Anfang und Ziel ist der Mensch

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Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten



Der Vortrag einer Sängerin, die sich nebenan hören ließ, ging unter in den lauten Gesprächen. Als man nach einiger Zeit merkte, daß sie fertig war, ertönte frenetischer Beifall. Drüben auf dem Kamin aus rosigem Porzellan schlug die Stutzuhr, Schildpatt mit eingelegtem Kupfer, halb zwölf.



Andreas setzte sich endlich, er lehnte den Kopf zurück und versuchte sich betäuben zu lassen von der funkelnden Decke, deren vergoldete Kassetten elektrische Birnen bargen. Dies hinderte ihn nicht, von neuem in eine verzweifelte Mutlosigkeit zu verfallen. Was hatte er bisher erreicht? Kein ernsthafter Bekannter stand bei ihm, es war zu klar, daß die Leute, die er kennenlernte, ihn nur daraufhin ansahen, ob sich ihm eine heitere Seite abgewinnen lasse. Gelang es ihm heute abend nicht, ein Lächeln von der Hausfrau zu erhalten, so war es aus mit seinem Eintritt in diese Welt. Und jetzt, da er einen Blick hier herein getan hatte, fanden seine Begierden erst ihren Gegenstand. Er sandte seine schüchternen Eroberungsblicke im Kreise der geschmückten Frauen umher. Manche waren üppig, schwer und weich wie Odalisken. Andere, Hagere, hoben langgestielte Lorgnons vor die umränderten, pervers blickenden Augen. Wer von einer von ihnen in Gnaden aufgenommen wurde, so als Schoßhündchen wie Diedrich Klemper bei Lizzi Laffé, der war sein Lebtag versorgt. Das Geld rollte hier unter den Möbeln umher. Gewiß tat keiner etwas anderes, als sich die Taschen zu füllen. Welch ein Wohlleben in diesem Schlaraffenland!



Eine häßliche Falte seines Fracks, die ihm noch nie so aufgefallen war wie in dieser Beleuchtung, entriß den armen jungen Mann seinen Träumen. Er verglich seine dürftige Kleidung mit den tadellosen Anzügen, die an ihm vorüberwandelten, und bei jedem Vergleiche stieg seine Wut. Endlich befand er sich in der erforderlichen Stimmung, um mit sich selbst va banque zu spielen. Wenn er in einer halben Stunde noch keinen Schritt auf seiner Laufbahn vorwärts getan haben würde, so schwur er sich, wegzugehen und nie wiederzukommen.



Er wollte sich erheben, als zwei junge Leute dicht vor ihm stehenblieben. Sie sahen hinüber nach der Palmengruppe, vor der in einer Pompadour-Bergère eine große starke Dame saß. Sie war nicht gerade jung, aber ihr weißer Teint hatte nichts verloren, und so prachtvolle Schultern konnte sie nach Andreas’ Meinung in ihrer Jugend kaum besessen haben. Ihre zu starken Gesichtszüge erhielten etwas Charakteristisches durch den hohen schwarzen Helm von Haaren über der engen Stirn. Sie war in weiße Seide gekleidet, mit tief über die Büste fallenden Spitzen, worauf Brillantagraffen blitzten.



Der eine der jungen Leute bemerkte: »Sie ist doch noch immer schön.«



»Die Hausfrau?« sagte der andere. »Selbstredend. Zwar n’ bißchen schwere Nahrung, aber es tut nichts. Je mehr, desto besser, nach der Taxe der Wüstenstämme.«



»Welche Taxe?«



»Als die Schönste gilt diejenige, die nur auf einem Kamel fortbewegt werden kann. Nach ihr kommt die, die sich auf zwei Sklavinnen stützen muß. – Aber warum macht sie denn so’n leidendes Gesicht?« »Frau Türkheimer? Das wissen Sie nicht? Wo kommen Sie denn her? Ratibohr hat ja mit ihr gebrochen.«



