In Bed with Buddha

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Hilferufe von drüben

DIE DDR WAR FÜR MICH, der ich in Münster nahe der holländischen Grenze aufwuchs, ein fernes, exotisches Land. Keiner von uns war je dort gewesen, wir kannten niemanden da, und hinfahren wollte erst recht keiner.

Dementsprechend befremdlich wirkte auf mich die Aufregung, die um diesen Langweilerstaat permanent ver­anstaltet wurde. In der Schule durften wir ihn nicht einmal so nennen, wie er zu Hause selbstverständlich hieß, geschweige denn so aufschreiben. Hätte man ihn einfach ignorieren können, wäre das ja gar kein Problem gewesen, aber mit derselben Unbarmherzigkeit, mit der wir spätestens alle zwei Jahre in Biologie den Aufbau des Pantoffeltierchens erneut auswendig lernen mussten, hatten wir uns permanent in Geschichte, Politik und Erdkunde mit der DDR auseinanderzusetzen, ohne dass man sie so hätte benennen dürfen.

»Das heißt so genannte!«, fuhr einem der Politiklehrer über den Mund, wenn man die bösen drei Buchstaben arglos aufgezählt hatte, und in der Klassenarbeit Deutsch wurde es angestrichen, wenn man die Gänsefüßchen vergaß. Ebenso tabu war auf der anderen Seite die Benennung der staatlichen Konstruktion, in der unsere Stadt lag, als BRD. Denn dies, so wurde man nicht müde, uns zu erläutern, dies sei eine böse Falle der Kommunisten, die nur dazu diene, den Blick davon abzulenken, dass das ja schließlich alles Deutschland sei, ein Deutschland eben, das sei doch das Ziel der Russen und Honeckers, dass man nur noch von DDR und BRD spreche und Deutschland schließlich untergehe. »Deutschland« wurde merkwürdigerweise dennoch als Synonym für BRD allgemein akzeptiert.

Diese etwas eigenwillige Nomenklatur stieß zumindest in Geschichte und Erdkunde aber an die nicht anerkannten Grenzen, denn dort kam man ja nicht umhin, bei den ständigen Thematisierungen die beiden Gebilde auch unterschiedlich zu benennen, sodass dort die Schreibweise BR Deutschland vorgeschrieben war, bei einigen Lehrern war sogar das »BR« verpönt und musste ausgeschrieben werden. Einzig Herrn Humbert war das zu doof, und er kürzte an der Tafel gnadenlos in BuRepDeu, was einen empörten Vater unserer Jahrgangsstufe zur Intervention veranlasste, weil er die vermuteten subversiven, verfassungsfeindlichen Einflüsse auf uns Schüler unverantwortbar fand. Da aber niemand eine Verwendung von BuRepDeu in einem realsozialistischen Zusammenhang nachweisen konnte, durfte Herr Humbert weiter nach seiner Art abkürzen und galt fortan als fünfte Kolonne Moskaus in unserem bischöflichen Gymnasium.

Mit derselben Strenge aber, mit der wir den östlichen deutschen Staat negieren mussten, mussten wir ihn gleichzeitig füttern. »Hilferufe von drüben«, hieß die Aktion, und einer unserer Lehrer war einer ihrer großen Aktivisten. Sein liebstes Geschenk an uns Schüler war ein DDR-Länderkennzeichen-Autoaufkleber, nur dass das Oval bei Herrn Hohenborks Aufklebern von einem Stacheldraht eingegrenzt war. Was »Hilferufe von drüben« sonst so gemacht hat, weiß ich nicht mehr. Für uns jedenfalls bedeutete es vor allem eines: Wir mussten Kaffee ranschaffen. Kaffee, gebrauchte Kleidung und Damen-Strumpfhosen. Denn die so genannte DDR war ein Unrechtsstaat, in dem die Menschen mit Stacheldraht eingesperrt waren, damit sie sich keinen Kaffee, keine Jeans und keine Damenstrumpfhosen kaufen konnten. Diese menschenrechtsverachtende Praxis wurde aber von Herrn Hohenbork unterminiert, indem er Tausende von Paketen gen Osten entsandte, vollgestopft mit Tchibo, Wrangler’s und Nylon. Das ganze Zeug musste aber irgendwoher kommen. Die Kleidung war kein Problem, meine Mutter war eher ganz froh, weil der Altkleidercontainer der Diakonie in Wolbeck stand, und jetzt konnte sie den ganzen Ramsch einfach mir mit zur Schule geben. »Das kannst du doch nicht mehr tragen, Junge, nimm das mal mit zur Schule für die da drüben«, wurde ein häufig gesprochener Satz in Münster-Hiltrup.

