Das Mädchen im Moor

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»Lass deine Augen offen sein,

Geschlossen deinen Mund

Und wandre still, so werden

Dir geheime Dinge kund.«

Die Zugfahrt von Langenhagen bis Walsrode dauerte nur eine knappe Stunde. Sören versuchte zu lesen, »Homo Faber« von Max Frisch – der Roman war gerade im Deutschunterricht dran. Doch er konnte sich nicht darauf konzentrieren und legte das aufgeklappte Buch daher mit dem Buchrücken nach oben auf seine Reisetasche.

Er starrte aus dem Zugfenster. Zwischen Mellendorf und Berkhof hockten an einem Fischteich Angler mit Gummistiefeln und Pudelmützen; Wälder und Wiesen zogen vorüber, Backsteinhäuser, die in der Sonne leuchteten, Fabrikhallen, die offenbar schon lange leer standen. Als der Zug zwischen Schwarmstedt und Hademstorf über die Eisenbahnbrücke ratterte, ließ Sören den Blick über die Allermarsch schweifen. Kühe und Pferde weideten auf den Marschwiesen. Doch die Bilder glitten vorbei wie die Bilder eines stummgeschalteten Fernsehapparates. In Gedanken war er schon zu Besuch in Walsrode. Was wollte er eigentlich bei seiner Tante, die er noch nie gesehen hatte? Was wollte diese Sabine von ihm? Würde er seinen Vater treffen?

Vater. Er hatte plötzlich einen richtigen Vater. Bei allen Problemen stimmte ihn der Gedanke glücklich. Doch die Vorfreude mischte sich mit Angst. Was, wenn sein Vater wirklich dieses Mädchen umgebracht hatte? Er wischte den Gedanken sofort wieder beiseite, schämte sich seiner Zweifel und malte sich aus, wie sein Vater unter den ungerechtfertigten Vorwürfen gelitten haben musste. Jahrelang als Mörder dazustehen – verachtet, verurteilt, weggesperrt. Die Vorstellung lastete schwer auf ihm, und der Zorn, dass seine Mutter ihn so schamlos betrogen hatte, wallte wieder in ihm auf. Wo würde das alles hinführen?

Anfangs war der kleine Zug mit den drei Waggons fast voll besetzt gewesen. Bis Schwarmstedt hatte er sich geleert. Sören stellte fest, dass er der einzige Passagier im Abteil war. Er kam sich vor wie in einem Geisterzug.

Um die düstere Stimmung zu verscheuchen, stöpselte er sich seinen MP3-Spieler ins Ohr, packte das Gerät aber gleich wieder zusammen. Die hämmernden Raps gingen ihm auf die Nerven. Außerdem musste der Zug jetzt auch schon in wenigen Minuten in Walsrode eintreffen. Er packte »Homo Faber« in seine Reisetasche, zog sich die dünne Windjacke über. Fast mechanisch fingerte er sein Handy aus der Tasche, um zu sehen, ob eine neue SMS eingegangen war. Tatsächlich, es blinkte. »Wann kommst du wieder zum Training?«, stand da. »Wir brauchen dich, Markus.« Er wollte die SMS gerade beantworten, da fuhr der Zug auf dem Bahnhof Walsrode ein.

Sören entdeckte die wartende Frau auf dem Bahnsteig sofort. Sie hatte schulterlange graue Haare, trug eine schwarzrandige Brille und einen beigefarbenen Blazer über einer blauen Jeans und erinnerte ihn mit ihren dunklen, buschigen Augenbrauen und dem leicht südländischen Einschlag irgendwie an die Krimiautorin Donna Leon. Sie kam lächelnd auf ihn zu und schloss ihn in die Arme. »Hallo Sören, schön, dass du da bist.«

»Hallo.«

Er fühlte sich überrumpelt, empfand sogar einen gewissen Widerwillen gegen diese wildfremde Frau, die ihn drückte, als wäre sie eine alte Bekannte. Aber er wagte es nicht, die vertrauliche Geste zurückzuweisen. Wozu auch?

