Das Rauschen der Stille

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Mit ernstem Gesicht beugte sich Emmet näher zu mir. »Du brauchst Menschen, Jeremey. Menschen sind soziale Tiere. Wir werden krank ohne Kontakt.«

Als ob ich das nicht wüsste. Ich liebte diesen Kontakt gerade. Es war seltsam – ich vergaß immer wieder, dass er autistisch war, obwohl es jedes Mal, wenn ich ihn ansah oder mit ihm sprach, offensichtlich war. Größtenteils fühlte er sich jedoch wie jemand an, der nicht von mir genervt war oder sich in meiner Gesellschaft unwohl fühlte. Jemand, durch den ich mich wie eine reale Person fühlte.

Ein Freund.

»Ich bin froh, dass wir Freunde geworden sind.« Sein Blick huschte auf meine Brust.

Ich lächelte ihn an. »Ich bin auch froh, dass wir Freunde sind.«

Emmet wippte sanft. »Ich möchte jetzt mein Bananenbrot essen. Ist es in Ordnung, wenn wir so lange nicht reden, bis wir gegessen haben?«

»Natürlich.« Ich lächelte noch immer. Es war so einfach – er war einfach. Das fühlte sich gut an.

»Wir können weiterreden, wenn wir fertig sind. Ich rede gern mit dir.«

Die angespannten Nerven, die mich seit heute Morgen geplagt hatten, lösten sich langsam, Millimeter für Millimeter. »Mir gefällt es auch.«

Emmet und ich trafen uns nicht jeden Tag, aber wir schrieben immer miteinander. Zuerst kamen die Nachrichten zufällig, aber am dritten Tag fragte er, ob wir unsere Gespräche auf neun Uhr abends festlegen könnten, und er brachte mich sogar dazu, die Sache auf Google Talk zu verlegen, anstatt unsere Handys zu benutzen.

Ich wünschte, du hättest einen iMac oder ein iPhone, schrieb er eines Abends. Die Verbindung von iMessage ist viel besser und wenn du auch Apple Produkte hättest, könnten wir einfacher zwischen dem Computer und Handy hin und her wechseln.

Ich hab nicht mal ein Smartphone, antwortete ich.

Wir haben ein altes iPhone, das du benutzen könntest, wenn es mit deinem Tarif funktioniert.

Ich log, als ich sagte, dass ich es mir ansehen würde. Ich wollte ihm nicht sagen, dass meine Eltern niemals zustimmen würden.

Seit dem Picknick war die Stimmung zwischen meinen Eltern und mir aus verschiedenen Gründen angespannt, aber es dauerte nicht lange, bis Emmet das Zentrum unserer wiederkehrenden Diskussionen wurde. Sie hatten gesehen, wie ich auf dem Straßenfest mit ihm gesprochen hatte, und hatten auf dem Nachhauseweg nach ihm gefragt, aber ich hatte größtenteils abgewunken. Ich wusste, dass Emmet lieber bei sich zu Hause war, also trafen wir uns dort und um ehrlich zu sein, fühlte ich mich im Haus der Washingtons auch wohler. Als ich am dritten Tag in Folge von einem Besuch nach Hause kam, war ich froh, ihn nicht zu mir eingeladen zu haben und ich schwor mir, dass eher die Hölle zufrieren würde, als dass ich es tun würde.

»Wo warst du?«, fragte meine Mom, als ich zur Tür reinkam. »Ich hab den ganzen Garten abgesucht, aber du warst nirgends zu finden. Bist du wieder auf den Gleisen gelaufen?«

Kurz zog ich in Erwägung, zu lügen, aber es fühlte sich falsch an, über Emmet zu lügen. »Ich hab einen Freund besucht.«

»Bart?« Die Haltung meiner Mutter änderte sich vollständig. Sie lächelte und ihre Schultern sanken leicht herab, als würde die Welt langsam wieder in die richtige Bahn kommen. »Ich wusste nicht, dass ihr euch wieder trefft. Wie geht's ihm?«

Jetzt wünschte ich mir, meinem ersten Impuls gefolgt zu sein und sie anzulügen. »Es ist nicht Bart. Ein neuer Freund.« Ich sah, wie sich die Frage auf ihrem Gesicht abzeichnete, die Verurteilung und Kritik an Emmet, und entschied, sie in die Falle zu locken. »Er studiert im zweiten Jahr an der ISU. Doppelter Studiengang in Informatik und moderner Physik.« Vielleicht war es auch angewandte Physik. Es war mir egal – modern klang besser.