Der Rest musste aber gekauft werden, und so mussten wir zur Geldbeschaffung ununterbrochen irgendwelche Aktionen durchführen, um den Kaffee-Nachschub für den Osten zu organisieren. Ich habe im Lauf meiner acht Gymnasialjahre zwischen 1981 und 1989 auf Schulfesten für Kaffee gesungen, für Kaffee Theaterstücke in der Aula aufgeführt, wir gingen in der Projektwoche durch Hiltrup sammeln für Kaffee, wir bastelten, tanzten, malten und spielten Volleyball für Kaffee – ja, ich habe Volleyball für Kaffee gespielt! Mit den Einnahmen aus diesen zahllosen Schulveranstaltungen ging Herr Hohenbork dann immer in den Ratio-Großmarkt und kam mit ganzen VW-Bus-Ladungen Meisterröstung wieder zur Schule zurück. Jede Klasse bekam dann einen großen Stapel ins Klassenzimmer gestellt und musste die ganzen vakuumverschweißten Pfunde in Pakete packen. Ich würde vorsichtig schätzen, dass jeder Schüler meines Gymnasiums bis zu seinem Abitur eine halbe Tonne Kaffee in die so genannte DDR gepackt hatte. Wenigstens durfte man beim Adressieren der Päckchen dann endlich mal DDR ohne Anführungszeichen schreiben, denn mit wäre aus der Kaffeelieferung sozusagen eine politische Paketbombe geworden, die von den Grenzern direkt beim Übertritt entschärft worden wäre, wie Herr Hohenbork warnte, und dann hätten die DDR-Grenzsoldaten unseren mühsam zusammengesungenen Kaffee in einer Pause zwischen zwei Erschießungen einfach aufgetrunken, was wir natürlich auch nicht wollten.

Aber neben dem politischen Kampf um das Überleben von Deutschland in unseren Klassenarbeiten und der Beantwortung der Hilferufe von drüben mit koffeinhaltigen Sendungen sollte auch noch die gar nicht vorhandene menschliche Bindung zu den Brüdern und Schwestern auf der anderen Seite gefestigt werden. Und so startete unsere Schule eine große Brieffreundschaftsaktion. Natürlich völlig freiwillig, wir lebten ja schließlich nicht in einem Unrechtsregime. Wer keine Lust hatte, musste auch nicht mitmachen – sondern lediglich in Einzelgespräche mit Klassen- und Vertrauenslehrer, mit Herrn Hohenbork und dem Vize-Direktor. Anschließend erhielt er eine besondere Förderung im Politik- und Geschichtsunterricht, da hier ja einige Defizite ganz offensichtlich waren, aber sonst konnte man sich völlig frei entscheiden. Entsprechend begeistert bettelten wir Herrn Hohenbork um Ost-Adressen an. Das führte zu interessanten Briefwechseln:

»Lieber Mario, ich hoffe, es geht Dir und Deiner Familie gut, obwohl Ihr in Jena lebt. Hat Deine Mutter genug zum Anziehen? Viele Grüße, Dein Heiko.«