»Ich würde mich freuen, wenn du Sabine zu mir sagen würdest. Bitte nicht ›Tante Sabine‹.«

»Okay.«

»Wie war die Fahrt?«

»Gut, schöne Landschaft.«

»Bei dem tollen Wetter ist es natürlich besonders schön, vielleicht können wir ja nachher noch mal einen Spaziergang machen.«

»Okay.«

Sören ließ sich von seiner Tante zu ihrem blauen Peugeot schleusen. Sie legte ihm den Arm um die Schulter, sodass er ihr Parfüm riechen konnte. Es kam ihm merkwürdig vor, dass diese Frau, die er noch nie gesehen hatte, ihn wie einen alten Freund behandelte. Doch er ließ es geschehen, war dankbar, keine Entscheidungen treffen zu müssen, genoss die Wärme und Herzlichkeit, die ihm diese elegante Frau entgegenbrachte, sogar ein wenig. Gern hätte er Fragen gestellt, zumindest etwas Geistreiches gesagt. Aber dazu war er viel zu aufgeregt. Sein Pulsschlag beschleunigte sich noch, als Sabine ihm ankündigte, dass sein Vater ihn in ihrem Haus erwarte. »Er wäre auch gern mit zum Bahnhof gekommen. Aber er hatte Angst, dass ihn da einer erkennt … . Na ja, kannst dir schon denken …«

Sabine fuhr mit ihm über die Moorstraße quer durch die kleine Innenstadt Walsrodes in Richtung Eckernworth. Neben diesem Stadtwald verlief die Oskar-Wolff-Straße, wo sich das rot geklinkerte Einfamilienhaus befand, das Sabine Mahnke von ihren Eltern geerbt hatte. Sörens Großvater, der in Walsrode Volksschullehrer gewesen war, war schon lange tot. Seine Großmutter hatte dagegen noch miterlebt, wie ihr Sohn als Mörder ins Gefängnis gesteckt worden war. Sie war erst vor drei Jahren gestorben – an Darmkrebs. Seither bewohnte Sabine Mahnke das Backsteinhaus mit dem großen Garten allein.

»Da wären wir.«

Sören war wie betäubt, als Sabine vor ihrer Garage parkte. Kaum war er ausgestiegen, sah er auch schon den Mann, der aus der Haustür trat – den gleichen Typen, den er zuletzt auf dem Sportplatz gesehen hatte. Der hagere Mann mit den grauen Haaren und wachen Augen ging schweigend auf Sören zu, nahm ihn in die Arme und drückte ihn. Drückte ihn fest, ganz fest. Schließlich ließ Mahnke seinen Sohn leicht beschämt aus der Umklammerung frei.

»Entschuldige, dass ich dich so überfalle, Sören. Herzlich willkommen, schön, dass du da bist.«

»Hallo.«

Das Wort »Papa« lag ihm auf der Zunge. Doch er brachte es nicht über die Lippen. Bei all der Nähe, die hier plötzlich aufkam, war ihm dieser Mann, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war, immer noch fremd.

Im Wintergarten war der Kaffeetisch gedeckt. Zerbrechlich dünne Tassen und Teller aus feinem Porzellan mit blauen Blumenornamenten erwarteten die Kaffeegesellschaft, Meißener Porzellan. Fast schienen Sören diese Gedecke, die Vase mit den Astern und die weiße Damastdecke ein wenig zu festlich für die Zusammenkunft. Aber das war nur ein flüchtiger Gedanke. Kaum hatte er Platz genommen, servierte Sabine auch schon ihren Käsekuchen. Ohne zu fragen, legte sie ihm ein großes Stück auf.

»Selbst gebacken, ich hoffe, er schmeckt dir.«

»Wenn er so gut schmeckt, wie er aussieht, bestimmt.«

Höflichkeitsfloskeln. Sören empfand die Atmosphäre als ziemlich steif in dieser schicken, aufgeräumten Wohnung mit den glänzenden Holzdielen, dem Kamin mit Stuckaufsatz, der Ledergarnitur im Wohnzimmer und den wahrscheinlich kostbaren Gemälden im Wintergarten. Die vielen großen Fenster vermittelten das Gefühl, in dem dahinterliegenden Garten zu sitzen, in dem Astern, Dahlien und Rosen in verschiedenen Farben blühten; Schilfohr umrahmte einen kleinen Teich mit Seerosen.