Sie hielt inne, geschlagen in ihrem eigenen Spiel. »Ein Universitätsstudent, hier? So weit weg vom Campus? Gibt es ein Mietshaus in der Gegend?«

»Nein. Er wohnt bei seinen Eltern. Sollte ich auch machen, um Geld zu sparen. Und wir wohnen ziemlich nah an der ISU, wenn man durch den Park geht.« Ich beschloss, wirklich dick aufzutragen. »Er ist wahnsinnig intelligent. Programmiert zum Spaß an seinem Computer herum.«

»Oh.« Mom entspannte sich und schien beruhigt zu sein, dass ich einen anständigen Freund gefunden hatte, der mich wieder auf Kurs bringen konnte. »Wie heißt er? Ich kann nicht glauben, dass ich nichts über einen Jungen in deinem Alter hier in der Gegend wusste.«

Junge? Wie alt war ich denn, zwölf? »Emmet Washington«, sagte ich und sah, wie sie sich anspannte.

»Jeremey Andrew Samson.« Sie überbrückte die Distanz zwischen uns und schwebte bedrohlich über mir. »Es ist schrecklich von dir, über einen behinderten Jungen zu lügen. Was machst du mit ihm? Babysitten?«

Umgehauen von ihrer Bosheit und Kaltschnäuzigkeit blinzelte ich sie an – außer, dass sie nicht gemein war. Sie war wirklich ahnungslos. »Mom, er hat die Höchstpunktzahl in seinem Collegetest. Er hat wirklich zwei Hauptfächer. Ich passe nicht auf ihn auf. Ich treffe mich mit ihm. Er ist nicht behindert und du solltest dieses Wort ohnehin nicht mehr benutzen.«

Sie verdrehte die Augen. »Komm mir jetzt nicht mit dieser blöden politischen Korrektheit. Behindert heißt zurückgeblieben. Du kannst mir nicht erzählen, dass der Junge normal ist.«

Nein, das konnte ich nicht – aber manchmal hatte ich das Gefühl, dass er um einiges normaler war als ich.

Emmet hatte seine Macken, ja, aber er hatte einen Pragmatismus, den ich nicht nur bewunderte – ich fand ihn beruhigend. Nicht zuletzt wusste ich bei Emmet immer, woran ich war. Wenn er etwas nicht machen wollte, sagte er es. Wenn ihm etwas wichtig war, ließ er es mich wissen. Außerdem war er freundlich – ihm fielen Dinge an mir auf, von denen ich nie erwartet hatte, dass sie jemand bemerken würde, und für ihn waren die Dinge, die ich an mir am seltsamsten fand, ein Teil dessen, wer ich war.

Das beste Beispiel dafür war der Tag, an dem wir zu Wheatsfield liefen, dem Bioladen am Ende der Straße. Emmets Mutter brauchte noch ein paar Zutaten für das Abendessen und Emmet hatte gefragt, ob wir die Besorgungen für sie machen konnten.

»Wie lieb von dir, es anzubieten, Emmet. Danke.« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich hole die Einkaufsliste und den Trolley.«

Ich weiß nicht warum, aber ich war lächerlich aufgeregt, mit ihm einkaufen zu gehen. Wir waren schon vorher um den Block spaziert, meist am Abend, wenn es kühler war, aber zusammen einzukaufen war so häuslich und erwachsen. Das war kein einfaches Wir hängen zusammen ab-Einkaufen. Wir halfen beim Abendessen, zu dem ich schon vorher eingeladen worden war. Diese ganze Episode hatte dafür gesorgt, dass ich mich als Teil der Familie fühlte. Eine wirkliche Familie. Eine gute.

Kaum hatten wir begonnen, die Straße entlangzugehen, hielt Emmet inne. »Nein. Dir gefällt es innen.« Er schob mich ans andere Ende des Gehwegs, auf die Seite, die den Häusern am nächsten war. »Du wirst nervös, wenn du zu nah an der Straße bist.«

»Werde ich das?«

»Ja. Du zuckst zusammen, wenn ein Auto vorbeifährt. Das machst du zwar auch auf der Innenseite, aber da bist du entspannter.«

Ich hatte keine Ahnung, dass ich das tat. Wie vielen anderen Menschen war das bisher aufgefallen? »Das wusste ich nicht. Es tut mir leid.«

»Das muss es nicht. Aber du musst innen sein, also nimm nicht die Außenseite.«

Den Rest des Weges sprachen wir nicht miteinander, aber wir redeten ohnehin nie viel, wenn wir liefen. Ich nutzte die Zeit, um nachzudenken und die Zeit mit ihm zu genießen. Außerdem war es lustig herauszufinden, was er zählte. Ich hatte gelernt, dass er immer irgendetwas zählte, wenn er so still war. Während unserer Spaziergänge hatte ich ihn so oft gefragt, dass er es mir nun einfach sagte, wenn wir an unserem Ziel ankamen.

