Witterung – Lauf so schnell du kannst

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Ayumi dachte nach.

„Er hat zu mir kurz hinaufgeschaut – er ist Brillenträger, und seine Haare sind vielleicht hell, vielleicht aber auch grau, keinesfalls schwarz.“

„Würdest du sein Gesicht wiedererkennen?“

Ayumi schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, es war ja nur ein kurzer Moment, und so gut war das Licht dann doch nicht. Keinesfalls war er schmächtig oder so, nicht dick, vielleicht sportlich.“

„Alter?“

Ayumi zuckte mit den Schultern und schwieg.

„Okay. Noch was – warum habt ihr nicht gleich die Polizei verständigt?“

Ayumi und Botho stutzten gleichzeitig und warfen ihm dann einen konsternierten Blick zu.

Heribert winkte ab. „Dummer Gedanke.“

„Allerdings“, schnaufte Botho. „Was hätten wir denn sagen sollen? Es ist doch nicht verboten, hinter jemandem herzugehen oder vor einem Haus sich eine anzuzünden.“

„Ihr könntet natürlich eine Anzeige gegen Unbekannt aufgeben, wegen der Anrufe“, erklärte Heribert.

Er hob jedoch sofort abwehrend die Arme, als er erneut den mehr als skeptischen Blick seines Freundes auffing. „Schon gut – vermutlich wird auch das nichts bringen.“

„Genau!“ Botho goss sich vom Branntwein nach, und Heribert registrierte Ayumis kritischen Blick.

Doch Botho ignorierte ihn, kippte das Glas hin­unter und fuhr fort: „Aber verstehst du jetzt meine Sorge? Dies alles ist an dem Tag passiert, als man die Leiche meines Steuerberaters gefunden hat.“

„Wie heißt der?“

„Zeller, Walter Zeller.“

Heribert notierte den Namen.

„Könnte es sein, dass dein Steuerberater in irgendeine unseriöse Geschichte verwickelt ist?“

Botho zuckte mit den Achseln: „Woher soll ich das denn wissen? Und selbst wenn, was hätte das mit mir zu tun?“

Heribert verschränkte die Hände hinterm Kopf und dachte laut nach: „Solange man das Motiv von Walter Zellers Mörder nicht kennt, bleibt natürlich alles spekulativ. Zeller könnte nämlich auch bloß das zufällige Opfer eines Einbruchs mit Todesfolge geworden sein, und so gesehen könnte sich das mit deinem nächtlichen Verfolger dann auch relativieren.“

„Relativieren?“

„Na ja, ich meine, dein nächtlicher Verfolger – der ging vielleicht wirklich nur, wie schon erwähnt, zufällig hinter dir her.“

„Glaube ich aber nicht!“

Bothos Einwurf klang fast bockig.

Heribert fixierte ihn eine Weile, während er versuchte, sich einen Reim auf die ganze Sache zu machen. Wieso ging Botho so fest davon aus, dass sein nächtlicher Verfolger etwas mit dem Tod seines Steuerberaters zu tun haben musste?

„Okay, Botho, erstens, welches Motiv könnte denn jemand haben, dir aufzulauern, und zweitens – warum sollte Zellers Mörder sich ausgerechnet auch für dich interessieren?“

Botho blickte seinen Freund ratlos an und zuckte mit den Schultern. „Ich dachte, du könntest es vielleicht herausfinden.“

„Ich?!“

„Könnte es etwas mit dem neuen Geschäft zu tun haben?“, meldete sich Ayumi und sah ihren Mann alarmiert an.

Heribert horchte auf und blickte zwischen Botho und Ayumi hin und her.

„Moment mal – neues Geschäft? Was für ein neues Geschäft denn? Reichen dir die beiden Geschäfte in Kassel und Leipzig nicht mehr?“

Eigentlich war sein Einwand scherzhaft gemeint, doch Heribert selbst hatte bemerkt, wie forsch er geklungen hatte – fast vorwurfsvoll.

