibtische aufteilen.“

„Gut! Helmut, wir sehen uns“, sagte ich ziemlich kurz.

„Aber willst du dir das Zimmer nicht erst mal ansehen?“

Ich winkte ab. „Später, Helmut.“

Ich brauchte frische Luft und zwar sofort. Draußen vor der Tür empfing mich gleißendes Licht. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich meine Augen nach dem dusteren Licht im Flur des Institutgebäudes an die Helligkeit gewöhnten. Kein Wunder, dachte ich, dass die Mäusler mir mein Dienstzimmer nicht gezeigt hatte. Sie hatte es Helmut versprochen, obwohl er nur Hiwi war und für Hiwis am Institut ein eigener Raum zur Verfügung stand. Eine Frechheit, dachte ich, immerhin bin ich die wissenschaftliche Angestellte. In diesem Augenblick hätte ich viel darum gegeben, wenn ich mich von Helmut mit meinem Titel hätte ansprechen lassen können, aber nicht einmal damit konnte ich punkten! Und außerdem – was hätte er sagen sollen – Dr. Vera etwa? Wir duzten uns doch! Ich kam mir betrogen vor und mein Kopf fühlte sich an wie von einer dicken Watteschicht umgeben. Auf dem Universitätsplatz drehte sich ein auf antik getrimmtes Karussell mit Pferden, Wägelchen und einem weißen Elefanten, aber meine Stimmung hellte sich davon nicht auf. Ich lief zwischen den Buden, die Zuckerwatte und gebrannte Mandeln verkauften, Richtung Hauptstraße. An der Ecke lag mein Lieblingscafé, das „Starcafé“. Gerson wartete bestimmt schon auf mich, aber jetzt brauchte ich erst einmal einen Cappucino.


7

Glücklicherweise hatte ich am nächsten Tag frei, doch die Stimmung auf dem Leierhof war auch nicht dazu angetan, meine Laune zu verbessern. Immerhin betraf das Gerede diesmal nicht mich.

Als ich nachmittags mit Sattel und Trense überm Arm aus der Sattelkammer kam, versperrten mir Carmen und Liberty den Weg. Sie standen vor der Tür und palaverten so hitzig, dass sie mich überhaupt nicht wahrnahmen. Liberty schien ganz besonders geladen zu sein.

„Ich wundere mich überhaupt nicht – das hätte doch jeder hier passieren können!“, sagte sie.

Carmen schüttelte heftig ihren Bubikopf – alles, was von Liberty kam, regte ihren Widerspruchsgeist an, das hatte ich schon einmal beobachtet.

„Quatsch – so einfach wirft dich ein Pferd nicht ab.“

„Natürlich nicht!“ Mit jedem Wort wurde Liberty zorniger.

„Ich stimme dir zu – buckeln hat immer einen Grund – eine Verspannung, ein Schmerz, eine harte, unnachgiebige Hand zum Beispiel.“

Aber Carmen, die die unausgesprochene Kritik hinter Libertys Worten fühlte, widersprach heftig: „Du hast gut reden – Taxos macht auf der linken Hand immer Taktfehler – soll sie da etwa die Zügel wegwerfen?“

„Ich habe sie gewarnt, warum setzt sie sich immer wieder auf ein buckelndes Pferd?“

Jetzt erst bemerkten mich die beiden, sie nickten mir kurz zu, ohne mir auch nur einen Zentimeter auszuweichen.

„Es ist die Dressurreiterei“, sagte Liberty erregt. Sie mühte sich mit den „Rs“ ab, was ihrer forsch vorgetragenen Behauptung etwas Gequältes gab.

„Ihr macht es doch alle gleich – zerrt eurem Pferd im Maul, haltet es vorne fest und traktiert es mit den Sporen. Schrecklich! Jedenfalls hat Taxos erst mal Ruhe.“

Merkwürdigerweise widersprach Carmen jetzt nicht mehr. „Marga hat Glück gehabt – bei diesem Sturz hätte sie sich das Genick brechen können“, sagte sie nachdenklich. „Eigentlich tut sie mir leid – sie hat nur Pech gehabt in letzter Zeit. Übermorgen wollte sie auf dem Turnier die Dressurprüfung gewinnen!“

„Hat sie sich verletzt?“, fragte ich. Plötzlich spürte ich ein flaues Gefühl im Magen – ich wusste nicht recht, ob es mit Marga zu tun hatte, ich kannte sie ja kaum und hatte bisher nur ein paar Worte mit ihr gewechselt. Ob ich vielleicht selbst Angst hatte, abgeworfen zu werden?