»Neunhunderteinunddreißig Risse im Bürgersteig«, verkündete er, als wir am Laden ankamen. Er schob den bunten Trolley vor sich her, in dem wir laut Marietta die Einkaufstasche transportieren würden. »Einhundertvierundzwanzig Unregelmäßigkeiten. Achthundertsieben gerade Linien.«

»Risse im Gehweg? Die hast du doch sicher schon früher zwischen eurem Haus und dem Laden hier gezählt.«

»Ja. Aber heute waren vier neue dabei.«

Ich fragte mich, wie es sein musste, ein Gehirn zu haben, das so viele Dinge zählte. Ich glaubte, dass es ermüdend sein musste, aber Emmet genoss es.

Ich wollte ihn mehr über die Risse fragen, doch dann betraten wir den Laden – und trafen auf eine Wand aus Lärm.

Ich war schon in diesem Laden gewesen und hatte genossen, dass er so klein war, hatte mich jedoch noch nie hierhin verirrt, wenn eine Live-Band in der Ecke spielte. Der Laden war voller Menschen, die redeten und lachten, während sie einkauften. Ich lachte nicht. Ich wollte nur wegrennen. Es fühlte sich an, als würde jemand immer und immer wieder ein Becken gegen meinen Kopf schlagen. Das Atmen fiel mir schwer.

Ich schämte mich so sehr – ich hatte vor Emmet eine Panikattacke.

Und dann hatte ich sie ganz plötzlich nicht mehr. Zumindest waren die Becken verschwunden und ich atmete schwer, aber wir waren draußen und Emmet setzte mich auf eine Bank.

Ungeschickt berührte er mein Gesicht. »Im Laden ist es zu laut.«

»Es tut mir leid«, versuchte ich zu sagen, keuchte jedoch eher.

Er drückte meinen Kopf zwischen meine Knie und legte seine warme Hand auf meinen Rücken. »Atme tief ein. Geh in deinem Kopf an einen glücklichen Ort.«

Er war so ruhig und logisch, dass es mich ehrlich gesagt teilweise aus meiner Attacke hinausschreckte. Es dauerte eine Minute, bis ich mich wieder vollständig unter Kontrolle hatte, aber so schnell hatte ich mich schon lange nicht mehr in den Griff bekommen.

 

Als er seine Hand zurückzog, war ich traurig.

»Es geht dir besser. Du brauchst etwas zu trinken. Bist du in Ordnung?« Ich nickte. »Gut. Ich suche Carol.«

Ich dachte, dass er wieder hineingehen würde, stattdessen trödelte er an der Tür herum und wippte auf den Fersen, bis jemand nach draußen kam – eine Frau mittleren Altern mit roten Haaren, einem breiten Lächeln und einer Schürze, die sie als Angestellte des Ladens auswies.

»Hallo, Emmet. Wo ist deine Mutter?«

Emmet sah ihr nicht in die Augen und wippte weiter. »Sie ist zu Hause. Ich bin mit meinem Freund Jeremey hier. Aber deine Musik ist zu laut und es sind zu viele Leute da. Er hatte eine Panikattacke und braucht etwas zu trinken. Für mich ist es auch zu laut. Ich hab eine gute Anpassung, weil ich geübt habe, aber ich mag den Laden im Moment auch nicht. Wir beide fühlen uns nicht wohl.«

Voller Mitgefühl drehte sich Carol zu mir. »Oh, Schätzchen. Es tut mir so leid.«

Sie sprach mit mir, als wäre ich ein Vierjähriger. Ich schloss die Augen und versuchte sie wegzuwünschen.