Botho lachte. „Nein!“

Das konsternierte Gesicht seines Freundes schien ihn zu belustigen. „Und ja, tatsächlich eröffne ich in den nächsten Monaten ein neues Geschäft in Polen – genauer gesagt, in Warschau.“

„Und das erfahre ich von dir so ganz nebenbei? Ich bin dein bester Freund, Botho!“

Botho musterte Heribert spöttisch. „Verzeih, alter Freund, ich hätte dich natürlich vorher um Genehmigung bitten sollen!“

Heribert mochte es nicht, wenn Botho ihn „alter Freund“ nannte – es hatte etwas Altbackenes und passte irgendwie nicht zu dessen sonstigen Sprachgepflogenheiten.

„Alter Freund ... welche Art von Geschäft ist das denn in Warschau?“

„Genau wie hier. Kinder- und Jugendbekleidung. Die Umsätze brummen, und ich möchte gern weiter expandieren.“

„Mit einem eigenen Label“, ergänzte Ayumi, „das war meine Idee.“

Heribert nickte und dachte einen Moment nach, bevor es heikel wurde. „Okay, bist du in irgendeine krumme Sache verwickelt, Botho? Nimm’s mir nicht übel, aber ich muss dich das fragen.“

Einen Moment wirkte Botho unentschlossen, und Heribert ahnte, dass er den Finger in die richtige Wunde gelegt hatte, als er die Blicke, die Botho und Ayumi miteinander austauschten, bemerkte und Botho zögernd antwortete: „Na ja, weißt du, ich habe ein paar Leute in Warschau, also, wie soll ich sagen ... na ja ... geschmiert, damit ich dort mein Geschäft eröffnen kann, verstehst du? Das ist inzwischen nämlich gar nicht mehr so einfach. Und ein gelegentlicher Geldumschlag hier und da ist dort normales Prozedere.“

Heribert stutzte. „Ach ...“

Ayumi machte plötzlich ein verärgertes Gesicht.

„Ja, allerdings! Ich war von Anfang an dagegen und habe dich gewarnt. So ein System darf man doch nicht noch unterstützen. Und es ist ja dann auch alles andere als glatt gelaufen.“ Sie blickte zu Heribert. „Botho hat sich mit so einem Typen von der städtischen Baubehörde rumärgern müssen!“

Sie warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu. „Kosalski hieß der, oder so – stimmt’s?“

„Kowalski“, erwiderte Botho.

„Genau, Kowalski!“ Sie fuhr fort: „Der konnte nämlich seinen Rachen nicht vollkriegen – hat alles verzögert. Botho war immer wieder gezwungen, sein Portemonnaie aufzumachen!“

Heribert nickte. „Okay, er hat euch also auf eine subtile Weise erpresst.“

„Ja, kann man so sagen, das war wirklich ärgerlich“, erklärte Ayumi und blickte Botho vielsagend an.

Der machte eine wegwerfende Geste. „Es ist aber alles inzwischen geklärt. Ich habe die bittere Pille geschluckt.“

„Ach“, Heribert räusperte sich und konnte die Ironie in seiner Stimme nicht ganz unterdrücken, „sozusagen für das höhere Ziel! Okay, ich hoffe, ihr wisst, dass Bestechung auch in Polen eine Straftat ist?“

Er sah, wie Botho Ayumi einen schuldbewussten Blick zuwarf.

„Aber gut, ich will kein Moralapostel sein. Also, wenn dir weiter niemand einfällt, der dir übel mitspielen könnte, was soll ich dann für dich tun? Ich bin nicht mehr im Dienst.“

„Ja, Berti, du sagtest es bereits. Mehrmals!“

Botho schien genervt und zögerte einen Moment, dann beugte er sich vor und trommelte seine Finger gegeneinander, bevor er weitersprach.

„Kennst du zufällig einen gewissen Kriminalhauptkommissar Witzbold?“

Heribert schüttelte zögernd den Kopf.

„Nein, an so einen Namen würde ich mich, glaube ich, erinnern. Wieso?“

„Er ist der Ermittler in der Mordsache und möchte mich befragen – übermorgen. Ich dachte, du kannst mich vielleicht begleiten. Dann können wir uns eventuell ein besseres Bild machen und herausfinden, ob wir – also Ayumi und ich – in Gefahr sind oder ob an meinen Befürchtungen tatsächlich gar nichts dran ist. Vielleicht rückt dieser Witzbold ein paar Informationen heraus – so von Kollege zu Kollege, verstehst du?“

„Von Kollege zu Kollege? Ich glaube, du träumst. Botho, ich sagte dir doch, ich bin nicht mehr im Dienst! Der rückt bei mir keinen Furz an Information heraus, das darf er auch gar nicht, denn …“

„Ich bezahle dich natürlich“, warf Botho ein.

