Anfang und Ziel ist der Mensch

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Die Anfänge im Wilhelminischen Reich

»Ein Visionär, dem seine Höhle in Flammen steht, dem jedes Schneckenhaus zum Feenpalast aufschießt, hinter jedem Felsblock Satan hervorschnellt und lechzende, schwarze Blicke aus allen Morgennebeln brechen, das war er sieben Jahre, aber dann – : Dann fand er heim in das Reich, in dem er sich selbst erkannte in den Bildern, die alle auf Größe und Lust aus waren, zu den Gefilden der Helden, worin keine Träne lange hängen blieb, zu dem ewig jünglinghaften Volk, – heim zu jenen Werken, jenen weiten Ländern, die er bevölkerte mit seinen Halbgöttern, verschlossen, langsam, stark und ohne Lachen – : die italienischen Romane.«

Gottfried Benn über Heinrich Mann (1930)

Vorbemerkung

Nach dem unerwartet frühen Tod seines Vaters 1891 fühlte Heinrich Mann sich im eigentlichen Sinne des Wortes frei. Frei, Schriftsteller zu werden. Er machte sich auf, das Leben kennenzulernen. Er schöpfte die Tiefen und Untiefen des Seins aus. Italien wurde zu seinem Lebensmittelpunkt. Zu Beginn der Neunzigerjahre schrieb er seinen ersten Roman und verfasste die ersten Novellen. 1895/96 leitete er das monatlich erscheinende Journal Das Zwanzigste Jahrhundert, in dem er zahlreiche publizistische Beiträge veröffentlichte. Hier entstanden auch seine ersten politischen Essays im Geist des Wilhelminischen Zeitalters. Literarisch wandte er sich zunächst der Neuen Romantik und dem französischen Schriftsteller Paul Bourget zu, dessen psychologische, in einer mondänen Welt spielenden Romane und geistreichen Abhandlungen ihn tief beeindruckten. Nach Bourget wurde Nietzsche sein großer Lehrmeister. Mit Nietzsche wandte er sich auch vom Wilhelminischen Zeitalter ab. Heinrich Manns Romane Im Schlaraffenland und Die Göttinnen zeigen ihn in seinem Geleit. Sie schildern eine Welt des hysterischen Individualismus und der Dekadenz im Zuge des sich zur Jahrhundertwende ausbreitenden Renaissancekults. Sie weisen aber auch bereits darauf hin, warum in dieser Kultur ihr Scheitern angelegt ist.

Fantasien über meine Vaterstadt L.

Halten Sie sich nicht das Näschen zu, mein Fräulein, wenn Sie, zum ersten Mal die Straßen meiner geliebten Vaterstadt durchschreitend, durch den in einigen derselben herrschenden, Fremde mehr oder weniger beleidigenden Unwohlgeruch unangenehm berührt werden sollten. Das ist nämlich kein gewöhnlicher Gestank, das ist ein Gestank, wie ihn nicht jede Stadt besitzt, das ist ein Millionengestank.

Sie schauen mich mit Ihren schönen Augen fragend an?

Oh, mein Fräulein, ich muß suchen, Ihnen verständlich zu werden. Wenn ein Mensch nach Petroleum oder Leder duftet, so werden Sie sicher neben andern, weniger liebenswürdigen Gedanken auch den haben, dieser Mensch handle mit Petroleum oder Leder.

Wenn dieser Mensch stark nach den erwähnten Handelsartikeln duftet, werden Sie die gewiß nicht unbegründete Vermutung aufstellen, er mache gute Geschäfte; wenn er aber nun sehr stark, sehr eindringlich jene merkantilen Gerüche ausströmt, – werden Sie nicht willkürlich zu der Annahme gelangen, dieser Mensch müsse sehr, ja außerordentlich reich sein, vielleicht Millionär – – mein Fräulein, Sie verstehen jetzt den Ausdruck »Millionengestank«. Mit einer Stadt liegen die Sachen natürlich gerade so wie mit dem einzelnen Manne, – und ich kann es zur Ehre meiner Vaterstadt sagen – dieselbe riecht wahrhaft wohlhabend, stinkt sozusagen behäbig .