»Lieber Heiko, viele Grüße auch von meiner Mutter, sie braucht jetzt wirklich keine Strumpfhosen mehr, und der Kaffee reicht auch noch eine Weile, außerdem meint sie, wir trügen die Hosen lieber ohne abgewetzte Knie, Dein Mario.«

Aber Herr Hohenbork meinte, so seien sie eben da drüben im Osten, ganz bescheiden, die trauen sich das gar nicht zu sagen, wie schlecht es ihnen geht, ja, die dürften das überhaupt nicht sagen. Wenn sie schreiben würden, dass sie Kaffee bräuchten, dann würde die Stasi sie sofort ins Gefängnis sperren, die müssen das also so sagen, das seien im Grunde ganz typische Hilferufe von drüben, die in Wirklichkeit bedeuteten, dass sie dringend viel mehr Anziehsachen und Kaffee bräuchten, sonst würden die das doch gar nicht erwähnen. Also musste wieder ein neues Paket geschnürt werden.

Nur einmal haben meine Hilfslieferungen wirklich große Begeisterung ausgelöst. Mario erwähnte, dass er ein großer Udo-Lindenberg-Fan sei, aber leider bekäme man ja nichts von dem in der DDR. Nun war meine Musiklehrerin zufällig dessen Cousine, und ich erzählte ihr von der Notlage in Jena. Zwei Wochen später drückte sie mir ein paar Autogrammkarten in die Hand, signiert mit: »Für Mario, Dein Udo«. Die schickte ich los, und bald darauf erhielt ich dann erstmals Jubelschreie von drüben. Fünf Doppelzentner Meisterröstung ohne nennenswerte Reaktion, aber bei sechs unterschriebenen Postkarten überschwängliche Dankesorgien. Dann kam die Wende, und meinen letzten Brief an Mario erhielt ich zwei Wochen später zurück mit dem Stempel: »Unbekannt verzogen«. Es war vorbei. Endlich.

Ich und das große Glück

MACHT LIEBE BLIND? ZUMINDEST wagemutig. Ich war schon lange an Sabrina interessiert, ich hatte ein paar Kurse mit ihr gemeinsam belegt, aber ich kam mit meinen Annäherungsbemühungen so recht nicht weiter. Als Sylvester nahte, sah ich meine große Chance kommen, zumal sie gerade zuvor endlich mit ihrem Freund Schluss gemacht hatte. Ich wollte mit ein paar Kumpels nach Berlin fahren; es war das Sylvester nach dem Mauerfall, wir wollten zum Brandenburger Tor, ein bisschen historischen Wind schnuppern, es versprach, interessant zu werden. Ich nahm allen Mut zusammen und fragte, ob sie nicht mitkommen wolle. »Leider nein«, antwortete sie, »ich fahre schon mit Taizé nach Breslau, zum Europäischen Jugendtreffen der jungen Christen. Wenn du willst, könntest du da aber auch einfach mitkommen!«

Ich zögerte keine Sekunde und sagte zu. Die Gelegenheit war einfach zu perfekt: Mehrere Tage mit ihr zusammen – wenn’s da nicht klappte, würde das nie was. Dafür konnte man auch diesen ganzen Christen- und Jugendfreizeitkrimskrams hinnehmen; als Schüler eines bischöflichen Gymnasiums war ich in diesen Dingen ohnehin gestählt.