Emmet gab ihr kein Pardon. »Deine Musik ist zu laut, Carol. Du bringst die Leute durcheinander. Das ist schlecht fürs Geschäft. Althea würde dir einen Vortrag über die Diskriminierung von Behinderten halten. Ich möchte dir auch einen Vortrag halten. Aber ich kann im Moment nicht. Wir müssen uns um Jeremey kümmern. Er ist aufgebracht. Er braucht etwas zu trinken.«

Ich versuchte zu sagen, dass es mir gut ging, aber das wäre eine Lüge. Carol und Emmet sprachen eine Minute miteinander – er fragte nach zwei Mineralwässer mit Himbeergeschmack und gab ihr die Einkaufsliste und die Kundenkarte seiner Mutter. Dann setzte er sich neben mich. »Ihre Musik tut mir leid. Ich bin wütend auf sie, weil sie dich aufgeregt hat.«

Er war die ruhigste wütende Person, die mir je begegnet war. Ich schämte mich noch immer, obwohl ich gerührt war, dass Emmet für mich Partei ergriffen hatte. »Ist in Ordnung. Ich bin sicher, dass den normalen Menschen die Party gefällt.«

»Niemand ist normal. Normal ist eine Lüge. Der Laden sollte für alle Menschen sein, nicht nur für die, die laute Musik mögen. Das ist unhöflich. Ich sag es meiner Mutter. Sie ist Vorstandsmitglied des Konsumvereins. Alle Menschen sollten integriert werden. Sie machen die Gänge groß genug für Rollstühle. Sie sollten die Stimuli nach unten drehen für die Menschen, die mehr Ruhe brauchen. Wenn deine Reizempfindlichkeit einen Stuhl hätte, würden sie dafür Platz machen.«

Er sprach mit derselben flachen Tonlage, die er immer an den Tag legte, aber er wippte deutlich intensiver und seine Hände öffneten und schlossen sich rhythmisch auf seinem Schoß. Das war der wütende Emmet. Der wütende, beschützende Emmet.

Wütend für mich. Er hatte sich für mich eingesetzt.

»Danke«, sagte ich.

Er sah mich an. Na ja, in meine Nähe. »Was hab ich getan?«

»Du hast dich um mich gekümmert. Danke.«

Er wirkte überrascht. Mit einem seiner Beinahe-Lächeln sah er auf den Bürgersteig. »Gern geschehen.«

Kurz darauf erschien Carol mit weiteren Entschuldigungen, einem vollen Einkaufswagen und glutenfreien, veganen, kostenlosen Schokoladen-Cupcakes für Emmet und mich. Wir aßen sie, bevor wir wieder aufstanden, und spülten sie mit dem Rest unseres Mineralwassers hinunter. Als wir mit den Zutaten fürs Abendessen zu seinem Haus zurückkamen, hatte ich meine Panikattacke vollkommen vergessen.

Um ehrlich zu sein, fühlte ich mich großartig, bis ich nach Hause kam, wo meine Mutter über mich die Nase rümpfte und mein Dad nicht einmal aus dem Wohnzimmer kam, weil er zu sehr von seinem Fernseher vereinnahmt war. Ich dachte an die Washingtons, die zusammen abgewaschen hatten, als ich gegangen war, und gutmütig über Politik diskutiert hatten. Alle außer Emmet, der deutlich zum Ausdruck gebracht hatte, dass er den Rest des Abends in seinem Zimmer mit Programmieren verbringen würde.

Ich hatte immer gewusst, dass meine Familie nicht die großartigste der ganzen Welt war. Es war besser gewesen, als Jan noch hier gewohnt hatte, aber auch nicht übermäßig. Bis zu diesem Tag war mir jedoch nicht bewusst gewesen, wie einsam dieses Haus war. Dass es theoretisch mein Zuhause war… ich mich aber im Wohnzimmer einer Familie, die ich weniger als einen Monat kannte, sicherer, glücklicher und akzeptierter fühlte.

Ich versuchte mir einzureden, dass das die angenehme Seite meines Umzugs nach Iowa City werden würde – von meinen Eltern wegzukommen. Außer, dass ich dort niemals einen anderen Emmet finden würde. Jeden Tag, den ich mit ihm verbrachte, spürte ich, dass alles, was nicht dieser Art von Glück entsprach, sich nicht wie ein erstrebenswertes Leben anfühlte.

Kapitel 5

Emmet

Als der vierte Juli kam, war Jeremey mein bester Freund.

Seit Langem hatte ich gespürt, dass er mein bester Freund sein konnte, aber an diesem Feiertag kam alles zusammen. Wir gingen zur Parade im Stadtzentrum – nur wir beide, ohne unsere Eltern. Wir liefen über den Rummel im Bandshell Park. Wir überlegten, im Wasserpark schwimmen zu gehen, aber es waren zu viele Menschen dort, also fuhren wir mit dem Fahrrad zum Ada Hayden. Das ist ein Park mit einem Wasserspeicher, auf dem man Boot fahren kann, und vielen befestigten Wanderwegen. Es war ein heißer, heißer Tag, aber es machte mir nichts aus. Ich war mit Jeremey zusammen.