Immerhin gibt es selbst in L. einige Straßen, welche an einer wahrhaft armseligen Geruchlosigkeit leiden, so besonders die Straße, in welcher das Theater liegt. Welch ein bedauerliches Institut! Wer verdient denn etwas dabei? Kaum der Direktor; denn die weit einträglicheren und erfolgreicheren Geschäfte, welche gewisse Damen vom Theater zuweilen mit wohlaccreditierten L.’er Herren eingehen, sind viel zu diskreten – Geruches um hier erwähnt zu werden. Aber das Theater mitsamt der ganzen pöbelhaft geruchlosen Straße sind eigentlich nur ein großes Siegesdenkmal, ein Denkmal des siegreichen Verstandes der unübertrefflichen L.’er.

Oder ist es nicht ein wahrhaft genialer Gedanke, gerade in diese Straße und in unmittelbarster Nähe des Theaters ein Institut zu legen, welches die schlechten und geruchlosen Eigenschaften der Kunsthalle wenigstens einigermaßen zu heben im Stande ist? – ich meine nämlich die Börse. »Welch’ ein genialer Gedanke!« muß ich wiederholen, wenn ich zur Mittagsstunde die meist schon aus der Ferne einen recht behäbigen Eindruck machenden Kaufherrn daherkommen sehe; einen Eindruck, der in der Nähe durch den lieblichsten Geruch bedeutend erhöht wird. Und mit diesem Duft, der unauslöschlich an ihnen haftet, mit diesem Duft von Käse, Petroleum, Schmalz, Leder etc. etc. schwängern und – bereichern sie die Luft, und dieser Duft – –

Oh, mein Fräulein, die Worte versagen mir, und in überströmender Bewunderung vermag ich nur auszurufen: »Welch’ ein genialer Gedanke!«

Es ist doch gut, daß L. nur ein Theater besitzt. Man denke sich, es seien etwa ein halbes Dutzend Straßen von derartiger fataler Geruchlosigkeit zu befreien: – ich fürchte, ich fürchte, selbst den L.’er gingen auf die Dauer die genialen Gedanken aus. Aber Gott sei Dank, L. hat nur ein Theater.

(1889) Essay. Posthum veröffentlicht in Sinn und Form 1/1963, hier: Klein, W. Hg. u. a., Essays und Publizistik, Bd. 1., S. 389f.

Wohin

Ich wußte nicht, wohin ich ging –

Vor mir auf, durch den Park, der so dunkel jetzt,

Matt flattert ein weißer Schmetterling –

Ist nun meine Liebe zu Tod gehetzt,

Sah ich diese Nacht zuletzt? –

Oder wird das schmerzliche Licht mich lehren,

Zu dir, zum Vergessen zurückzukehren? –

Dann wirst du umarmen mein schwindelndes Haupt,

Und alles wird sein, wie es immer war –

Und hab ich auch nie an dich geglaubt,

Jetzt ist es, als säh ich alles klar,

Als seiest du dennoch, dennoch wahr –

Und wieder ein Tag, und deine Züge,

Können doch nichts sein, als kalte Lüge.

Wer bist du? – Und wenn du mich fragst,

weiß ich denn selber, wer ich bin?

Wie oft, daß in meinen Armen du klagst,

Es sei verdrossen und kalt mein Sinn,

Ich liebte dich nicht. – Weiß ich’s? – Wohin?

Wohin – Wie kann ich finden uns beiden

Erlösung von unserm seltsamen Leiden.