Bald darauf ging es also los, unsere Gruppe traf sich am Bahnhof von Münster-Hiltrup. Ich landete im Zugabteil neben ihr. Alles lief nach Plan. Abgesehen vielleicht von dem infernalischen Gesinge, das Jörg aus dem Emmerbachtal gleich nach der Ausfahrt aus dem Bahnhof Hiltrup anstimmte. Ich tröstete mich damit, dass er das kaum bis Polen durchhalten würde. Ich sollte mich irren. Erleichtert atmete ich auf, als wir endlich in Helmstedt ankamen und die Grenzer in den Zug stiegen. Leider zeigte die DDR zum Jahreswechsel 1989/1990 schon erhebliche Zerfallserscheinungen, sodass ihre Repräsentanten nur gut gelaunt unsere Papiere flüchtig durchsahen und darauf verzichteten, Jörg wegen republikschädigenden Gesinges einfach mitzunehmen. Die polnischen Kollegen später waren noch etwas gewissenhafter, sodass zumindest für die halbe Stunde an der Grenze Ruhe herrschte. Danach schlief ich erschöpft ein. Und obwohl es mir gelang, meinen Kopf auf Sabrinas Schulter zu betten, hatte mein eigentlicher Plan noch keine Fortschritte gemacht – sie schlief trotz der höllischen Himmelsgesänge bereits seit Hannover. Aber ich konnte warten.

 

Als wir im Bahnhof Breslau ankamen, dachte ich zunächst, ich hätte den Akustikterror endlich überstanden. Aber schon in der Bahnhofshalle wurde klar, dass dies ein böser Irrtum war. Alles war voll mit gitarrenbewehrten Jungchristen. Mindestens vier verschiedene Gruppen sangen aus voller Kraft in unterschiedlichen Ecken, es war ein unfassbares Gewusel. »Sag mal, wieviele Leute kommen eigentlich zu diesem Treffen?«, fragte ich Sabrina entgeistert. »Och, so um die 50.000, glaube ich.« Vielleicht hätte ich mich doch vorher informieren sollen. Auf einem großen Pappschild erspähten wir den Namen unserer Gemeinde, und schon wurden wir abgeholt und zu der Zeltstadt gebracht, in der wir untergebracht werden sollten. Jetzt galt es, eine Schlafgelegenheit zu ergattern, die trotz Geschlechtertrennung wenigstens strategisch möglichst günstig zu meinem Ziel lag: Sabrina. Also wartete ich erst einmal ab, wo sie hinkam, während die anderen sich alle schon an verschiedene Schlangen anstellten. Sabrina erhielt einen Platz in einem etwas abseits gelegenen Zelt, ich versuchte es direkt daneben. Leider voll. Im Zelt daneben auch. Eine junge Polin eröffnete mir, dass es in der Nähe leider gar keinen Platz mehr gebe, genau genommen jetzt wohl auch in der ganzen Zeltstadt nicht mehr. Ich hätte aber großes Glück, denn somit würde ich privat in einer Gastfamilie untergebracht.

Mein großes Glück hieß Slowinski und hatte drei Zimmer, eine Frau, vier Kinder, einen Großvater sowie ein Badezimmer mit einer großen Zinkwanne, aber ohne warmes Wasser. Mein großes Glück wohnte lediglich etwa vierzig Minuten von der Zeltstadt entfernt. Und mein großes Glück begrüßte mich herzlich, indem es mir ein riesiges Stück einer fleischähnlichen Masse auf den Teller knallte, das die siebenköpfige Familie sich vermutlich vom Munde abgespart hatte. Dann saß das große Glück erwartungsvoll um den Tisch herum und beobachtete mich, wie ich das Zeug herunterwürgte und dabei versuchte, so zu tun, als sei ich ganz begeistert. Als Westfale ist man ja allerlei gewohnt, aber die etwa faustgroßen Speckklumpen, die mühsam unter dem grob zermahlenen Innereienmehl verdeckt waren, stellten doch eine ganz neue Herausforderung dar. Und schließlich offenbarte mir mein großes Glück, dass ich nun noch mit in die Spätmesse in die Kathedrale dürfe. Ich konnte mein Glück gar nicht fassen.

Es war etwa -20 °C, und obschon das Gotteshaus restlos von eingemummelten Gestalten überfüllt war, lagen die Temperaturen im Inneren nicht höher. Vermutlich waren die Polen, die diese Tundrabedingungen gut kannten, so perfekt isoliert wie die optimale Thermoskanne aus dem Physikunterricht. Ich hatte nicht mal lange Unterhosen. Einen Platz gab es nicht mehr für uns, was aber auch egal war, weil alle ohnehin nur auf dem eiskalten Steinfußboden knieten.