Sabine folgte Sörens Blick. »Wir hätten uns eigentlich auch nach draußen setzen können, bei dem schönen Wetter.«

»Schon okay, wir können ja nachher noch einen Spaziergang oder so machen, wie du gesagt hast«, erwiderte Sören.

»Auf jeden Fall. Wir gehen durch die Eckernworth, ist gleich nebenan, wunderschön, vor allem jetzt im Spätsommer.«

Dann wandte Mathias Mahnke sich wieder seinem Sohn zu: »Hättest du nicht heute Fußballtraining gehabt?«

»Eigentlich schon, aber ich hab abgesagt – auch das Spiel am Sonntag.«

»Da sind deine Mannschaftskameraden wahrscheinlich ziemlich traurig.« Mit einem Blick auf seine Schwester fügte Mahnke an: »Sören ist nämlich ein Super-Fußballer. Ich hab ihn beobachtet, der hat wirklich Talent – und einen Mordsschuss.«

Etliche Fragen schlossen sich an. Fragen, die um das Thema Fußball kreisten. Schließlich baute sein Vater eine Brücke, um zu einem ernsteren Thema überzuleiten. »Ich hätte dir ja gern noch öfter beim Training und bei den Spielen zugesehen. Aber deine Mutter ist leider nicht so begeistert davon, wie du weißt.«

Sören sah verlegen nach draußen, Sabine schob ihre Brille hoch. Eine Wespe ließ sich auf dem Käsekuchen nieder, man ließ sie gewähren.

»Man muss sie verstehen«, fuhr Mahnke fort. »Das ist natürlich nicht so leicht, wenn der Mann ins Gefängnis kommt und man das Kind eines verurteilten Mörders großziehen muss.« Er bemerkte, dass Sören erschreckt auffuhr und seine Schwester ihm einen strafenden Blick zuwarf. »Entschuldigung, aber man muss der Realität schon auch ins Auge sehen. Und das Wichtigste, was ich dir heute begreiflich machen möchte, ist ja eben, dass du nicht der Sohn eines Mörders bist. Ich hätte dir das gern alles erspart und lieber mit dir über Fußball und deine Schule gesprochen, aber es führt leider kein Weg daran vorbei.«

Sören nickte, Sabine richtete wieder ihre Brille. Mathias Mahnke strich sich mit dem Mittel- und Zeigefinger der rechten Hand über die Stirn und lenkte den Blick zurück auf die Ereignisse vor siebzehn Jahren – auf die Zeit, als er noch Gymnasiallehrer in Walsrode gewesen und gerade Vater eines kleinen Jungen geworden war.

Sören hörte gebannt zu, fragte nach, hielt den Atem an. Im gleichen Maße wie er Verständnis und Mitgefühl für seinen Vater entwickelte, wuchs der Zorn auf seine Mutter.

Sein Vater hielt inne, musterte ihn und seufzte. »Mein Gott, Sören, ich rede und rede und denke überhaupt nicht mehr darüber nach, was ich dir hier zumute. Aber das übermannt einen einfach immer wieder. Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst?«

Er wartete die Antwort nicht ab. »Es ist mir einfach unheimlich wichtig, dir zu sagen, dass ich nicht dieses Scheusal bin, zu dem sie mich gemacht haben, verstehst du?«

»Klar verstehe ich das. Und ich glaub dir, Papa.«

 

Unwillkürlich legte Sören seine Hand auf die Hand seines Vaters. Mathias Mahnke warf den Kopf zurück und atmete tief durch, um die Rührung zu unterdrücken, die ihn überkam. »Danke, Sören. Danke, dass du mir vertraust, und danke, dass du mich Papa genannt hast.« Er räusperte sich. »Aber dass du mich richtig verstehst: Ich will dich nicht vereinnahmen, ich will mich nicht in dein Leben drängen. Du sollst frei entscheiden, verstehst du?«