Heribert wollte etwas einwenden, doch Botho wehrte es ab.

„Keine Widerrede, Berti. Ich zahle dir pro Tag“, er dachte kurz nach, „fünfhundert Euro plus Spesen, wenn du der Sache auf den Grund gehst und mich zur Kripo begleitest. Und du ziehst, bis alles geklärt ist, bei uns ins Gästezimmer.“

„Wie stellst du dir das vor? Ich habe zu Hause noch Sachen zu erledigen.“

„Dann erledige das, und dann kommst du zurück – wird ja nicht Wochen dauern, vermute ich.“

Heribert zögerte und fragte sich, was für Informationen sich sein Freund eigentlich erhoffte, dann nickte er zustimmend.

„Na gut, reicher Mann. Abgemacht – Personenschutz und ein bisschen herumschnüffeln. Von irgendetwas muss der Mensch schließlich leben.“

Draußen, unter der Laterne, suchte er später den Bürgersteig ab und wurde tatsächlich fündig. An der Mauer, die Bothos Grundstück zu seinem Nachbarn abgrenzte, fand er den Stummel eines Zigarillos mit weißer Spitze. Ayumi blickte ihn erstaunt an, als er wieder vor der Tür stand und um ein Plastiktütchen bat.

9

Gestern hatte es geregnet, doch heute würde es ein schöner Tag werden. Durch die Nebelschleier drangen die ersten Sonnenstrahlen. Vom Tau war die Wiese noch feucht und roch würzig. Silbrige Wasserperlchen auf kleinen Spinnennetzen blitzten plötzlich überall auf. Was für ein Zauber, hätte seine Mutter, Gott hab sie selig, vermutlich jetzt gesagt. Ein schlechtes Gewissen beschlich ihn. Denn seine Mutter und er hatten es gut miteinander gehabt – das beste Verhältnis überhaupt, ein Herz und eine Seele, wie man so schön sagte. Nur als es mit ihr zu Ende gegangen war, hatte er, das einzige Kind seiner Mutter, ihr nicht beistehen können – oder wollen. Seinen Vater hatte er nie kennengelernt und so gesehen auch nie vermisst.

Er pfiff vor sich hin, während er seine beiden Möpse von der Leine ließ. Sie versuchten, Schritt mit ihm zu halten, fingen aber bald an zu japsen, und Lude verlangsamte seine Schritte, während er die Umgebung aufmerksam absuchte. Außer ihm schien noch niemand im Park unterwegs zu sein, keine anderen Hundebesitzer – erstaunlich.

 

Er zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Er war zufrieden, die Geschäfte liefen gut – sehr gut sogar. Langsam konnte er sich zur Ruhe setzen. Nur, wer konnte seinen Platz einnehmen? Er war unverheiratet, und Kinder waren nicht vorhanden. Jedenfalls keine, von denen er gewusst hätte.

Er brauchte jemanden, dem er vertrauen konnte – es musste jemand mit Grips sein, kein Besserwisser. Gehorsam und jung musste er sein – Jan Husemann zum Beispiel! War der eine gute Idee? Er dachte einen Moment nach. Es würde sich zeigen – nur nichts überstürzen.

Zufrieden dachte er an seine klugen Entscheidungen, die er all die Jahre in geschäftlichen Angelegenheiten getroffen hatte – nicht selten gegen die Empfehlungen seiner Finanzberater und Geschäftspartner, und das zahlte sich jetzt eben aus. Er war reich – richtig reich! Neben einer Villa in Hamburg-Nienstedten besaß er diverse Grundstücke in ganz Deutschland und ein Mietshaus in San Francisco. Dort häufig unterwegs, hielt er in besagtem Haus das ganze Jahr über ein Appartement für sich und seine Kunden frei, mit Blick aufs Meer, wenn man oben auf der Dachterrasse mit Swimmingpool stand.