Nach anderthalb Stunden Hochamt fühlte ich mich dem Himmel so nah wie nie zuvor. Meine Kniescheiben hatten den Weg ins Paradies längst schon angetreten, waren aber im Fegefeuer hängen geblieben. Da war es mir auch schon egal, als mir zurück in der Wohnung als Gute-Nacht-Mahl noch ein weiterer Fleischklumpen vorgesetzt wurde. Ich versuchte meine Gastfamilie zu überzeugen, dass wir doch wenigstens ganz christlich teilen könnten, aber das ließ ihr Ehrgefühl offenbar nicht zu. Sie aßen stattdessen Brot mit Butter, worum ich sie sehr beneidete. Der Gedanke, dass das alles sehr gut gemeint war, wärmte mich aber ein wenig, als ich nachts den Festschmaus im Bad, dessen Klima einem Tierkühlschrank ähnelte, wieder erbrach.

Am nächsten Tag kam ich nach der Frühmesse verspätet zum Zeltlager. Meine Gruppe war schon weg, Sabrina hatte nicht auf mich gewartet. Stattdessen geriet ich in ein Besinnungsseminar, in dem über den aktuellen Hirtenbrief des Taizé-Sektenführers Frere Roger Schutz meditiert wurde. »Quellen des Vertrauens« hieß das Epos, und ich spürte, wie die meinigen allmählich versiegten. »Beim Aufschlagen des Evangeliums kann einem der Gedanke kommen: Die Worte Jesu gleichen einem uralten Brief, der mir in einer unbekannten Sprache geschrieben wurde«, rhabarberte es vom Vortexter. Während der folgenden Diskussionen kam mir ein ähnlicher Gedanke in der Tat mehrere Dutzendmal.

Erst kurz nach der Nachmittagsandacht sah ich Sabrina für einige Sekunden wieder, zumindest vermutete ich das, denn unter den Kleidungsschichten waren genaue Konturen längst nicht mehr auszumachen, außerdem waren meine Wimpern aneinander gefroren, was die Sicht zusätzlich beeinträchtigte. Ehe ich sie ansprechen konnte, hatte mein großes Glück mir aufgelauert und mich wieder direkt in die Kathedrale verfrachtet.

Meine letzten Hoffnungen ruhten auf Sylvester. Meine Gruppe war zum Feiern in einer Sporthalle am Stadtrand eingeteilt. Als ich dort ankam, stieß ich auf Jörg, der sich mit einer irischen Combo zusammengefunden hatte und gerade versuchte, »Unser Leben sei ein Fest« auf Gälisch mit vier Gitarren und einer Schalmei zu intonieren.

»Wo ist denn Sabrina?«, brüllte ich ihm zu.

»Ach, die ist heute morgen zurückgefahren. Hat die ganze Nacht geheult, ist jetzt zu Sylvester wohl doch sentimental geworden wegen ihrem Ex. Da hat Pater Norbert ihr irgendwie eine Rückfahrt organisiert.«

»Was?!«, brüllte ich ihn an, aber er hörte schon gar nicht mehr zu, sondern schmetterte bereits wieder im Chor der etwa zwanzig gälischen Christenkehlen mit.

Unnötig zu erwähnen, dass es als Partygetränk lediglich Kräutertee und Apfelsaft gab. In einer Ecke stand ein kleiner Fernseher, auf dem ohne Ton die Szenen aus Berlin vom Brandenburger Tor zu sehen waren – es sah nach einer ausgelassenen Feier aus. Und ich saß hier, 500 km weiter östlich, in Breslau, unter 50.000 Jungchristen, wegen einer Frau, mit der ich kein Wort geredet hatte und die längst gar nicht mehr da war. Zu Mitternacht bildeten alle einen großen Kreis, fassten sich an den Händen und sangen gemeinsam, mit wachsender Begeisterung, immer wieder dieselben fünf Takte, aber in wechselnden Sprachen: »Alleluja! Glory be to you, O Lord. Alleluja, Gloria a te Signore. Alleluja, Ehre dir, oh Herr, mein Gott.« usw. usf.