»Der Esel! Und warum?« »Wegen des Gatten, sagt man.«



»Türkheimer? Der wird sich doch nicht lächerlich machen? Er läßt doch seit bald einem Menschenalter seine Frau tun, was sie will. Was hat der denn gegen Ratibohr?«



»Ja, Ratibohr soll kein dankbarer Kunde sein. Durch die Vertraulichkeit mit Frau Adelheit ist er hinter allerlei Geheimnisse gekommen. Türkheimer hat gemerkt, daß ihm, seit seine Frau mit Ratibohr zusammensteckt, öfter was vor der Nase weggeschnappt wird. Das hat ihn entrüstet.« »Wirklich?«



»Türkheimer ist ja ein sehr verständiger Mann, um die Privatangelegenheiten seiner Frau kümmert er sich nicht. Aber wenn die Geschäfte ins Spiel kommen, dann wird er strenge.« »Und da hat er dem Ratibohr Krach gemacht?« »Sie kennen ihn nicht. Er hat ihm die Beteiligung an einem feinen Coup angeboten, mit der Bedingung, seine Frau aufzugeben.« »Und Ratibohr hat eingeschlagen?« »Was dachten Sie denn?«



In diesem Augenblick sah Andreas den eleganten Doktor Bediener, das Glas im Auge, in der Tür erscheinen. Der junge Mann stürzte jäh auf den Chefredakteur los. »Herr Doktor!« sagte er hastig. »Gestatten Sie mir eine Bitte, würden Sie die Güte haben, mich der Dame des Hauses vorzustellen?«



»Comment donc, mon cher!« rief Doktor Bediener, der früher Korrespondent in Paris gewesen war. Er sah Andreas starr an und setzte hinzu: »Ich suche Sie seit zwei Stunden, mein lieber Herr, Herr – re …« »Andreas Zumsee«, ergänzte Andreas.



Der Chefredakteur ergriff seinen Schützling leicht am Arm, trat mit ihm vor Frau Türkheimer und sprach: »Schöne Frau, ich mache mir das Vergnügen, Ihnen einen talentvollen jungen Kollegen zuzuführen, Herrn Andreas Zumsee, den ich der kunstsinnigen Güte der gnädigen Frau empfehle.«



Alsbald war Doktor Bediener verschwunden. Andreas verlängerte seine Verbeugung so sehr, als hypnotisierten ihn seine eigenen, nicht sehr blanken Stiefelspitzen. Ein mitleidiges Lächeln hatte Frau Türkheimer schon wieder unterdrückt, als der junge Mann aufsah. Sie redete ihn sehr freundlich an.



»Unsere jungen Dichter finden hier stets ein offenes Haus, und die von Doktor Bediener empfohlenen Talente sind uns besonders willkommen, Herr Zumsee.« Andreas verbeugte sich abermals. Er nahm das Tabouret ein, auf das Frau Türkheimer deutete.



»Widmen Sie sich schon lange der Literatur?« fragte sie. »Erst seit ganz kurzer Zeit«, erklärte Andreas, »und ich durfte nicht hoffen, seitens der gnädigen Frau einen so wohlwollenden Empfang zu finden, der mich unendlich glücklich macht. Das Interesse an der Literatur ist im Lande so gering, daß wir jungen Anfänger von vornherein eine tiefe Dankbarkeit den wenigen Häusern entgegenbringen, in denen ein modern verfeinerter Geschmack gepflegt wird.«