Doch seine Liebe galt einem Haus, das gerade fertiggestellt wurde, in Thailand, mit Blick aufs Meer, auf einer felsigen Anhöhe – von wegen Tsunami und so.

Lude plante alles. Bloß nichts dem Zufall überlassen – Sicherheit in allen Bereichen war das A und O. Feste Rituale bestimmten sein Leben, dabei war er zwanghaft und übte auf alles und jeden Kontrolle aus. Dieses Verhalten hassten seine Leute. Doch sie kannten den Grund nicht. Das Unvorhersehbare machte Lude Angst, wie eben auch das Unabänderliche – kurz, Lude fürchtete sich vor dem Tod.

Er nahm noch einen letzten, tiefen Zug von seiner Zigarette, warf dann den Stummel zu Boden und trat ihn aus. Er blies genüsslich einen Rauchring in die Luft und blickte ihm nach. In Thailand würde er sich nicht mehr die Nächte um die Ohren schlagen, wie bisher. Endlich mal Zeit haben, regelmäßige Tagesabläufe, vielleicht ein bisschen Sport treiben, den Blick aufs Meer genießen, ach und ganz wichtig – einen eigenen Koch, der für ihn gesunde Kost zubereitete. Er lächelte, es war alles bis aufs Kleinste für seine Zeit „danach“ geplant. Er würde sich verwöhnen lassen. Er grinste und gab ein unterdrücktes Stöhnen von sich ... ah, Ganzkörpermassage – auch sein Schwanz hatte es bitter nötig! Er dachte an die Kunststückchen der kleinen Thaimädchen und -jungen. Es war ihm egal – beide Geschlechter hatten ihre Vorzüge. Was ihn betraf: Er war in beide Richtungen spitz und würde sie für ihre Dienste gut bezahlen. So konnte man einem angenehmen und hoffentlich langen Lebensabend beruhigt entgegensehen.

Er wunderte sich, immer noch war es erstaunlich still. Nur aus der Ferne hörte man, wenn man sich konzentrierte, das Rauschen des Großstadtverkehrs. Er liebte seine Spaziergänge bei Tagesanbruch – nach dem Geschäft.

Lude musste plötzlich daran denken, wie er vor ein paar Tagen, hier in der Nähe, nachmittags ein paar Runden gedreht hatte. Dabei war er immer wieder an einem Haus aus der Kaiserzeit vorbeigekommen, das renoviert wurde und gerade neuen Stuck bekam. Bei der ersten Runde hatte einer der Stuckateure seinem Kollegen einen Vortrag darüber gehalten, wie man am besten kackte, ohne dass es im Toilettenraum hinterher stank. Man musste zeitgleich, während die Wurst ins Klo flutschte, die Spülung betätigen – ganz einfach. Wo denn dann die Gemütlichkeit der „Sitzung“ bliebe, hatte der andere Kollege wissen wollen. Lude war schon zu weit weg gewesen, um die Antwort zu hören, gab aber dem, der gefragt hatte, recht. Themen hatten die Leute! Doch er wunderte sich nicht. Die meisten Menschen waren schlicht. Nahrungsaufnahme, Verdauung, Triebbefriedigung. Wenn man das wusste, konnte man damit gut Geschäfte machen. Und war er selbst anders?

Als er bei seiner zweiten Runde wieder an den Handwerkern vorbeigekommen war, war es um die Welt, insbesondere die westliche, gegangen. Zwar würde viel über Empathie gesprochen, doch in Wahrheit sei man ausschließlich am gegenseitigen Benutzen interessiert. Dieses Verhalten bringe immer mehr Narzissten hervor. Das Leben drehe sich nur noch um das eigene Ego, ohne Gewissen und ohne Mitgefühl. Lude hatte unwillkürlich in sich hineinschmunzeln müssen, denn genau von diesen Personengruppen lebte er, und zwar gut.

Und dann, bei der letzten Runde, da hatte sich nun der andere Kollege echauffiert – über Leute, die ständig und überall Kopfhörer trugen und so laut Musik hörten, dass die Umgebung gezwungen war mitzuhören. Die reinste Folter! Dann hatte er einen imaginären Revolver gezogen, ihn an seine Schläfe gesetzt und abgedrückt.