Ob Liebe blind macht, weiß ich immer noch nicht. Auf jeden Fall aber taub. Das habe ich zu Sylvester 89/90 bewiesen.

Friseurstation 4B

WER IN EINEM ANFLUG VON Sozialromantik glauben möchte, es gebe im deutschen Gesundheitswesen keine wesentlichen Unterschiede zwischen Privat- und Kassenpatienten, der irrt. Immer, wenn ein Privatpatient auf unsere chirurgische Station kam, gab es ein großes Hallo. »Der ist privat«, tuschelten die Schwestern aufgeregt, und jedem, auch uns Zivildienstleistenden, wurde die Information mit höchster Priorität übermittelt. Unmittelbare Direktiven folgten nicht daraus, aber es wurde schon vorausgesetzt, dass wir die Privaten nicht wie jeden x-beliebigen Schnösel zu behandeln hatten. Sie kamen nach Möglichkeit in Zimmer 405 oder 406, die zwei luxuriösen Einbett-Suites, die unsere Station nach der Sanierung neu zu bieten hatte, selbst wenn sie nur »zweite Klasse« waren, also eigentlich nur ein verbrieftes Recht auf eine Zweibett-Unterbringung besaßen.

Und – unsere Privaten genossen außerdem eine Spezialbehandlung durch die Stationsleiterin, Schwester Eu­ge­nia, die die Titulierung »Schwester« in jedem Fall völlig zu Recht trug, denn sie war eine solche vom Heiligs­ten Herzen Jesu, eine Nonne also, etwas profaner gesprochen, oder wie mein Vater sagte: ein Pinguin, denn unser Krankenhaus war an ein Kloster angeschlossen und wurde vom Bischof unterhalten. Schwester Eugenia sah es als ihre oberste und heilige Pflicht an, die präoperative Versorgung unserer Patienten selbst vorzunehmen. Wohl­gemerkt, bei den Patienten; die Patientinnen überließ sie wie üblich den weltlichen Schwestern. Zur Vorbereitung gehörte, sofern es sich nicht mal wieder um eine Struma handelte, oft eine gewissenhaft durchzuführende Scham­haarrasur. Als einzigem männlichen Bediensteten der Station 4B fiel diese Aufgabe normalerweise mir zu, denn die normalen Schwestern hassten den Job. Fast immer mussten sie unerträgliche Anzüglichkeiten über sich ergehen lassen, und nicht selten, so berichteten sie genervt, umfassten die Vitalfunktionen des Blinddarms, des Leistenbruchs oder der Varizen noch eine ansehliche Erektion. Eine 17-jährige Schwesternschülerin erzählte gar schockiert, bei der ersten Rasur, die sie bei einem Mann allein vornehmen musste, habe sie sich etwas ungeschickt angestellt und ziemlich lange herumgehampelt, und der Typ hatte nicht nur eine Erektion, sondern gleich anschließend noch eine Ejakulation präsentiert und sich danach nicht etwa peinlich berührt entschuldigt, sondern allen Ernstes bedankt und ihr Trinkgeld angeboten.