(1892) Gedicht. Briefe an Ludwig Ewers, S. 305

Haltlos

Der nächste Tag war der unsäglichsten Aschermittwochsstimmung geweiht. Weniger im Gedanken an das Geschehene: Was jetzt zu tun oder nicht zu tun – das war der Inbegriff seines Jammers. Er hatte ja eigentlich – nun gewiß, er war Moralphilosoph – also, er hatte eigentlich gewisse Verpflichtungen übernommen. Das tut jeder mal, vielmehr es passiert jedem mal. Aber sie auch gleich einhalten –

Hatte er denn überhaupt das Zeug dazu? Er, in seiner Stellung, mit seinen Lebensanschauungen, mit seinem Naturell! Er würde bodenlos unglücklich werden und machen. Und nahm er die Folgen seiner – Unüberlegtheit auf sich, trotz alledem – nun, so war er eben ein »guter Kerl«. Ah, wie ihm’s in den Fingerspitzen kribbelte, ihn zu ohrfeigen, diesen »guten Kerl« – das heißt, den Begriff … denn er selbst – – Unsinn, nie! Da hörte einfach jede Philosophie auf. Die war gut für die Theorie, hier aber … Und dann hätte er sich doch fast geohrfeigt, so weit er vom »guten Kerl« entfernt war.

Oh, er wußte ja gut, wie entsetzlich gemein er handelte – noch schlimmer: wie gewöhnlich, unoriginell. Ihn schwindelte, so tief war der Fall, den er tun mußte von der Höhe seiner weltverachtenden, bewußt-exklusiven Moral, die bei der ersten Gelegenheit, sich zu betätigen, barst und bebte, ihn in das flache Sandfeld der Gewöhnlichkeit hinabzuschleudern. Und kein Ausweg. Denn die Unmöglichkeit des – das platte Wort, er mochte es nicht denken! – des Heiratens war ja so trostlos klar.

So räderte sich der Kreislauf der Gedanken ihm durchs Hirn, von morgens an. Mittags lief er zwecklos durch die Straßen; ans Essen dachte er so wenig wie an ein Wiedersehen mit – ihr, mit seiner Geliebten. Nur ein dunkles Gefühl hatte er, man werde sich wohl noch mal sprechen müssen. Er hatte doch eigentlich etwas »gutzumachen«. Ja, das war klar. Aber wie! – »Mit Geld!« stieß er höhnisch hervor, wie um seine Selbstverachtung noch mehr zu reizen. Und dann – im Ernst, er fand nichts anderes. Und das Ende war – der Wunsch sich selbst anzuspeien.

(1890, veröffentlicht 1897) Novelle. Haltlos, Novellen Bd. 1, S. 51f.

Bourget als Kosmopolit

Seine Kunst des Verallgemeinerns mußte sich ungleich schwieriger gestalten, sobald sie von der Uebung an dem landschaftlichen Charakter, an der Bevölkerung, an Kunst und Leben eines einzelnen fremden Landes dazu überging, Typen verschiedener Nationalitäten und Rassen und diese auch wieder in einer ihrem Ursprung fremden Umgebung und Lebensweise darzustellen. Die Aufgabe hatte eine complicirte Fassung bekommen, sobald es sich darum handelte, den eigenen Kosmopolitismus gleichsam mit dem der zu zeichnenden Charaktere zu multiplizieren. Da es aber Bourget war, der sie sich stellte, so konnte die vollgültige Lösung entstehen, welche nunmehr in dem mit einem, wie es scheint, zuerst von Stendhal gebrauchten Wort »Cosmopolis« betitelten Roman vorliegt.

 