Lude hielt abrupt inne. Apropos ... er begann, in der geräumigen Innentasche seiner weiten Jacke zu kramen ... ah, da waren sie – seine Kopfhörer. Er stöpselte sie ins Ohr, regulierte die Lautstärke und beschleunigte seinen Schritt.

„Slave to the Rhythm“ – er liebte Grace Jones.

Als seine Hunde plötzlich stehen blieben und sich neugierig umblickten, bemerkte er diesen Umstand nicht. Eine krächzende Stimme lockte mit Leckerchen. Lude bemerkte auch dies nicht. Nur seine Hunde drehten plötzlich ab, um der schmeichelnden Stimme aus dem Gebüsch zu folgen, während ihre Schweineschwänzchen sich aufgeregt drehten in Erwartung der Leckerlis.

Eine aufgeschreckte Rabenkrähe flog plötzlich aus dem Gebüsch.

Lude blieb abrupt stehen – wo zum Teufel steckten seine Möpse? Er wollte sich gerade umdrehen und nach seinen Lieblingen pfeifen, als er ein Geräusch hinter sich hörte und sein Kopf fest nach hinten gezogen wurde. Er hörte das Knacken der Wirbel, spürte den Schmerz und erahnte mehr als dass er sie sah – die Klinge, mit der der präzise und tödliche Schnitt ausgeführt wurde.

Noch während er stürzte, sah er, wie in Zeitlupe, den Blutschwall, der sich auf den Boden ergoss und das Gras rot färbte. Ein paar Blutstropfen waren weiter weg auf die filigranen Spinnweben im Gras gespritzt. Lude sah es, während er zu Boden ging, und wunderte sich, wie schön es aussah, während alles bizarr und unwirklich wurde – sein Geist zunehmend dahintrieb.

Von irgendwoher, weit weg, wie durch Watte, drang immer noch Grace Jones zu ihm durch – „Slave to the Rhythm“, was für ein Song. Dann sah er das Paar Turnschuhe direkt vor seinem Blickfeld auftauchen. Irgendetwas war komisch, doch er folgte diesem Gedanken nicht mehr. Er seufzte, rang nach Luft und hörte sein eigenes Gurgeln. Ein letztes Mal bäumte er sich gegen den heftigen Schmerz auf. Durch die gespreizten Beine seines Mörders glitt sein letzter Blick zu den glitzernden Spinnennetzen. Wie bei einem sauguten Foto, dachte er und spürte plötzlich keinen Schmerz mehr.

Dann wurde alles still.

10

Heribert gähnte und blickte Botho von der Seite an. Sein Freund sah müde aus. „Kaffee wäre jetzt gut. Gibt weit und breit keinen Automaten hier – habe ich schon ausgespäht.“

„Die Kripo Korbach kocht eben ihren eigenen Kaffee – schmeckt auch besser als die Plörre aus den Automaten“, erwiderte Botho und gähnte ebenfalls.

Eine hübsche, brünette Polizistin ging mit einem Pott Kaffee bestückt den Flur entlang.

Heribert schloss die Augen. „Riechst du das?“

Botho grinste und blickte der Frau sehnsüchtig hinterher. „Mhm.“

„Herr Lange?“

Ein schlanker Mittdreißiger blickte sie fragend an. Botho stand auf.

Der Mann reichte ihm die Hand. „Ich bin Kriminalhauptkommissar Witzbold, kommen Sie bitte mit.“

Als Heribert Anstalten machte, ebenfalls mitzukommen, ging Witzbolds Blick irritiert zwischen den Männern hin und her.

„Das ist mein Freund Heribert Falk, den ich zu meiner Unterstützung mitgebracht habe“, erklärte Botho, „ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.“

„Natürlich nicht. Allerdings verstehe ich nicht, warum Sie glauben, Unterstützung zu brauchen. Ich vernehme Sie nur als jemanden, der Herrn Zeller gut gekannt hat und uns bei den Ermittlungen mit sachdienlichen Hinweisen behilflich sein kann.“

Er reichte Heribert die Hand. „Ich vermute, Sie sind Anwalt?“

„Nein, Kriminalhauptkommissar wie Sie, allerdings außer Dienst.“

Dass er Fallanalytiker war, behielt er lieber erst mal für sich.