Kurzum: wann immer möglich, fiel der Job mir zu. Ich war ein großer Schamhaarfriseur, der unangefochtene Coiffeur des männlichen Genitalbereichs, der Udo Waltz von Station 4B. Ein paar Latexhandschuhe, zwei bis drei Einmalrasierer, eine Nierenschale für die Beute und ein Schwung Zellstofftücher zum Auffangen irrlaufender Krüsselhärchen, mehr brauchte ich nicht. Die Rasur erfolgte stets trocken und ohne vorbereitende Maßnahme. Ritsch, ritsch, ritsch, schon tobten die Schammäuse ausgelassen umher und landeten in der Nierenschale. Oft wurde ich von sehr leidend dreinschauenden OP-Opfern gefragt, warum es keine Nassrasur gebe, das sei doch viel sanfter. Ich wusste es auch nicht, es war eben so. Ich schob medizinische Gründe vor. Ritsch! Ich rechtfertigte mein Tun vor mir selbst, in dem ich mir sagte, auf diese Weise nahm ich den Patienten die Angst vor der Narkose. Ritsch! Ich war mir sicher, die meisten sehnten sich geradezu nach der Narkose! Ritsch! Ritsch!

So ging das also normalerweise. Aber nicht bei Privaten. Da durfte nur Schwester Eugenia persönlich ran. Und ich musste assistieren, hielt also das Besteck und stand daneben. Vorher hatte ich bereits die Thrombose-Strümpfe ausgeteilt, weiße, stramme Synthetiktextilien, die bis fast in den Schritt reichten. Ich verteilte die Dinger und wies die Patienten an, sie umgehend anzuziehen. So lagen sie dann in ihren Betten, als ich schließlich mit Schwester Eugenia in ihre Suite einfiel. Wie gesagt – in der Regel ein Einzelzimmer. Keine Zeugen. Dann mussten sie sich aufdecken und die Unterhose auf Befehl der Nonne ausziehen. Nur sehr zögerlich leisteten sie Folge und lagen anschließend untenrum nackt da, nur mit den halb durchscheinenden, weißlichen Strümpfen gekleidet, die lustige blaue oder gelbe Ringel in Schritthöhe aufwiesen. Eugenia und ich zogen uns dann synchron die Handschuhe an. Eugenia war die Einzige, die ein richtiges Rasiermesser benutzte, nicht die Einmaldinger. Ich schob die blitzende Klinge ein und reichte es der frommen Frau. Der Patient, entblößt und thrombosebestrumpft, blickte uns mit weit aufgerissenen Augen an. »Und was kommt jetzt ...?«, fragte er meist noch mit panikerfüllter Stimme. »Jetzt bereiten wir uns mal schön auf die Operation vor«, sagte Eugenia in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Dann hielt sie das Rasiermesser hoch wie eine Armbrust, die gespannt werden musste, und jetzt begann sie, die blitzschnelle Attacke der Dame vom Heiligsten Herzen Jesu auf das Allerheiligste des Privatpatienten. Ehe der wusste, wie ihm geschah, hatte ich schon die ersten Löckchen aufgefangen und in die Nierenschale gewischt. Der Hauptteil ging zügig vonstatten. Schwester Eugenia kappte das Haar mit wenigen, jahrzehntelang eintrainierten Handgriffen in Nullkommanix. Dann setzte sie erneut an, um auch die kleinen Stoppeln und Stummeln rückstandslos zu entfernen, kräftig ließ sie das Gerät eine Handbreit unter dem Bauchnabel auf das entblößte Fleisch schlagen, drückte es tief ein und zog es mit derselben Professionialität, mit der eine Scheibenputzkolonne die Gummiabzieher über die Glasfronten tanzen lässt, über den Unterbauch bis zum Anschlag an die Peniswurzel. Exakt elf dieser tief furchenden Züge, die erst Millimeter vor dem Schwellkörper von Maximalgeschwindigkeit auf null abgremst wurden, waren erforderlich, dann war im oberen Bereich alles clean.