 

„Nein – Marga geht es gut – aber Taxos hat sich eine Sehne gezerrt“, sagte Liberty, aber außer Mitleid mit dem Pferd schwang auch noch ein anderer Ton mit, den ich nicht so recht zu deuten wusste. Freundlich kam er mir jedenfalls nicht vor, eher verächtlich und arrogant. Liberty gab sich den Anschein, als habe sie das ganze Unglück kommen sehen, aber da niemand auf sie hören wollte, hatten die Dinge ihren Lauf nehmen müssen.

„Du hast Glück, Vera!“

Carmen hatte Recht – Taxos Verletzung brachte mir tatsächlich einen Vorteil: Roberto Kraus war ganz für mich da – oder vielmehr – für Nine war er da. Gleich nach der ersten Reitstunde hatte Roberto mir angeboten, meine Stute in Beritt zu nehmen. Er wolle ihr einige Grundlagen beibringen, aber dazu müsse er sie mindestens zwei Mal die Woche reiten. Natürlich hatte ich eingeschlagen – etwas Besseres hätte mir gar nicht passieren können.

Anscheinend hatte Carmen heute Morgen auch frei, dachte ich, als sie wenig später mit mir und Liberty am Viereck stand. Sie könne die erste Schulstunde einfach ausfallen lassen, sagte sie, die Note im Wahlfach stehe ohnehin fest. Marga ließ sich nicht blicken. Wahrscheinlich hatte sie genug mit Taxos zu tun, vermutete ich, aber Carmen grinste nur und flüsterte mir ins Ohr:

„Ich glaube, sie ist eifersüchtig!“

Auf wen denn? Etwa auf Nine? – das kam mir merkwürdig vor. Oder etwa auf mich? Wer weiß, dachte ich, vielleicht hat Marga mitbekommen, dass mir Roberto das „Du“ angeboten hatte und Nine auf dem großen Maimarkt Turnier in Mannheim vorstellen wollte. Dort tummelten sich alle, die in der Dressurszene Rang und Namen hatten – richtig große Namen wie Isabell Werth und Anky van Grunsven zum Beispiel. Im letzten Jahr hatte Marga eine Schleife mit nach Hause gebracht. Dieses Mal würde sie nicht mehr starten können, war das etwa kein Grund für Eifersucht?

„Wenn Roberto Nine reitet, kann die Stute endlich mal zeigen, was in ihr steckt!“ Wollte Carmen etwa damit sagen, dass ich unfähig sei, das Potential meines Pferdes selbst herauszureiten?

Ich wusste nicht so recht, was ich sagen sollte, aber Liberty schüttelte den Kopf. „Passt nur auf, dass Euer Roberto Nine nicht überfordert“, sagte sie spitz. Sie gab mir den Rat, beim Beritt zuzuschauen. „Roberto muss das Gefühl haben, dass du aufpasst – denn sonst macht er es so, wie damals mit Windspell – er ist nach dem Reiten immer gleich abgestiegen und hat das schwitzende Pferd Iwan überlassen.“

„Vielleicht musste er noch Unterricht geben?“, wandte ich ein.

Liberty grinste.

„Wo denn – etwa in seinem Reiterstübchen? – Wenn du von da oben Radio Regenbogen hörst, dann weißt du Bescheid. Bis vor kurzem hat Karlchen vor der Tür Wache gehalten.“

Ich schaute hinauf zu dem geschlossenen Fenster. Irgendjemand – Carmen vielleicht – hatte mir erzählt, dass Roberto dort in der Mittagspause seine Butterbrote verspeiste – ob er dazu das Radio anstellte? Na und? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Roberto Nine vernachlässigte, nur um irgendwelche dubiosen Radiosendungen zu hören. Mir schien, als ob hinter Carmens Lob und den Bedenken und Ratschlägen Libertys etwas anderes stand. Irgendetwas schien ihnen nicht zu passen – Carmen nicht und Liberty auch nicht, von Marga ganz zu schweigen. Alle drei hielten sich für perfekte Reiterinnen und gaben vor, das Beste für ihre Pferde zu tun, aber jede von ihnen hatte andere Vorstellungen vom Reiten und der Pferdepflege. Aber da gab es auch noch was anderes. Carmen zum Beispiel bewunderte nicht nur Robertos Reitkunst, sondern hatte sich wie alle Mädchen auf dem Leierhof bis über beide Ohren in unseren attraktiven Reitlehrer verknallt. Und was steckte hinter Libertys angeblicher Tierliebe? Ihre Ansichten kamen mir ziemlich verschroben vor und sie setzte sie nicht zuletzt dazu ein, um mich zu maßregeln.

„Dein Pferd ist Erholung für dich – aber fragst du auch, ob du Erholung für dein Pferd bist?“

Wie kam sie eigentlich darauf, dass Nine Erholung für mich sei? Seitdem das Pferd auf dem Leierhof stand, hatte ich keine Minute Freizeit mehr, ich vernachlässigte Gerson und hatte keine Seite in einem guten Buch mehr gelesen, geschweige denn, einen Film gesehen.