»Heute … schaffen sich eine beträchtliche Anzahl von Personen, wie Beyle, in Graden und Nuancen, die nach den Mitteln und Temperamenten schwanken, Sammelplätze zum Genuß exotischer Eindrücke. Allmählich und Dank einem unvermeidlichen Zusammentreffen der verschiedenen Adepten des weltbürgerlichen Lebens, bildet sich eine europäische Gesellschaft, eine Aristokratie besonderer Art, deren vielfältige Sitten noch nicht ihren endgültigen Maler gehabt haben.« Mit diesen Worten war bereits in dem in mancher Beziehung grundlegenden Aufsatz über Stendhal das Thema angedeutet. Bei näherem Eingehen auf dasselbe mögen sich die besonderen Schwierigkeiten aufgedrängt haben, von denen in einigen Bemerkungen der »Italienischen Eindrücke« die Rede ist. »Je mehr ich gereist bin«, heißt es dort, »desto augenscheinlicher ist es mir geworden, daß die Civilisation die Grundverschiedenheiten zwischen Volk und Volk, auf denen die Rasse beruht, nicht gemäßigt hat. Sie hat bloß die hervor tretenden Aeußerlichkeiten dieser Verschiedenheiten mit einem einförmigen Firniß überkleidet. Das Ergebnis ist nicht eine Annäherung. Die Rasse ist im Gegenteil schwerer zu erkennen, da die Gleichheit der äußeren gesellschaftlichen Formen uns die innerlichen Gegensätze verbirgt. Es erscheint paradox, aber wahrscheinlich kennen wir einander viel weniger, unter Nationen gesprochen, als zu den Zeiten, wo jeder nach seiner Gewohnheit lebte.«

Die Gesellschaft, welche Cosmopolis schildert, ist eine solche, in der kaum Einer nach den ihm von Hause eigenen Gewohnheiten lebt. Alle diese Menschen, die in der gleichen Stadt Rom, wo sie sich theils für immer, theils zu länger oder kürzer begrenztem Aufenthalt niedergelassen haben, die gleiche Existenz des vornehmen Genusses führen, »die gleiche Sprache sprechen, von den gleichen Lieferanten gekleidet sind, die gleiche Morgenzeitung gelesen haben und die gleichen Gefühle und Gedanken zu haben glauben«, scheinen bis zur thatsächlichen Gleichheit assimiliert zu sein. Aber es kann auch zwischen ihnen Situationen geben, wo durch den inneren Druck von Leidenschaften der einförmige Firniß, der die Verschiedenheiten ihrer Geburt verdeckt, Sprünge erhält. Wenn in solchem Falle die Rassen unter Hervorkehrung ihrer Grundeigenthümlichkeiten gegen einander gerathen, so ist in erster Linie ein heftiger Zusammenstoß zwischen den weitesten Gegensätzen Schwarz und Weiß zu erwarten. Der Instinkt ist hier so stark, daß er auch wenige Tropfen des schwarzen Blutes, mögen sie selbst vor geraumer Zeit in das Familienblut gerathen sein, unschwer erräth.

(1894) Essay. Bourget als Kosmopolit, zuerst in: Das Zwanzigste Jahrhundert. Blätter für deutsche Art und Wohlfahrt, hg. v. H. Mann, Heft v. Januar 1894, hier: Klein, W. Hg., Essays und Publizistik, Bd. 1, S. 52–67, hier S. 53ff.

Reaction

Doch alles ist Reaction! Mit diesem Schlagwort wird jede vernünftige Bestrebung, die Zukunft zu bessern, niedergeschlagen. Werden wir uns doch über die Begriffe klar. Die, welche den freien Gedanken zu vertheidigen vorgeben, vergessen gern die erste größte Wahrheit, die uns die Philosophie mitzutheilen hat: die Begriffe sind relativ. Der Begriff »Fortschritt« ist ebenso wenig absolut wie ein anderer; er kann also auch nicht dauernd derselben Partei wie derselben Geistesrichtung angehören. Die bürgerliche Revolution, die den heutigen Liberalismus zur Macht erhoben hat und auf die er sich beruft, bedeutete einst den Fortschritt. Sie ist mit aufrichtigen und hohen Idealen vom Gelehrtenthum und der lernenden Jugend angestrebt, vom Bürgerthum errungen worden, und sie hat wenigstens auf der einen Seite Erfolge erzielt, die niemand von uns entbehren möchte. Wir danken ihr ein großes Maaß bürgerlicher Freiheit, einen freieren Athem des öffentlichen Lebens, einen regeren Austausch der geistigen Erzeugnisse, zum Theil sogar die Machtstellung, welche Deutschland heute behauptet.