„Aha, wie das?“ Witzbold blickte ihn neugierig an.

Einen Moment zögerte Heribert, bevor er antwortete.„Der Wunsch nach Veränderung.“

Er mochte nichts zu den weiteren Umständen seines Ausscheidens bei der Kripo sagen und hielt sich auch später, nach der Vernehmung Bothos – beim Small Talk – eher bedeckt, hörte zu, während er den von Witzbold servierten Kaffee dankbar trank.

Tatsächlich konnte Botho keine nennenswerten Hinweise zu dem Ermordeten geben und musste erstaunt feststellen, dass er Walter Zeller nicht wirklich gut gekannt hatte. Er lebte allein in einem Einfamilienhaus in Wolfhagen, das wusste er, und dass Zeller kinderlos geschieden war.

Ob Zeller noch andere Klienten in Steuerangelegenheiten beraten hätte, wollte Witzbold wissen. Botho gab an, dass er auch darüber keine Kenntnis habe. Auch die Fragen zu seinem Umfeld – ob Zeller eine Beziehung gehabt hätte – konnte er nicht beantworten. Sein Kontakt mit Zeller habe sich ausschließlich auf das Geschäftliche beschränkt, abgesehen von ein paar Arbeitsessen, erklärte er abschließend.

Heribert und Botho tranken ihren Kaffee aus, und Witzbold bedankte sich. Er begleitete beide nach draußen.

Jemand war damit beschäftigt, an der Flurwand ein Plakat zu befestigen. Heribert blieb stehen und drehte um. Er war schon fast an der Fahndungswand vorbei gewesen. Nachdem er den Text auf dem Plakat gelesen und dabei zunehmend schockiert ausgesehen hatte, wendete er sich Witzbold zu.

„Abraxas Lemm konnte aus dem Gefängnis entkommen?“

Witzbold nickte.

„Vor etwa einer Woche. Er saß in der Justizvollzugsanstalt in Butzbach ein, mit anschließender Sicherungsverwahrung. Sie sind mit dem Fall vertraut?“

„Ob ich mit dem Fall vertraut bin? Und ob ich das bin! Ich habe den Hurensohn hinter Gitter gebracht!!“

„Ach, Sie waren das?“

Witzbold warf ihm einen Blick zu, der sowohl Erstaunen als auch Anerkennung zum Ausdruck brachte. Für einen Moment herrschte Schweigen.

„Aber wie konnte dies passieren?“, wollte Heribert wissen.

Witzbold zögerte und blickte zu Botho.

Heribert verstand. „Botho, nur einen Moment, ich komme gleich.“

Der Kripobeamte schloss die Tür und wendete sich Heribert zu, der ihn erwartungsvoll anblickte.

„Lemm musste ins Krankenhaus und hat dort seinen Bewacher niedergeschlagen.“

„Was?“

„Ja. Vermutlich eine Verknüpfung unglücklicher Umstände.“

„Wie bitte?“

„Lemm schien krank – in wirklich schlechter Verfassung – zu sein, als er in die Klinik kam. Als man ihm eine Infusion anlegte und ihm deshalb kurz die Handschellen entfernte, tja, da musste ausgerechnet einer der zwei Sicherheitsbeamten dringend auf Toilette. Lemm hat die Gelegenheit genutzt und konnte entkommen.“

„Nicht zu fassen!“

Heribert konnte sich nur schlecht beherrschen.

„Das ist doch keine Verknüpfung unglücklicher Umstände! Die Wachleute haben sich schlicht und ergreifend nicht an die Vorschriften gehalten!“

„Und haben die Situation und die Gefährlichkeit von Lemm unterschätzt. Das ist grobe Fahrlässigkeit. Ich sehe es wie Sie, Herr Falk. Ein Disziplinarverfahren ist auch bereits eingeleitet.“

Tausend Gedanken schossen Heribert gleichzeitig durch den Kopf. Wie war es Lemm anschließend gelungen unterzutauchen? Hatte er einen Komplizen gehabt? Vermutlich. Wenn dem so war, dann hatte er den Ausbruch wohl geplant. Und warum hatten seine Kollegen – stopp, seine Exkollegen – ihn nicht über Lemms Flucht informiert? Schließlich war Lemm ein gefährlicher Psychopath und alles andere als gut auf Heribert zu sprechen.