»Schon klar.«

Sabine hatte die ganze Zeit über geschwiegen. Jetzt durchbrach sie die aufkommende Beklemmung, indem sie sich Sören mit einer harmlosen Frage zuwandte: »Noch ein Stück Käsekuchen?«

Kurze Zeit später ließ Sören sich von den beiden durch die Eckernworth führen. Die Blätter begannen sich schon zu färben. Erste Gelb- und Rottöne mischten sich in das Grün der Buchen, Birken und Eichen. Strahlen der Abendsonne brachen durch das dichte Laubwerk und warfen zitternde Lichtflecke auf den Waldboden. Das Gehölz war schmal, zog sich aber oberhalb des Fuldetals über zwei, drei Kilometer wie ein Hügelkamm durch eine urwüchsig anmutende Waldlandschaft. Durch das Geäst der Laubbäume schimmerte das Wasser der tiefer liegenden Fischteiche. Während die drei über den hochgelegenen Waldweg spazierten, flog ein großer grauer Vogel von dem Wasser im Tal auf.

»Ein Graureiher, auch Fischreiher genannt«, erläuterte Sabine. »Hat sich wahrscheinlich gerade bedient.«

»Schöner Anblick«, kommentierte ihr Bruder.

»Wahrscheinlich nicht für den Teichwirt«, erwiderte Sabine.

Mathias Mahnke nickte lächelnd. »Das alte Spiel. Aber auch sonst ist hier in der Eckernworth zum Glück alles beim Alten geblieben. Da sieht es in der Stadt schon anders aus. So manches Geschäft ist verschwunden, und nicht überall, wo ein alter Kaufmann ausgezogen ist, ist ein neuer wieder reingegangen.«

»Nur die Billigläden und Discounter werden immer mehr, ansonsten sieht es hier ziemlich düster aus«, ergänzte Sabine.

Eine Joggerin mit rotem Stirnband schnaufte vorbei.

»Eine Fitnessjüngerin im Lönswald«, spöttelte Mahnke. »Diese Jogger sieht man jetzt überall, das hat scheinbar enorm zugenommen.«

»Irgendwas muss man ja auch tun, wenn man den ganzen Tag rumsitzt«, sagte Sabine und wandte sich Sören zu: »Joggst du auch oder reicht dir dein Fußballtraining?«

»Laufen gehört zum Training, das reicht mir.«

Als sie gerade den »Jungbrunnen« passierten, das sandige Auffangbecken eines kleinen Wildbachs, arbeiteten sich zwei Frauen mit Kunststoffstöcken und verbissenem Gesichtsausdruck an ihnen vorbei.

Mahnke machte aus seiner Verwunderung kein Hehl. »Was ist das denn? Üben die für Ski-Langlauf?«

»Das ist Nordic Walking«, erläuterte Sabine. »Man merkt, dass du lange Zeit weg warst.«

»Sieht ziemlich verkrampft aus.«

»Wird aber von Ärzten empfohlen, weil es angeblich die Schultermuskulatur lockert.«

»Na super! Die Freizeitindustrie jubelt wahrscheinlich. Endlich hat man den Leuten das unprofitable Spazierengehen ausgetrieben und ihnen eingeredet, dass sie sich nur noch mit Stöcken vorwärtsbewegen können.«

»Sei doch nicht immer so kritisch, Mathias.«

Sie erreichten einen kleinen Moorteich. Fette Karpfen schossen durch das trübe Wasser. Vom nahe gelegenen Eckernworth-Stadion schallten Schreie herüber. Als Sabine ihren Neffen darauf hinwies, musste Sören daran denken, dass seine Mannschaftskameraden gerade beim Training waren. Sollte er wirklich das Spiel am Sonntag ausfallen lassen?

Ein Mann mit Hund kam den dreien entgegen. Sören bemerkte, dass der Mann seinen Vater verstohlen, aber eindringlich musterte. Als sie auf gleicher Höhe mit ihm waren, grüßte er zuerst Sabine und wandte sich dann mit gehetztem Blick ihrem Bruder zu. »Herr Mahnke?«

Fassungslosigkeit spiegelte sich in der Frage.