Auf der anderen Seite aber haben jene edlen und vertrauensseligen Bestrebungen, die dauernden politischen und wirtschaftlichen Ausgleich und Zufriedenheit bezwecken, keine andere als die geradezu und dennoch natürliche Folge gehabt, das Nationalvermögen und damit auch den politischen Einfluß in den Händen Weniger anzusammeln, die ohnehin zumeist mit unserem Volksthum wenig oder nichts gemein haben und ihm auf alle Weise zur Last fallen. Eine namenlose Verbitterung der besitzlosen Stände ist daraus hervorgegangen, so drohend und so stark, wie sie keiner der revolutionären Staatengebilde je gekannt hat. Für uns muß es sich darum handeln, daß dieser Verbitterung keinerlei neue Nahrung zugeführt und daß ihr die alte entzogen werde; daß die kapitalistische Ungerechtigkeit so viel wie möglich ihren Ausgleich erhalte. Wir wünschen die Ideale von 48 auch in dem Theile verwirklicht zu sehen, in welchem sie bisher fehlgeschlagen sind. Das ist in Wirklichkeit der Weg des Fortschrittes.

Läßt man alles in dem Sinne wie bisher weiter gehen, so werden wir nur bald am Ziele sein. Die Vielen, die unserer Kultur fremd geblieben sind, die an unsren Genüssen nicht theilgenommen haben, von unserer Kunst nichts und von unserer Wissenschaft nur das kennen, was ihnen den Verstand raubt – sie werden über diese gehaßte Cultur herfallen und das Ende wird eine Barbarei sein, von der wir keine Vorstellung haben. Dann, nur leider zu spät, wird Jeder wissen, daß Alles, was man heute Fortschritt nennt, Reaction war.

Es ist heute Reaction, für die unbeschränkte politische Freiheit, für Gewerbefreiheit und freie Konkurrenz einzutreten. Es ist eine rückständige und überlebte Meinung, Wissenschaft und Aufklärung für die Förderer der Zivilisation im unwissenden und armen Volk zu halten. Es ist ein reactionäres Verbrechen, Gott und die Unsterblichkeit zu leugnen.

Gleichwohl wird die Presse, die den Geschäftemachern und Spekulanten dient, fortfahren, dies alles Fortschritt zu nennen. Und leider wird man ihr bis tief in die staatserhaltenden Schichten hinein Glauben schenken. Die große Menge wird ihren ehrlichen aber unzeitgemäßen Idealen blindlings folgen und dadurch zu zahllosen Gimpeln werden, die sich von wenigen nüchternen Interessen leicht einfangen lassen. Je größer aber diese Menge ist, desto weniger vertritt sie den Fortschritt. Wann wäre dieser je bei der Menge gewesen? Er hat sich noch stets bei der Minorität befunden, die am Ende dennoch Recht behält.

(1895) Essay. Reaction, zuerst in: Das Zwanzigste Jahrhundert. Blätter für deutsche Art und Wohlfahrt, hg. v. H. Mann, Heft v. April 1895, hier: Klein, W. Hg. u. a., Essays und Publizistik, Bd. 1, S. 119–125, hier S. 124f.

Kaiser Wilhelm II. und das Gottesgnadentum *

Nur vor einer Persönlichkeit pflegte sie bisher Halt zu machen, die Kritik, die allen anderen zugesetzt hatte. Wenn man sonst Jedermann als Typus oder vielmehr als eine Zusammensetzung von Typen ansah, (…), so hatte man gewöhnlich doch für die eine Persönlichkeit ganze Gefühle bewahrt, den Monarchen liebte oder haßte man, man empörte sich oder gab sich hin. Man konnte noch, im Guten oder Bösen an ihn glauben wie man nur an das glaubt, was man nicht kennt. Seine Persönlichkeit war auch noch von keinem Revolutionär angetastet worden. Man mochte ihn auf’s Schaffot schleppen, so wußte man im Grunde doch niemals wer er war. (…). Denn sein Wille war zu dem Kollektivbegriff der »Regierung« erweitert, aus deren Physiognomie die seinige niemals mit Sicherheit zu entziffern war.