Er begleitete unsere Familie, um das Feuerwerk vom Hügel an der Sixth Street zu beobachten – durch die Bäume verpassten wir ein paar der kleineren Feuerwerkskörper, aber es war nicht voll, nicht laut und alle unsere Nachbarn waren dort. Während wir auf der Decke saßen, eingesprüht mit Anti-Mückenspray, das nach Vanille roch, und die Kinder beobachteten, die mit Wunderkerzen den Hügel zum Fußballfeld hinunterrannten, wurden meine Gefühle intensiver. Ich war glücklich. So glücklich.

Ich wollte immer noch, dass Jeremey mein fester Freund wurde, und manchmal glaubte ich, dass er vielleicht auch schwul sein könnte, aber selbst wenn wir nur Freunde sein sollten, würde das für mich in Ordnung gehen. Er war mein bester Freund, die Art von engem Freund, die man als Mensch mit Autismus nur sehr schwer bekommt. Es kann knifflig sein, uns kennenzulernen. Aber Jeremey wusste bereits mehr über mich als irgendjemand sonst, selbst mehr als meine Eltern und Althea.

Als das Feuerwerk über uns im Himmel explodierte, wurde der Drang, ihm meine Gefühle zu offenbaren, immer größer. Ich hatte Angst, dass meine glücklichen Gefühle aufhören würden, wenn er nicht auch dachte, dass wir beste Freunde waren, und befürchtete, dass mein Autismus den Moment zerstören würde. Also schrieb ich ihm eine Nachricht, obwohl er direkt neben mir saß.

Jeremey, du bist mein bester Freund. Meine Brust wurde vor Nervosität ganz eng. Ich hoffe, das ist in Ordnung, fügte ich hinzu, ehe ich auf Senden drückte.

Sein Handy gab ein leises Klingeln von sich. Ich hielt den Atem an und hasste zum ersten Mal meine Superkraft, alles aus dem Augenwinkel sehen zu können. Ich konnte nicht anders, als ihn dabei zu beobachten, wie er das Handy aus der Tasche zog, die Nachricht las und zurückschrieb. Als mein Handy im Heartbeat-rhythmus in meiner Hand vibrierte, hätte ich die Nachricht beinahe nicht gelesen. Es tat mir leid, dass ich ihm überhaupt geschrieben hatte. Wenn er sagte, dass es nicht in Ordnung war, würde all mein Glück in sich zusammenfallen.

Aber als ich endlich den Mut fand, die Nachricht zu lesen, sah ich: Du bist auch meiner.

Lächelnd wippte ich auf der Decke. Ich hatte einen besten Freund.

Ich wünschte, er wäre mein fester Freund. Wenn er es wäre, hätte ich ihn gefragt, ob ich seine Hand halten dürfte.

Aber ich tat es nicht. Stattdessen genoss ich den Rest des Feuerwerks mit meinem besten Freund.

Wir trafen uns jeden Tag, meist am Nachmittag. Für gewöhnlich spielten wir Videospiele oder gingen spazieren. Manchmal saßen wir auf meiner Veranda und sagten kein Wort. Jeremey las gern und als meine Mom das herausfand, gab sie ihm ihren alten Kindle, der mit allerlei Büchern vollgestopft war.

Außerdem zeigte ich Jeremey den The Blues Brothers-Film, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Es hatte mir gefallen, ihm den Film zu zeigen, aber als wir angefangen hatten, ihn zu sehen, hatte ich keinen großen Spaß. Ich hatte mich so sehr bemüht, nicht autistisch zu sein.

The Blues Brothers ist nicht nur mein Lieblingsfilm. Es war eines der ersten Dinge, die ich mir merkte. Mein Dad liebt den Film auch und hat ihn sich immer angesehen, als ich klein war. Meine Mom war deshalb wütend auf ihn gewesen, weil ich herumgelaufen war und den Film zitiert hatte oder die Sätze aus dem Film nutzte, um zu sprechen. Wenn ich etwas von meiner Mom wollte, fragte ich: »Hast du meine Käsecreme mitgebracht, Junge?«

Ich wollte keine Käsecreme, aber für mein Gehirn war es der einzige Weg, um nach etwas zu fragen, indem ich den Satz aus dem Film nutzte. Wenn ich mit meinen Bausteinen spielte, stellte ich sie in einer Reihe auf und zählte sie, indem ich die Stelle zitierte, an der der Wärter (der von Frank Oz gespielt wird, der Miss Piggy und anderen Figuren der Muppets Show seine Stimme geliehen hat) das Inventar von Jake Blues' persönlichem Besitz aufzählte. »Eine Timex Digitaluhr, zerbrochen. Ein unbenutztes Präservativ. Ein benutztes. Ein schwarzes Anzugjackett.«