Ich habe in meinen anderthalb Jahren Zivildienst bei Dutzenden dieser Einsätze assistiert, und in der ganzen Zeit war das garantiert Einzige, was dabei steif wurde, der Patient selbst, der starr vor Entsetzen auf seinem Bett lag und sich im Angesicht der blitzenden Klinge, die um seine empfindlichsten Stellen wirbelte, nicht die kleinste Bewegung traute. Dann begann die Detailarbeit: »Stellen Sie mal ein Bein auf«, befahl die Nonne. Mit spitzen Fingern ergriff sie das kaum noch auszumachende, zusammengeschrumpelte Gemächt und zog es sehr stramm nach oben, ein bisschen, wie ein Huhn, das einen Wurm aus dem Boden zieht, der sich verzweifelt zu verankern sucht und vom kräftigen Schnabel länger und länger gedehnt wird, schnabelgleich waren auch Eugenias Finger, sie zog bis kurz vor den Moment, in dem der Wurm zerreißen würde, sie zog und zog, bis das Würmchen maximal gestreckt war und somit die ehemals schlaffe und faltige Skrotum-Haut nun eine straffe, faltenfreie Fläche bot, über die Eugenia gründlich und ausgiebig schaben konnte. Das war der Moment, wo meiner Beobachtung nach mindestens 80 % der Männer die Augen schlossen und schwer schluckten, wohl in der Hoffnung, so den schlimmsten Moment der Prozedur zu überstehen. Doch sie täuschten sich. Dies war nur das Präludium für das große Finale. Denn jetzt ließ Eugenia das Stümmelchen mit demselben kindlichen Vergnügen, mit dem man früher Weckgummis hat fliegen lassen, zurückschnappen, nur um in der nächsten Sekunde mit der ganzen Hand voll darauf zu langen, herzhaft den gesamten Geschlechtsapparat zu ergreifen und ihn kräftig so weit wie möglich zur Seite zu drücken, während sie an der dadurch freigelegten Leiste fröhlich weiterschabte. »So«, verkündete sie schießlich, »geschafft«, der Patient öffnete zaghaft die Augen, nur um zu sehen, wie der beschleierte Pinguinkopf sich nun tief über seinen Schoß beugte, sich die Lippen in wenigen Zentimetern Abstand zum Opera­tionsgebiet schürzten, um dann... – ja, ich muss es hier einfach so formulieren –, um dann kräftig zu blasen, zu blasen und nochmals zu blasen, Eugenia blies, wie wenn man bei einem Geburtstagskuchen die Kerzen auspustet, sie entfesselte einen Sturm der Leidenschaft zur Sterilität, zur größtmöglichen Reinheit im Dienst am Nächsten, am Allernächsten, sie blies und blies, bis das allerletzte Härchen davon gestoben war, und hier wurde wirklich ein Licht ausgeblasen, denn egal ob Manager oder Studienrat, ob Banker oder Amtsleiter, all die wichtigen, privat versicherten Männer der katholischen Stadt Münster wurden von Schwester Eugenia zu kleinen, jämmerlichen Häufchen Elend zurecht geblasen, die den göttlichen Beistand niemals intensiver ersehnten als in diesem Moment, und erst recht im nächsten, denn kaum war das Auge des Hurrikans vorbeigezogen, spielte ein diabolisches Lächeln um die Mundwinkel der Dienerin des Herrn, dann zauberte sie mit einer lässigen Bewegung ein kleines Plastikfläschchen aus den Tiefen ihres Kittels, und ohne Vorwarnung zerstäubte sie eine klare Flüssigkeit auf die freigelegte Genitalregion, zischte ein kurzes: »Noch ein bisschen Klostergeist, damit sich nichts entzündet«, während der Patient nun hemmungslos aufjaulte wie ein kleiner Junge, sich zusammenkrümmte und sich mit den Händen hilflos den teuflisch brennenden Schambereich, diesen Eingang zur Hölle hielt. Schwester Eugenia lächelte, verabschiedete sich, und versprach: »Der Anästhesist kommt dann gleich.« Und wieder hatte sie einem Privatpatienten in diesen gottesfürchtigen Hallen Ehrfurcht gelehrt. Zufrieden folgte sie mir nach draußen.

 
Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?