Auch in dieser Bedeutung ist er »von Gottes Gnaden« geblieben. Denn es ist zu bedenken, daß das Gottesgnadenthum ein Rest ist von Etwas, was ehemals allgemein war. Wir Alle waren einmal von Gottes Gnaden, jeder an seinem Platze, als volle Persönlichkeit, mit einer Seele aus einem Stück, die man gut oder schlecht, unbrauchbar oder tüchtig nannte. Diese einfache Schöpfung ist von der Kritik analysirt worden als ein komplizirter Automat mit widersprechenden Fähigkeiten und vorgeschriebenen Bewegungen. Sollte nun auch jene einzig übrig gebliebene Seele der Kritik verfallen, so würde aus den Stücken, in die sie sie zerlegt hätte, Jeder das ihm Genehme festhalten, das übrige ausscheiden. Es würde ein Feilschen und Zerren beginnen, dem die Persönlichkeit des Monarchen und damit der Monarchie selbst endgültig erliegen müßten. Denn die Mystik des Gottesgnadenthums besteht eben in der Unkenntnis des Monarchen, und das Ende dieser Unkenntnis wäre zugleich das Ende der Monarchie.

(1895) Essay. Wilhelm II., zuerst in: Das Zwanzigste Jahrhundert. Blätter für deutsche Art und Wohlfahrt, hg. v. H. Mann, Heft v. Juli 1895, hier: Klein, W. Hg. u. a., Essays und Publizistik, Bd. 1, S. 190–195, hier S. 193f.

Antisemitismus im Geist der Zeit *

Denn von einer »Religion« kann wohl auch bei den gebildeten »Reformjuden« kaum die Rede sein, die sich in »Freien Gemeinden« zusammenfinden, wie solche auch von Christen begründet werden, die der Kirchlichkeit dadurch zu widersprechen meinen, daß sie neue Sekten bilden. Es wird dort eine Freimaurermoral gelehrt, die von jeder Autorität losgelöst, gerade so willkürlich und unverbindlich ist, wie etwa die der »Ethischen Kultur«. Und einen, immerhin platonischen Sinn für Ethik mögen ja auch die Mitglieder der jüdischen Aristokratie besitzen, die noch erübrigt: die Hochfinanz.