Aber andererseits machte mir der Umgang mit Nine richtig Spaß. Unter Robertos Beritt lernte sie schnell und ging nach kurzer Zeit sämtliche Lektionen wie am Schnürchen. Was war falsch daran? Durfte ich nicht stolz auf mein Pferd sein? Und wer sagte eigentlich, dass nicht auch mein Pferd stolz auf mich sei, dachte ich trotzig. Dass Liberty immer so genau zu wissen schien, was im Kopf der Pferde vor sich ginge, kam mir wie eine Anmaßung vor. Genau wie ihre feste Überzeugung mit Pferden sprechen zu können. Darüber hatte mich Carmen aufgeklärt.

„Sie übt mit Myboy, wenn es im Stall noch ruhig ist, früh morgens, oder spät in der Nacht. Konzentration ist alles“, hatte sie gesagt, „tiefe Atmung, Entspannung – und wenn das alles stimmt, dann sendet sie ihre Botschaft und wartet auf eine Antwort. Dafür muss der Kopf vollkommen leer sein, sagt Liberty. Keine Ahnung, wie sie das macht – hast du etwa schon mal einen leeren Kopf gehabt?“ Ich hatte an das bekannte Endlosband denken müssen, das sich automatisch einstellte, sobald ich alleine war, von Leere war da keine Spur, es ging im Gegenteil ziemlich turbulent zu.

„Worüber redet sie denn eigentlich mit Myboy?“

„Das ist mir auch nicht ganz klar“, hatte Carmen zugegeben. „Sie sagt, dass man mit Tieren nur über Naheliegendes sprechen kann. Weil sie keinen Unterschied zwischen Gegenwart und Vergangenheit kennen. Also zum Beispiel über das Futter, aber sie sagt ja nicht Futter, sie sagt: Essen. Liberty spinnt“, hatte Carmen kurz und bündig ihre Ansicht zusammengefasst.

Als wir wenig später mit Nine im Schlepptau zum Stall schlenderten, benutzte Liberty die Gelegenheit, mir Roberto madig zu machen. Sie stieß mich mit ihrem Ellbogen an:

„Hast du gehört – Radio Regenbogen.“

„Ja ...?“ Ich wusste nicht, worauf sie hinaus wollte, bis mir einfiel, dass sie die Radiostation meinte, mit der sich Roberto die Mittagspause versüßte.

„Sperr doch mal die Ohren auf.“

Richtig - aus Robertos Zimmer drang laute Popmusik. Ein Ohrwurm aus dem vorigen Jahrhundert, zum Mitsingen, aber dazwischen ziemlich eindeutige Laute, die sicher nicht aus dem Äther kamen.

„Das also ist Radio Regenbogen?“

Libertys Gesicht verfinsterte sich.

„Du weißt genau, was ich meine! So naiv bist du auch wieder nicht. Statt sich um Taxos zu kümmern“, Liberty zögerte, als suche sie nach den richtigen Worten, „schieben sie da oben eine Nummer – so sagt man doch – oder?“

„Ach“, sagte ich, „Du meinst, dass Marga mit Roberto ...?“

Ich hatte eine Lawine losgetreten.

„Ja, Marga!“ brach es aus ihr heraus. „Jeden Morgen schleicht sie in aller Herrgottsfrühe hinauf. Sie ist verheiratet – aber das ist mir völlig egal. Jeder kann machen was er will, oder? Nur – Roberto bringt Marga auf dumme Gedanken. Er hat ihr damals den Floh ins Ohr gesetzt, Windspell sei zu alt fürs große Viereck! Aber es nicht das Alter, er war ja erst 16 – da geht es um was anderes. Nach dem letzten Turnier hat er keine Erfolge mehr gehabt, das ist es. Und dann ist er an einer Kolik eingegangen – einfach so – ein vollkommen gesundes Pferd! Und schon am nächsten Tag haben sie dir eine freie Box vermietet.“

Ich stand da und wusste nicht, was ich sagen sollte. Und wieder hatte ich dieses flaue Gefühl – aber ging es da wirklich um Marga – was wollte Liberty mir eigentlich sagen? Was war denn dabei, dass sie uns Windspells Box vermietet hatten – das Pferd hatte doch keine ansteckende Krankheit gehabt – oder?

Ich war richtig froh, dass gerade in diesem Augenblick mein Handy summte. Gerson hatte wieder ein paar präzise Aufträge für mich. Ich sollte Rotwein, Spagetti, Espressobohnen und eine Flasche Limoncello von Pronto, dem italienischen Supermarkt, mitbringen. Er läge doch auf meinem Weg zum Stall, da könne ich mich nützlich machen, es sei ja kein Umweg für mich. Es war schon das zweite Mal, dass er mich auf dem Nachhauseweg dort vorbei geschickt hatte. Gersons neue Leidenschaft galt unverkennbar Italien.

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