Ein junger Mann, der schon etwas mehr als Andreas den Ernst der Provinz abgeschüttelt hätte, würde anders gesprochen haben. Jedenfalls hätte Frau Türkheimer etwas anderes erwartet, sie wurde erst jetzt auf den jungen Mann aufmerksam. Seine zu Hause ersonnene Rede schien sie nicht übel zu finden. Sie lehnte sich in die Bergère zurück, einen Augenblick lächelte sie sogar geschmeichelt. Andreas, der die Lorgnons der rechts und links sitzenden Damen fürchtete, sah Frau Türkheimer unverwandt in die Augen, und sein Blick, den dichte, vorn aufwärtsgewobene Wimpern beschatteten, machte den von Doktor Bediener vorausgesehenen Eindruck. Sie fand ihn angenehm, ganz frei von Dreistigkeit und voll jugendlicher Hingebung. Da Andreas sich geprüft fühlte, errötete er, was seinem knabenhaften Blondschopf mit dem leichten Flaum auf der Oberlippe sehr gut stand. Sie fuhr fort ihn zu betrachten. Der geheime Schmerz, der über ihr Gesicht einen Schleier geworfen hatte, geriet in Vergessenheit. Es blieb nur eine sanfte Schwermut übrig, genährt durch den Anblick des jungen Menschen, der auch des Anteils einer mitleidigen Seele zu bedürfen schien. Andreas ahnte etwas Ähnliches. Er fand sich in seiner Ungeschicklichkeit selbst bedauernswert, aber es kränkte ihn, sich von einer schönen Frau bemitleiden lassen zu müssen. Er ward noch röter. Sie erkundigte sich. »Und wie befinden Sie sich in Berlin? Denn Sie haben doch wohl erst kürzlich Ihre Heimat verlassen?«



»Ich komme vom Rhein, gnädige Frau.« »Ich glaubte es an Ihrer Aussprache zu hören. Ah! Der Rhein!« hauchte Frau Türkheimer. Sie sann einen Augenblick, ließ sich indessen auf eine Beschreibung der Stimmungen, die ihr der Rhein eingeflößt hatte, nicht ein. »Sie müssen sich hier wohl recht wie in der Fremde fühlen?« fragte sie unwillkürlich leiser. Schwermut, Mitleid und Träumerei zogen eine Hecke um sie und diesen jungen Mann, sie wußte selbst nicht wie.



»Kommt Ihnen hier das Leben nicht viel kälter vor als in Ihrer Provinz? Bei Ihnen kennt man Fröhlichkeit, glaube ich, hier nur Spottlust. Und dann das Geld! Merken Sie sich für Ihren hiesigen Aufenthalt: es gibt hier nichts, was man nicht um eines guten Geschäfts willen verraten würde!«



Andreas meinte, bei den ruhig gesprochenen Worten der Dame doch dem Schrei einer wunden Seele zu lauschen. Er fühlte sich geschmeichelt durch die Andeutung, die sie selbst ihm von ihrem Unglück machte. Sie setzte nachlässig hinzu: »Haben sie schon einen Schneider, Herr Zumsee?« Andreas glaubte mißverstanden zu haben. »Sie brauchen Freunde, die Sie anleiten. Warum sollte ich es nicht tun?« Andreas verbeugte sich. »Gehen Sie doch zu Behrendt in der Mohrenstraße. Ich erlaube Ihnen, sich auf mich zu berufen, dann wird man Ihnen eine tadellose Ausstattung besorgen. Ich schicke Ihnen meine Karte.«



Sie reichte ihm ihre wohlgeformte Hand, die sich unter dem Handschuh ein wenig fett, aber nicht zu fett, anfühlte. »Übrigens vergessen Sie uns nicht, ich bin jeden Freitag zu Hause.«



Andreas sprang auf, küßte Ihre Hand und entfernte sich langsam, mit verhaltenem Atem. Infolge des Erlebten waren seine Sinne förmlich erstarrt. Als sie wieder frei wurden, hörte er hinter sich sagen: »Donnerwetter! Dem gibt er’s im Schlaf!«