»Frank?«, erwiderte Mahnke. »Frank Schnurrhahn?«

»So ist es«, antwortete der Hundehalter unterkühlt. »Lange nicht gesehen.«

Mit diesen Worten war er mit seinem Boxer auch schon vorbeigezogen.

Sören spürte, dass die Begegnung seinen Vater nicht kaltließ.

»Schnurre«, murmelte er mehr vor sich hin. »Das war mal mein Schüler.«

»Der ist jetzt Zahnarzt hier in Walsrode«, sagte Sabine. »Hat die Praxis von seinem Vater übernommen.«

»Sieh mal einer an, hat er’s doch noch geschafft. Dabei war er nie eine große Leuchte.«

»War der in der Klasse von …?«

»Genau.«

Mathias Mahnke starrte schweigend auf seine Schuhspitzen.

»Er ist seit einem Jahr allein«, fuhr Sabine fort. »Seine Frau hat ihn mit den beiden Kindern verlassen. Keiner weiß, was da vorgefallen ist.«

Als sie in Erwartung einer Reaktion verstummte, blickte ihr Bruder sie verständnislos an. »Wie bitte? Wer hat wen verlassen?«

Als die drei zum Haus zurückkamen, teilte Sabine Sören mit, dass sie ihre Freundin zum Abendbrot eingeladen habe: die Journalistin Johanna von Seewald, die sie schon im Brief erwähnt hatte.

»Die ist bekannt für ihre hartnäckigen Recherchen«, sagte sie. »Die lässt sich nicht mit müden Allerweltserklärungen abspeisen. Ich glaube, besser geht’s nicht. Die Polizei hat natürlich kein Interesse daran, dass die alten Sachen wieder aufgerührt werden. Aber Johanna könnte eine große Exklusivgeschichte darüber schreiben. Die arbeitet für die besten Zeitungen in Deutschland. Da wird sie garantiert nichts unversucht lassen, die Dinge noch mal genau unter die Lupe zu nehmen. Natürlich müssen wir ihr helfen, ich meine, Mathias und ich, aber sie wohnt schließlich auch schon ein paar Jahre in Walsrode und kennt die Szene hier einigermaßen. Wir haben gestern Abend erst telefoniert. Hörte sich ziemlich zuversichtlich an.«

Mahnke nickte nachdenklich. Sören fragte nach der Toilette. Da schoss sein Vater auf ihn zu und umarmte ihn.

»Sören, mein Gott, entschuldige. Wir haben dich total vergessen. Wir reden hier in einem fort über meinen Fall, dabei habe ich mich so danach gesehnt, dich endlich kennenzulernen und mehr über dich zu erfahren.«

Sören, der wieder zu vergessen haben schien, dass er gerade noch zum Klo musste, nickte. »Ich würde auch gern noch mehr von dir wissen.«

»Ich lasse euch jetzt mal allein«, teilte Sabine mit. »Ich muss mich um das Abendessen kümmern.«

Dann setzten sich die beiden Männer wieder ins Wohnzimmer, und Mahnke fragte Sören nach der Schule – nach seinen Lieblingsfächern, seinen Schwierigkeiten, seinen Lehrern, seinen Zukunftsplänen. Von der Schule wechselte das Gespräch zu Sörens Freizeitaktivitäten, und Sören erzählte, dass er sich nicht nur für Fußball interessiere, sondern auch viel lese und für die Schülerzeitung schreibe. Er vergaß ganz, dass er gerade noch einen starken Drang verspürt hatte, dem Druck seiner Blase nachzugeben.