„Warum zum Teufel wurde in den Medien nicht darüber berichtet? Die Leute müssen doch informiert werden, wenn ein gefährlicher Serienkiller auf freiem Fuß ist.“

Er gab sich selbst die Antwort.

„Vermutlich will keiner für derartige Schlampereien Verantwortung übernehmen – alles nur Politik! Und wenn niemand etwas erfährt, ist es auch nicht passiert.“

Er rief sich zur Ordnung und beruhigte sich. Dann fiel ihm Witzbolds Blick auf, mit dem der ihn merkwürdig fixierte. Er hatte etwas Unentschlossenes.

Der Kripobeamte gab sich einen Ruck.

„Ich darf Ihnen, wie Sie ja wissen, zu den Ermittlungen eigentlich nichts sagen, und ich bitte Sie inständig, das, was ich Ihnen jetzt sage, für sich zu behalten. Versprechen Sie mir das?“

 

Heribert nickte und spitzte die Ohren. Was mochte jetzt kommen?

„Die Leiche von Walter Zeller wurde ‚zugerichtet‘. Und ich meine zugerichtet.“

Heribert stutzte. „Zugerichtet!“

Er dachte einen Moment nach, dann fiel der Groschen.

„Sie meinen – es gibt Ähnlichkeiten zwischen den früheren Mordopfern von Abraxas Lemm und Zeller?“

Witzbold nickte. Sein Handy summte. Er hörte eine Weile zu, beendete dann das Gespräch und blickte Heribert vielsagend an.

„Was haben Sie jetzt vor?“

Heribert zuckte mit den Schultern und zog eine Grimasse.

„Weiß noch nicht, mich vielleicht vor Lemm verstecken? Falls er sich an mir rächen will, wie er es ja bei seiner Verurteilung angedroht hat!“

„Das meinte ich nicht. Haben Sie Zeit? Jetzt gleich?“

„Wieso?“

Witzbold antwortete nicht und blickte ihn eindringlich an.

Heribert zuckte mit den Schultern. „Herr Lange und ich wollten jetzt eigentlich wieder zurück nach Kassel fahren.“

„Okay, dann kommen Sie, wir haben denselben Weg. Das wird Sie interessieren, Herr Falk.“

Er schnappte sich seine Jacke, und beide verließen das Büro.

Als Botho von ihm wissen wollte, was los sei, hielt er sich bedeckt und wich Bothos Fragen aus. Heribert hatte vor, sich an sein Versprechen zu halten, das er Witzbold gegeben hatte. Der Freund verstand und insistierte nicht weiter.

Wieder in Kassel, hatte Heribert Botho in der Nähe seines Geschäfts abgesetzt, das der in Kassel auf der verkehrsberuhigten Königsstraße betrieb, und war dann weiter zu der Adresse gefahren, die ihm Witzbold genannt hatte.

Heribert parkte seinen Wagen hinter der Komödie. Dann lief er zur Friedrich-Ebert-Straße. Er ging noch ein kleines Stück geradeaus und betrat das unscheinbare Gebäude. Ein uniformierter Polizist verstellte ihm den Weg. Heribert fiel ein, dass er noch seinen Dienstausweis hatte. Doch bevor er eine Straftat begehen und den Ausweis vorzeigen konnte, kam Witzbold ihm zuvor und erklärte dem Beamten, dass Heribert ein Kollege war.

Das ganze Gebäude war eine einzige Schließfachanlage, die mit biometrischer Authentifizierung arbeitete. Etwas weiter hinten, direkt vor einem geöffneten Schließfach, waren die Kollegen von der Spurensicherung bereits geschäftig. Und dann sah Heribert den abgetrennten Zeigefinger am Boden liegen – und Erbrochenes, vielleicht von der Person, die den Finger entdeckt hatte. Der Finger stammte von einer Männerhand. Derartiges hatte Heribert zwar schon oft gesehen, doch auch jetzt drehte sich ihm der Magen um. Das leise Fiepen in seinen Ohren, das er schon den ganzen Tag vernommen hatte, schien plötzlich lauter zu werden. Er versuchte jedoch, es zu ignorieren.