Und wenn ich etwas nicht tun wollte, sagte ich nicht einfach nein. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sagte: »Auf. Keinen. Verdammten. Fall.«

Ich erinnere mich nicht daran, aber Mom sagte, dass ich, seit ich vier Jahre alt war, bis zur ersten Hälfte des Kindergartens nur in Filmzitaten gesprochen hatte. Das mache ich nicht mehr, aber manchmal flüstert mir mein Gehirn Sätze aus dem Film zu, wenn es der Meinung ist, dass jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, sie auszusprechen. Manchmal zitieren auch Durchschnittsmenschen Filme und andere Durchschnittsmenschen lachen über den Witz. Aber bei mir lachen sie anders, wenn ich The Blues Brothers zitiere, also mache ich es nicht in der Öffentlichkeit.

Meinem Dad gefällt es allerdings, wenn ich zitiere, weil er der Meinung ist, dass ich einen hervorragenden Elwood Blues abgebe. Im Auto fragt er manchmal Was ist das? Und ich weiß, dass ich jetzt die Szene nachsprechen soll, in der sie den Cadillac gegen ein Mikrofon eintauschen. Ich sage ihm immer wieder, dass die Szene nur richtig ist, wenn er mich fahren lässt, da Elwood immer fährt. Er sagt nein, ich würde versuchen, wie im Film über eine Brücke zu springen. Was nicht stimmt. In Ames gibt es keine Klappbrücken.

Es macht Spaß, den Film mit meinem Dad zu zitieren, aber es gibt ein Problem, wenn ich den Film sehe, vor allem mit jemandem, der kein Teil meiner Familie ist. Jedes Mal, wenn ich den Film sehe, spreche ich den Text der Schauspieler mit. Ich bin schon besser darin geworden, nicht jeden Satz laut auszusprechen, aber in meinem Kopf spreche ich jedes einzelne Wort mit. Ich habe das Drehbuch online gelesen, als ich in der Highschool war, und wenn ich den Film jetzt sehe, spreche ich sogar die Bühnenanweisungen mit. Mein Dad spricht seine Lieblingssätze mit mir und es macht ihm nichts aus, wenn ich viel mitspreche.

Wenn autistische Menschen Fernsehsendungen oder Filme zitieren, so wie ich es getan habe, als ich klein war, spricht man von Echolalie. Jetzt habe ich keine Echolalie. Wenn ich jetzt spreche, gehören die Wörter zu einhundert Prozent mir. Manche Autisten können jedoch niemals damit aufhören, Fernsehsendungen oder Filme nachzuplappern, oder sogar das, was die Person ihnen gegenüber gerade gesagt hat. Das liegt an den Gehirnoktopussen.

Die Leute sollten nicht lachen oder unhöflich das Gesicht verziehen, wenn ein autistischer Mensch etwas nachplappert. Einige können nicht anders und die meisten, die es können, müssen hart daran arbeiten, es nicht zu tun. Selbst jetzt fällt es mir schwer, nicht ununterbrochen The Blues Brothers zu zitieren. Wenn ich den Film sehe, ist es fast unmöglich, zu widerstehen.

Ich war nervös, wie Jeremey auf mein autistisches Zitieren reagieren würde. Ich wollte nicht, dass er mich für seltsam hielt und entschied, dass wir nicht mehr beste Freunde sein sollten. Also saß ich auf dem Rand der Couch, versuchte, nicht zu wippen, nicht zu summen und mehr als alles andere, nicht zu plappern, bis Elwood und Jake die Nonne verlassen, die sie Den Pinguin nennen. Zum ersten Mal hatte es mir nicht gefallen, The Blues Brothers zu sehen.

 

Dann kam mein Dad ins Wohnzimmer und sagte: »Ihr müsst lernen, mit Nonnen auf andere Weise zu sprechen.«

Ich wippte vor und zurück. »Dad, der Satz kam schon.«

»Ich weiß. Aber er gehört zu meinen Lieblingssätzen.« Dad ließ sich auf seinen Lieblingssessel fallen, den großen, dicken mit einem Hocker direkt vor dem Fernseher. Er grinste, als Curtis den Jungs sagte, dass sie zur Kirche gehen mussten.