(1900) Roman. Im Schlaraffenland, S. 44ff

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Die Göttinnen



Im Mai war alles bereit. Eines Nachmittags füllten Welt und Halbwelt die hohen Terrassen über dem stillen Garten. Raphael Kalender hatte für marmorne Stufen zum Sitzen gesorgt; er hatte dem Platz im Moose Wert gegeben, dem Ruhekissen unter einer Akazie und dem Lager im Schatten von zwei Zypressen. Man zahlte sehr viel, um ganz in der Höhe aus Myrthenbüschen herabzuspähen; und noch dahinten in der Ebene, wo kaum mehr ein Ausblick frei war, bereicherte man widerstandslos den Unternehmer. Die neapolitanische Gesellschaft harrte klatschlustig, lärmend oder mit Schmachten, unter Blumen, umschwankt vom Dickicht der Farren. Ismael Iben Pascha wiegte den Rumpf inmitten seiner vier Frauen, die die Augen aufrissen. Don Saverio, im Kreise seiner Freunde, reich, frohlockend, streckte sich aus neben der wundervollen Contessa Paradisi. Von den Festen der Herzogin von Assy betört, hatte der König Phili noch einmal die Meerfahrt gewagt. Die Kolonie der eleganten Ausländer breitete befremdet und sehr angeregt ihre Brillanten aus im Duft von Menthe und zwischen den Spießen der Kakteen. (…). Drunten wandelte Jean Guignol ganz allein, einen Lorbeerkranz spitz über der Stirn, und deklamierte Verse, die man auf wenigen Plätzen verstand. Man wunderte sich und lachte. Er trug einen schwarzen Mantel über seinem weißen Gewand, war barhäuptig, mit braunen Lichtern in Bart und Haar, und schien feierlich gestimmt und klagend. Er hob Brocken von Tonerde vom Boden, knetete daran und ließ sie fallen, unruhig und schlaff. Dann warf er seine großen Gesten und Worte, die anschwollen, der Sonne zu. Sie stand schräg über dem Meere. Sie schickte es mit roten Wellen an den Saum des Gartens. Sie überspülte seine Blätter, ränderte die Zypressen, durchwühlte mit düster glühenden Schlacken den grünen Brunnen, an dessen Rande der Dichter die Arme reckte.

 



Am Strande und das Meer umarmend stand eine Reihe sehr alter Zypressen, und über ihnen war es, auf hohem Vorgebirge, wo der Tempel schimmerte: der weiße Tempel, in den Jean Guignol seine Sehnsucht eintreten ließ, zwischen dessen rosig, gleich Muscheln überhauchten Säulen seine Verse, von begehrlichen Lippen entsandt, umherirrten, suchend nach etwas Wunderbarem, nach der einen, aus der sie geboren waren, für die sie lebten und die sie nicht kannten. Er betete zu ihr und um sie. Er zeigte ihr den feuchten Ton und sagte, diese Erde warte auf jeden Ton ihrer Launen und auf alle ihre Fleischfalten. Er sprach ein paar sehr zynische Verse, schallend, voll Überzeugung. Man fing an, ihm zuzuhören, einige Gespräche verstummten, die wundervolle Contessa Paradisi seufzte … da schwieg Jean Guignol.



Hinter dem Vorhang von Zypressen wehte manchmal etwas Leichtes vorüber, wie blaue Schleier oder weiße Tanzfüße. Auf einmal lugte zwischen zwei Stämmen ein Faun hervor, gelb behaart, helläugig. Er stellte seine eckigen Bocksbeine behutsam ins hohe Gras. Im Vorbeigehen brach er eine Rose und nahm sie zwischen die Lippen. Vor dem Dichter blieb er stehen und feixte; Jean Guignol mochte ihn nur fragen, was er wolle und was er bedeute. Hinter ihm zeigte sich schon ein alter Centaur: er hinkte, es folgten ihm Bienen, die er beraubt hatte. Er bat Jean Guignol ihn zu befreien. Zum Dank zeigte er ihm seine Fußspur. »Bilde das! Du wirst zufrieden werden!« – »Bilde auch mich!« meckerte ein kleiner Satyr auf einer Ziege. Zwei andere tänzelten mit Flöten am Munde zum Brunnen hin; ihre sanften hohen Töne erweckten ihn, er begann zu rinnen. Die blauen Schwertlilien wiegten sich. Aber aus dem Schilf am Bach stand eine Nymphe auf, schlank, mit fallenden Schultern, spitzen Brüsten und sorglos. Sie schlenderte auf den Künstler zu und küßte ihn gerade auf den Mund. Es war Lilian, seine Geliebte von einst. Er sagte ihr in Strophen, die von ihrer weißen Haut schimmerten und in denen ihr feuriges Haar sich entfaltete, sie sei schön, sie sei es, die er ersehnt habe; er wolle ihr Bild gestalten. Er begann. Aber sie lächelte und ermahnte ihn, er solle ihre Schwestern nicht vergessen, und die Faune nicht, die mit ihnen tanzten, und die Centauren nicht, die ihnen zusähen, und die Satyrn nicht, die ihnen aufspielten. Dann tanzte sie auf der glänzenden Wiese mit ihren Freundinnen in langen Haaren. Sie faßten sich bei den Händen und formten die Arme wie zu Toren weißer Blüten. Die braunen Faune krochen hindurch, gebückt, grinsend, begehrlich. Ziegenböcke rieben sich an ihnen und versuchten von hinten ihre Hörner.