Da ist der Typus des Mitbürgers, der mit einem Haufen schmutziger Wäsche (in mehrfacher Bedeutung) von Osten bei uns eingefallen ist. In Wien schien sich ihm die Kerkertür ein wenig weit zu öffnen, so entschließt er sich, den schon erworbenen Ruf hoher Begabung bei den »Glaubensgenossen« in Berlin zu verwerthen. Durch einige diskrete Hilfeleistungen, die ihm zugleich ein wenig, nicht für die Oeffentlichkeit bestimmtes Material über die Größe des Weltmarktes in die Hände liefern, weiß er sich unentbehrlich zu machen. Man betheiligt ihn einigemal an, wenigstens in Betreff des Erfolges, zweifellosen »Operationen«. Und plötzlich kann er seinen Gönnern die Zähne weisen. Er ist jetzt selbst eine Macht geworden und befindet sich auf der Höhe, wo der Diebstahl diesen Namen verliert, weil er sich nach Millionen berechnet. Um diese Zeit ist er beinahe ehrlich, da die kleinen Gaunereien das Risiko nicht mehr lohnen, das mit ihnen verknüpft ist. Man ahnt ihn jetzt regelmäßig hinter Vorgängen, die ein großes, nicht mehr zu zählendes und zu berechnendes Unglück (gegen das sich darum auch Niemand auflehnen kann) im Volke hervorbringen. Jeder Krach exotischer Werthe bringt seinen Namen auf alle Lippen, jede durch einen »Ring« vollzogene Vertheuerung eines notwendigen Verbrauchmittels trägt ihm tausend Verwünschungen ein. Aber was thut das, wenn ihn die Geschäftswelt fürchtet, wenn ihm die Presse dient und vielleicht sogar die politischen Gewalten ihn berücksichtigen! Im Übermut seines Glanzes oder auch in der Verlegenheit einer allzu gewagten Situation kann ihm wohl einmal eine kleine Unvorsichtigkeit passiren, von der Art, daß sie beim besten Willen nicht mehr zu übersehen ist. Er lernt den Undank des Menschengeschlechts kennen. Aber wenn selbst seine Freunde über ihn herfallen, die ihm Alles verdanken, so findet sich ein neuer Freund, den er gerade durch sein Unglück verpflichtet. Der berühmte Anwalt, vor dem alle Staatsanwälte zittern, reißt ihn mit sicherm Griff heraus. Und sollte er doch einmal mit der Nachtseite des Lebens Bekanntschaft machen müssen, so hat er rechtzeitig sein Haus bestellt und etwa auf den Namen der Frau ein paar Grundstücke übertragen – o, nur eine Kleinigkeit von zwei Millionen oder drei allerhöchstens. Diese sind dann doch aus dem Zusammenbruch gerettet und können, sobald die lächerliche Formalität der Gefängnisbuße überstanden, in Paris als Grundstock eines neuen Vermögens dienen. Aber zu diesem Aeußersten kommt es fast nie, und inzwischen kann er ruhig dem Haß trotzen, dessen Blick ihm folgt, wenn er überall in der Oeffentlichkeit seinen lärmenden Prunk ausbreitet, um sich auch so von anderer Rasse zu zeigen als diejenige unserer Großkaufleute es ist, deren ruhiger Wohlstand sich von jeher nur im Behagen ihrer Häuslichkeit bekundet hat. Wenn er mit seinem Tibury und seiner Cocotte die Linden lang fährt, sieht ihm verwundert der zu Fuß gehende Gardeleutnant nach, der den kleinen, schwarzborstigen, fahlen, schwammigen Menschen natürlich nur grotesk finden kann. Aber je bescheidener sein Dasein und je unkritischer sein Sinn, desto stärker muß das Volk, das gleichwohl noch lange nicht sozialistisch verführt ist, um die Notwendigkeit des Reichthums zu leugnen, diesen Fremdling hassen, dem es dunkel etwas Unheimliches ansieht, als rollten seine Räder über Tausend Leichen. Und hat nicht wirklich dieser Mann auf tausend vernichtete Existenzen seine Macht aufgerichtet wie eine unheilvolle Bestie, die einfach weil sie da ist, weil sie im Haushalte der Natur vorgesehen ist, den Tod um sich her verbreiten muß! Aber was allein den Menschen vom Tier unterscheidet, ihn von seiner Tierheit befreien kann, das ist der Ausgleich oder die Milderung des Kampfes ums Dasein. Jede andere »Kultur« ist hinfällig, so lange man die wilden Thiere im »freien Spiel der Kräfte« duldet, anstatt sie auszurotten oder in Käfige zu sperren! Dieser Mann hat, wie kein Anderer, die moralischen Werthungen verwirrt, das Bewußtsein der sozialen Pflichten und Gesetze geschwächt, verzweifelten Unglauben und haltlose Anarchie ringsum in den Geistern gesäet: – und dann stelle man ihn sich vor, wie er zwischen einem vortheilhaften »Abschluß« und einem diner fin zufällig einen antisemitischen Zeitungsartikel in die Hand bekommt und sich traurig wundert, warum man ihn denn seines Glaubens wegen verfolge!

 

(1895) Essay. »Jüdischen Glaubens«, zuerst in: Das Zwanzigste Jahrhundert. Blätter für deutsche Art und Wohlfahrt, hg. v. H. Mann, Heft v. August 1895, hier: Klein, W. Hg. u. a., Essays und Publizistik, Bd. 1, S. 195–202, hier S. 198ff.