Das war ein weiterer kniffliger Teil für mich. Normalerweise singe ich mit James Brown. Dieses Mal sang ich nicht, zitierte nicht. Nicht, als mein Dad es tat. Noch nicht einmal, als er sagte: »Ja, Jesus, heiliger verdammter Bastard Christus, ich habe das Licht gesehen.« Und ich tanzte nicht mit Elwood, was der schwierigste Teil von allen war.

Als sie darüber sprachen, die Band wieder zusammenzubringen, runzelte Dad die Stirn. »Emmet, fühlst du dich gut?«

Ich nickte und starrte auf den Boden. Ich sah den Film, aber normalerweise sah ich ihn mir an, indem ich meinen Blick auf den Fernseher richtete. Heute konnte ich es nicht, weil ich mit Sicherheit anfangen würde zu plappern.

Zuerst sagte Dad nichts dazu. Schließlich lächelte er Jeremey jedoch an. »Wie gefällt dir der Film? Ich hab gehört, dass du ihn zum ersten Mal siehst.«

»Er ist gut.« Jeremey lächelte zurück. »Er ist lustig.«

»Du musst Emmet dazu bringen, dass er den Elwood für dich macht. Er kennte jede Zeile. Jede Neigung von Dan Aykroyds Kopf. Als wir mal in den Urlaub gefahren sind, hat er für mich den ganzen Film nachgespielt, während wir auf einen Abschleppwagen gewartet haben. Die besten zwei Stunden meines Lebens.«

Ich hörte auf, mich zu wiegen und sah am Kopf meines Vaters vorbei. Ich erinnerte mich daran, auf einer dunklen Straße neben dem Auto gesessen und den Film für meinen Dad nachgespielt zu haben. Ich hatte nicht gewusst, dass dies der beste Moment seines Lebens gewesen war. Es war definitiv nicht meiner. Ich hatte nur schwer auf den Steinen sitzen können.

»Normalerweise«, fuhr mein Dad fort, »wenn Emmet und ich den Film zusammen sehen, geben wir die besten Zitate rauf und runter zum Besten. Was bedeutet, dass wir den ganzen Film mitsprechen, weil er so großartig ist. Du musst mir also verzeihen, wenn ich trotzdem mitspreche. Emmet möchte nett sein und dich den Film ohne unsere Kommentare sehen lassen, aber er hat mehr Kontrolle als ich.«

Jeremeys Lächeln wurde breiter. »Oh, bitte sprecht mit! Ich wünschte, ich könnte mir Dinge so gut merken, damit ich auch mitmachen kann!«

»Emmet kann sich genug Dinge für die ganze Welt merken.« Dad zwinkerte mir zu. Dann zog er eine Braue nach oben und sprach gemeinsam mit John Belushi. »Zuerst tauschst du unseren schönen Cadillac für ein Mikrofon ein, danach hast du mich über die Band belogen und jetzt bringst du mich glatt wieder in den Knast zurück.«

Ich hatte noch immer ein wenig Angst, den Film vor Jeremey nachzuplappern, aber mein Gehirnoktopus war so böse auf mich, weil ich ihm nicht erlaubt hatte mitzusprechen, und mein Dad sah mich direkt an, während er auf mein zweitliebstes Zitat aus dem Film wartete. »Sie werden uns nicht kriegen. Wir sind im Auftrag des Herrn unterwegs.«

Jeremey lachte – und meine Brust machte flatter, flatter, flatter. Es war die Art von Lachen, die Durchschnittsmenschen bekamen, wenn sie zitierten und einen guten Witz machten. »Oh mein Gott – Emmet, du hast dich genau wie er angehört.«

»Wart's nur ab«, sagte mein Dad. »Wenn wir ihn dazu bringen können, dass er zur Szene im Ballsaal tanzt, wird das für den Rest des Jahres dein bester Tag werden.«

Jetzt zitierte ich ein bisschen mehr. Ich wollte nicht die ganze Zeit plappern, aber Dad tat es und kurze Zeit später beobachtete Jeremey mich mehr als den Film und sah mich an, als würde er darauf hoffen, dass ich etwas sagte, also gab ich nach und plapperte.

»Du willst von diesem Parkplatz runter. In Ordnung.«

Ich liebte es, Elwood beim Fahren zuzusehen und die Szene im Einkaufszentrum brachte mich zum Lachen. Autofahren sah so spaßig aus. Ich war in einem Freizeitpark mal Gokart gefahren. Das hatte Spaß gemacht. Ich war oft gegen die Wände gefahren und manchmal auch gegen andere Fahrer, aber niemand war verletzt worden. Das war das Beste gewesen.