Der Garten begann zu schallen von dem Galopp der Hufe. Die alten Centauren kämpften miteinander. Die jungen Satyre warfen ihre gewundenen Reben fort und ihre bauchigen Schläuche, und stürzten sich auf die Lippen und die Brüste der Nymphen. Ein graubärtiger Faun lehrte schwarzhaarige Kinder mit Mohnkränzen eine obszöne Runde. Am Boden brannten zerplatzte Granatäpfel und verblutete Tauben neben Rosen. Eine leise, einfache, aufreizende Melodie entströmte, man weiß nicht woher, der roten Luft. Dahinten, auf den rot spielenden Wellen, warfen Syrenen sich heftig auf den Rücken. Ihr Schuppenschwanz schnellte klappend aus dem Wasser, ihre roten Haare trieben ausgebreitet um sie her. Seltsam harte und schrille Laute entstiegen ihren breiten Mündern.



»Bleibt!« rief Jean Guignol, und er sprach, mitten in der Arbeit des Knetens, ihre Bilder, eines nach dem andern – er sprach in plastischen Versen die Bilder aller dieser Fabelwesen und die vielen Gesichter, eines nach dem andern, in denen die Natur sich ihm verriet. Er sprach sie stolz erregt, herrisch, siegesgewiß … Aber sie entfernten sich, sie zogen froh und farbig durchs Gras, unter Küssen, kindlichem Schwatzen oder dem Schäumen von Mänaden, in rot besonnter Nacktheit. Ein Kranz von Blättern verkettete alle.



»Warum nicht auch mich mit euch allen?!«



Die Rosen warfen von den Zypressen herab, ihnen Schleier über die Haare. Es waren viele Frauen, jungfräulich schmale, und laszive aus viel Fleisch; ernste in braunen Geweben, und nackte glückliche. Die dort zog einen Bock hinter sich her, jene trug auf den Armen einen Schwan. Eine beugte sich im Gehen zum Bache nieder und strich mit ihrer Hand über ihn hin wie über eine Wange. Eine erhob eine Schale. Eine setzte ihre weichen Sohlen auf den Rasen, drehte sich, sang, und folgte den andern. Jean Guignol wollte vorstürzen. Das dunkle Laub hatte schon fast alle verschlungen. In der Finsternis zwischen den Stämmen erloschen die Farben der Frauen. Die letzte lächelte vom Saum des Waldes her, als werde sie ihn nie mehr verlassen.



Der vereinsamte Künstler warf sich auf sie, besinnungslos. Sie war fort, ein großer Bock blieb ihm in den Händen. Er schleppte ihn mitten auf die Wiese, er packte den dürren Hals des Tieres, das ihn gelb und klar ansah. Er schrie ihm seine Wut ins Gesicht, seine besinnungslose Brust, seine Enttäuschung, sein Leiden um die eine, die ihm entfloh in den Taumel all jener Gestalten. Er hatte sie nicht gefaßt, sie war vielfältig. Sie war weder die Nymphe noch die Mänade, sie war ebensogut auch der Faun und der Brunnen, oder eine Biene – »oder auch du!« … Und er kniete vor dem Bock, in Drang, Verzweiflung, überwältigender Ahnung.