„Wir vermuten, dass es sich um den abgetrennten Finger Walter Zellers handelt“, erklärte Witzbold.

„Glaub ich auch.“

Beide starrten, während es in ihren Köpfen arbeitete, auf das immer noch am Boden liegende Körperteil. Es war behaart und bereits dunkelblau angelaufen.

„Ich fress ’nen Besen, wenn das nicht Zellers Finger ist“, knurrte Heribert, „das wäre ein bisschen zu viel Zufall, wenn es nicht so wäre, finden Sie nicht auch?“

Witzbold nickte. „Einer der Angestellten schaut gerade nach, wem das Schließfach gehört.“

Heribert stutzte. „Jetzt erst?“

Witzbold zuckte mit den Schultern. „Vielleicht die allgemeine Aufregung. Man findet nicht jeden Tag einen abgetrennten Finger.“

Das stimmte vermutlich.

„Ich erwarte zeitnah die Ergebnisse der Spurensicherung und den Obduktionsbericht der Gerichtsmedizin.“

Heribert blickte ihn verwirrt an.

Witzbold half ihm auf die Sprünge. „Vom Tatort in Wolfhagen und Zellers Leiche.“

„Ist mir klar.“

„Kann ich auf dich zählen?“

Heribert stutzte. „Zählen, Herr Witzbold, auf was denn?“ Doch ein Blick in Witzbolds Gesicht ließ ihn die Antwort erahnen.

Olav schien sich Unterstützung von ihm zu erhoffen – eine Zusammenarbeit. Schließlich war die operative Fallanalyse Heriberts tägliches Brot … gewesen. Und für den Fall, dass es sich um den Auftakt einer Mordserie handelte, für die Abraxas Lemm tatsächlich als Täter infrage kam, war Heribert geradezu ein Glückstreffer. Schließlich kannte er sich mit Lemms Täterprofil bestens aus. Außerdem würde er ein persönliches Interesse daran haben, den Fall so schnell wie möglich aufzuklären.

Und diese Einschätzung stimmte. Heribert wog das Für und Wider hinsichtlich Olavs Vorschlag ab und kam zu dem Ergebnis, dass er profitieren konnte, wenn er ihn bei den Ermittlungen unterstützte. Im Interesse von Botho und Ayumi – eine Win-win-Situation sozusagen. Doch er wusste, dass dies nicht der einzige Grund war. Wenn Abraxas für den Mord verantwortlich war, dann musste er selbst sich vor ihm vorsehen, schließlich hatte Lemm geschworen, sich an ihm zu rächen – ihn zu töten.

Heribert gab sich einen Ruck. „Klar! Ich unterstütze dich. Und wenn es sich hier tatsächlich um die Tat von Abraxas Lemm handelt … also, wenn, dann findest du vermutlich niemanden, der sich mit dessen Täterprofil so intensiv beschäftigt hat – sprich auskennt – wie ich!“

Witzbold nickte zufrieden. „Genau!“

„Vermutlich werden dann bald auch die Kollegen von Wiesbaden hinzugezogen.“

Olav ging nicht darauf ein. „Wir sind uns einig?“

Heribert nickte.

Jemand von der Spurensicherung verpackte den Finger in ein Plastiktütchen. Heribert wendete sich ab. Verdammt – eigentlich hatte er doch nur noch harmlose Fälle übernehmen wollen, wie etwa das Beschatten von Eheleuten, die ihren Partner der Untreue überführen wollten, oder so etwas in der Art.

Und nun sah es ganz so aus, als wäre er wieder in­mitten einer Sache, von der er jetzt schon wusste, dass sie ihm den Schlaf rauben würde. Doch er kam nicht raus aus der Nummer – er hatte seinen Freunden versprochen zu helfen. Schon jetzt lief in seinem Inneren der altbekannte Film ab. Er sah sich an diversen Tatorten inmitten der Leichen, für deren Ermordung Lemm verantwortlich gewesen war – scheuß­lich!

Einer der Angestellten von der Schließfachfirma kam zu Witzbold und raunte ihm etwas zu.

Olav stutzte und blickte Heribert vielsagend an. „Tja, wie schon vermutet – das Schließfach gehört Walter Zeller!“

„Und ist komplett leer.“