Wir zitierten weiter und Jeremey lachte und schon bald wurden dies die besten zwei Stunden meines Lebens. Als wir zur Szene im Ballsaal des Palace Hotels kamen und das Lied der Blues Brothers zu spielen begann, standen Dad und ich auf und tanzten. Er tat so, als würde er ein Paar Handschellen an meinen Handgelenken aufschließen und ich gab das silberne Ding (ich hatte den Film über hundert Mal gesehen, aber ich wusste noch immer nicht, was es war) an den vorgetäuschten Schlagzeuger hinter mir weiter.

Dad reichte mir den Besenstiel mit einem Mikrofon aus Pappe, den wir neben dem Fernseher stehen hatten, und ich gab Elwoods Rede vor der großen Nummer zum Besten.

Ich liebe den Song Everybody Needs Somebody To Love, aber Elwoods Rede davor gehört zu meinen Lieblingszitaten des ganzen Films. Er sagt, dass wir alle jemand und gleich sind.

Ich glaube, dass Elwood Blues auch im Spektrum liegt. Er kommt besser zurecht, aber er hat die Anzeichen. Er isst nur Weißbrot – das ist etwas, was ein autistischer Mensch tun würde. Hinzu kommen das schlechte Fahren und einige seiner Macken. Außerdem kann ich eine Menge Filmcharaktere nachsprechen, aber keiner gelingt mir besser als Elwood.

Ich weiß nicht, ob er auch schwul ist oder nicht, aber Mädchen scheinen ihn nicht sonderlich zu interessieren, also vielleicht.

Zusammen mit Elwood sang ich in mein gebasteltes Mikrofon und mein Dad stand auf und sang in seins. Dad mag es sehr, Jake zu spielen. Er sagt, Jon Belushi war ein Genie, das vor seiner Zeit gehen musste. Wir waren toll als Blues Brothers und Dad meinte, dass nur Belushi und Aykroyd den Tanz besser konnten als wir.

Ich wusste nicht, ob Jeremey dem zustimmte, aber er lachte, klatschte und pfiff und als der Film vorbei war, hatte er einen komischen Ausdruck auf dem Gesicht. Ich wusste nicht, was er bedeutete, aber Dad konnte gut Gesichter lesen.

Er beugte sich in seinem Sessel vor und grinste Jeremey an. »Du willst die Tanzszene noch einmal sehen, nicht wahr?«

Jeremey errötete, nickte aber.

Wir wiederholten die Tanzszene noch drei Mal. Und wenn wir den Film jetzt zusammen sehen, spreche ich alles mit. Jeremey ist gar nicht so schlecht darin, sich Dinge zu merken, wie er behauptet hat, weil er den Film jetzt auch mitspricht.

Er ist ein toller Curtis.

Ich sah Jeremey jeden Tag, aber an einigen Nachmittagen konnte ich nicht lange mit ihm auf der Veranda sitzen, weil ich zum Unterricht musste.

Ich musste keine Sommerkurse belegen, aber Mom und Dad waren der Meinung, dass es gut war, um die Beständigkeit in meinem Leben zu halten. Das Seminar, das ich besuchte, hieß Calculus III. Es war also nicht schwer für mich und war eine gute Wahl für das Sommerprogramm. Das Seminar fand in Carver Hall statt, einem hübschen Raum mit viel Licht. Meistens fuhr ich mit dem Fahrrad und schloss es bei der Studentenvereinigung an, aber wenn es regnete oder zu heiß war, nahm ich den CyRide Bus. Ich kann nicht fahren, aber ich bin ein exzellenter Busmitfahrer. Es gefällt mir, dass ich unabhängig genug bin, um mit dem Bus zur Schule zu fahren, aber ich verbringe keine zusätzliche Zeit auf dem Campus.

Allerdings ging ich mit Jeremey auf dem Campus spazieren. Von meinem Haus bis zum Rand des Campus war es nicht einmal ein Kilometer und ihn zu durchqueren, war der beste Weg zum West Street Deli, in dem wir zu Mittag aßen, wenn Althea Dienst hatte. Während unserer Spaziergänge redeten wir nicht viel, da Jeremey wusste, dass es mir nicht gefiel, gleichzeitig zu laufen und zu reden. Wenn er etwas sagen wollte, fragte er, ob es mir etwas ausmachen würde, eine kleine Pause einzulegen, und wir setzten uns auf eine Bank oder den Bordstein und unterhielten uns ein paar Minuten. Das bedeutete zwar, dass er reden und sich nicht ausruhen wollte, aber er sagte nie: »Ich will mit dir reden, lass uns anhalten.«