(1902) Roman. Die Göttinnen oder Die drei Romane der Herzogin von Assy, S. 620ff

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Die Jagd nach Liebe

JUGENDLICHE LIEBESTOLLHEIT *



Mit fünfzehn hatte er, ein schwächlicher, verträumter Junge, auf Sofas gelegen und weinend das Schicksal befragt, ob er je die Glieder einer Frau um sich fühlen werde. Plötzlich hatte er sich entschlossen und gleich eine ganze Menge an Gliedern zu fühlen bekommen, gegen bar. Mit sechzehn hatte er Ute begehrt, nur sie, mit einer Angst und einem Geheimnis, die ihn bleich machten und ihm eine Levikokur eintrugen. Mit siebzehn hatte er sich die erste Modistin angeschafft. Mit neunzehn hatte er die Frau Kahn gehabt, eine Amerikanerin, die bei seiner Mutter verkehrte; oder vielmehr sie ihn. Nun war er zwanzig, und nun lebte er mit Ute. Jeder Schritt, den er machte, jeder Gedanke, in den er einlenkte, führte zu ihr. In ihrem Kopf konnte kein Bild entstehen, in das nicht seine, Claudes Gestalt getreten wäre. Mit fünfzehn, als er zweimal wöchentlich eine andere Kokette probierte, schwamm es im Horizont immer von Brüsten und Beinen. Es war die kurze Zeit, als jedes neue Weib, für Claude ein Paradies gewesen war. Für den Herrn Panier war es das noch mit vierundsechzig. Aber woher strömte der märchenhafte Frühling, in den gebadet nun Claude umherging? Aus Einer, nur aus der Einen. Zum ersten Mal im Leben fühlte er sich fast gesund. Er sah sich an jedem Morgen im sicheren Besitz des ganzen Tages, der voll vom Zerspringen war von ihren Worten, ihrem überlegenen Lachen, ihrem gerollten R., ihren an das Haar erhobenen Händen, ihrem Schritt – voll von ihr!



Eine alte Blumenverkäuferin beim Kontrollor in Nymphenburg, die den jungen Mann seiner Begleiterin nicht gewachsen fand, sagte einmal: »’s tut halt nix ’m Menschen so gut wie’s Mailüfterl.« Und Claude griff sich an die Schläfen, so überwältigt war er von dieser einfachen Wahrheit.



(1903) Roman. Die Jagd nach Liebe, S. 90f

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KUNST UND LIEBE

*



»Eine Künstlerin, die sich verliebt, wirklich und ganz verliebt – das war nie eine«, behauptete Ute, hoch und stolz.



»Wofür hältst Du mich denn? Ich bin ja verwöhnt durch die Kunst. Das Studium der Leidenschaften für die Bühne hat mich klarsichtig gemacht, ich weiß ja, was jeder bieten könnte. Hast du dir das nie gesagt? Stell dir vor, ich sollte einen von diesen Leuten lieben, einen dieser halben Männer, mit ihren Lächerlichkeiten, Schwächen, Unredlichkeiten, einen Pömmerl, Killich – Nun, und dich?« fragte sie langsam, mit mitleidigender Grausamkeit.



Er senkte den Kopf. Aber dann brach es heraus, wund, überreizt, mit elend hinausgereckten Armen, ein Notschrei.



»Du irrst dich. Ich könnte lieben!«



Ute zuckte die Achseln.



»Aber ich nicht. Ich sehe manchmal mit Staunen den andern Frauen zu. Sie lieben, weil sie den Mann nicht kennen – aus Dummheit. Ich hab mich schon gefragt, ob ich sie beneide, ob ich auch soweit herunterkommen möchte. Nein, nein. Das ist ja ein Wahnsinnskeim, den eine in sich trägt. Bei Gelegenheit eines unwichtigen Mannes geht er auf. Ich hab ihn nicht in mir, was willst du. Ich bin vielleicht ein Monstrum?« »Ja«, sagte Claude hart.



»Bin ich’s? Dann ist auch mein Körper eines. Was er für Angst, für Empörung leidet, bei der Annäherung des Mannes – oh, das wirst du nie erfahren. Und was ich meinem Ehrgeiz, meiner Kunst für Opfer bringe … Aber ich tu’s, ich bin stark.«



Da erblickte er das Elend ihrer Stärke. Es weinte ihm auf die Hände. Er stammelte, bebend von Mitleid, mit ihr, mit sich.



»Aber mich – warum nicht wenigstens mich lieben, der um dich weiß. Bin ich zu schlecht, wie die andern?«



»Du bist mir am nächsten, du bist mein Bruder. Da, gib mir die Hand.«



Er wich zurück, gequält. »Ich will nicht mehr.« »Ich liebe dich, wie ich kann. Ich brauche dich, fühle mich wohl in deiner Anbetung und komme in kalte Wut, wie in Düren, wenn du mich verrätst. Das genügt dir nicht? Gib mir deine Hand.«



»Ich will nicht mehr.«



Er besann sich. Drohend: »Du weißt, was ich will. Ich geh nicht weg, ohne dich gehabt zu haben.«



Sie rückte den Kopf, ganz rasch: »Du machst mich bös.«



»Das ist mir ganz einerlei, darüber sind wir zwei hinaus …«



Er feuerte sich an, sträubte sich dagegen, die Tat versäumt zu haben.



»Ich hab die Macht!«



»Hör doch auf mit deiner Macht!« Sie geriet in Wut.



»Weil du ein Mann bist? Ich bin keinem unterworfen, weißt du, dir am wenigsten. Weshalb duld ich dich? Weil du keine breiten Schultern hast, und mich nicht durch eine Übermacht von Männlichkeit bedrohst. Was kannst du denn?«



»Ich werde dich umstoßen – wie vorhin.«



Er warf sich wieder zum Sturm vor. Sie floh bis vor das Badekabinett. Auf der Schwelle wendete sie sich ihm zu; die Arme gekreuzt, erwartete sie ihn. Sie rief: »Und nachher? Denkst du an das Nachher? Wenn du dann schlaff bist. Du Elender, und die tödliche Beleidigung liegt zwischen uns – ahnst du die ganze Verachtung des Fußtritts, womit ich dich von mir schieben werde, hinunter vom Bett! Dann sind wir fertig … Wir sind überhaupt fertig!«



»Ja. Fertig sind wir, so oder so. Also –«



Aber sie umfaßte hart sein Handgelenk. »Nein! Geh!«



Und in ihren Augen der kalte Wille zwang auf einmal all seine erkünstelte Kraft zum Hinknien. Sie fühlte sein Handgelenk mürbe werden und ließ es los. Sie wies, über ihr Bett hinweg, auf das Fenster: »Geh!«



Er tappte rückwärts hin, lehnte sich an das Fensterbrett. Er warf einen verzweifelten Blick hinaus auf den leeren, nur von Nacht begrenzten Platz aus Wiese und Lehm. Dieser unbebaute, zertretene Vorstadtboden bedeutete das verwahrlosende Leben des Ungeliebten, in das sie ihn verwies. Wie sie schön war. Er machte einen Schritt, die Hände bittend erhoben. Die Flamme in ihren Augen drohte kälter, ihr Finger befahl. Claude zuckte die Achseln; er ließ sich aus dem Fenster gleiten, besiegt, trostlos. Er trollte sich, gesenkten Kopfes, bis ans andere Ende des Platzes. Dort blickte er um, fand ihr Fenster noch immer erleuchtet und offen.

 



»Ich kann ja umkehren …«



Aber er legte beide Hände übereinander vor die Stirn …



In den vergangenen Minuten war ihr Fenster – hatte er ihr Zimmer eins

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