Schließlich brachte er auch seinen Vater dazu, zu erzählen, wie der die vergangenen Jahre verbracht hatte. Anfangs sei es die Hölle gewesen, sein Leben auf einen Bereich von acht Quadratmetern zu begrenzen und mit Schwerverbrechern und argwöhnischen Justizbediensteten Umgang zu pflegen, sagte Mahnke. »Ich kam mir vor wie lebendig begraben.« Doch dann habe er die Haftsituation irgendwann akzeptiert und beschlossen, das Beste daraus zu machen. »Ich habe immer daran gedacht, dass ich das durchstehen muss, damit ich irgendwann noch mal die Chance habe, dich kennenzulernen und dir zu beweisen, dass ich unschuldig bin.« Zur Bekräftigung strich er Sören über die Hand. »Und Sabine hat mir geholfen. Dass es jemanden gab, der an mich glaubte, hat mir die Kraft zum Überleben gegeben.« Nach vier Jahren habe er schließlich die Anstaltsbibliothek übernommen, sagt er. »Da war ich endlich wieder in meinem Element, konnte lesen und über die Fernleihe sogar Bücher bestellen, die mich interessiert haben.«

Als Sabine anfing, den Tisch zu decken, fiel Sören auf, dass es bereits auf halb acht zuging. Um neun Uhr fuhr sein Zug. Als er seinen Vater darauf ansprach, verdüsterte sich dessen Gesicht. »Kaum haben wir uns getroffen, müssen wir uns schon wieder trennen.«

»Ja, wirklich schade. Das war echt viel zu kurz.«

Jetzt schaltete sich Sabine ein. »Bleib doch einfach hier. Das ist überhaupt kein Problem. Das Haus ist groß genug, und ein Gästezimmer ist auch noch frei.«

»Das wäre natürlich fantastisch«, schloss sich ihr Bruder an. »Dann könnten wir uns morgen weiter unterhalten.«

Sören hob bereitwillig die Arme. »Von mir aus. Ich müsste natürlich zu Hause Bescheid sagen.«

Als er sein Handy hervorzog, bot Sabine ihm an, das Telefon in ihrem Arbeitszimmer zu benutzen. »Ist billiger.«

Sibylle Häcking war alles andere als begeistert, als Sören ihr mitteilte, dass er erst am nächsten Tag nach Hause zu kommen beabsichtige. »Genauso hab ich mir das vorgestellt«, klagte sie. »Die erzählen dir das Blaue vom Himmel und wickeln dich ein, und eh du dich versiehst, steckst du da mittendrin.«

»Ich glaube, ich habe gar keine Wahl«, entgegnete Sören. »Ich stecke da sowieso mit drin. Es geht schließlich um meinen Vater.«

Seine Mutter seufzte. »Ich hab’s geahnt »Kaum ist der wieder frei, macht der mir mein Leben kaputt.«

Sören blieb. Kaum hatte er das Telefonat mit seiner Mutter beendet, traf Johanna ein. Sie trug ausgewaschene Jeans, eine schlichte dunkelgraue Bluse und eine auffällige Kette aus exotischen grünen Perlen. Sören fiel auf, dass sie Sabine fest in die Arme schloss und ihr einen Kuss auf die Stirn gab. Sowie sie sich gesetzt hatte, erzählte sie von ihrem Spaziergang zum Grundlosen See, schwärmte von der Moorlandschaft im warmen Licht der Septembersonne und berichtete von ihrer Begegnung mit Heiko Hansen. »Kommt mir irgendwie seltsam vor, der Typ«, bilanzierte sie.

Mahnke nickte. »Der hatte auch früher schon Probleme. In Deutsch war er eine Katastrophe, dabei war ich mir eigentlich immer sicher, dass er ziemlich intelligent ist. Heiko war nicht besonders beliebt in der Klasse. Außenseiter. Eher schweigsam, fast verklemmt, aber wenn ihn mal was sehr geärgert hat, konnte es auch vorkommen, dass er ausgerastet ist. Das war schon etwas beängstigend. Einmal hat er auf dem Schulhof so auf einen Mitschüler eingeschlagen, dass wir die Polizei holen mussten.« Mahnke atmete tief durch. »Ich schätze, dass er unter seinem Vater gelitten hat. Der war ziemlich streng und autoritär und hat ihn wohl auch öfter geschlagen.«

»Ein guter Freund unseres Hauptkommissars«, fiel Sabine ein. »Der alte Hansen geht mit Hartmann zur Jagd.«

»Interessant«, kommentierte Johanna. »Der grüne Kommissar und der bodenständige Bauer – überhaupt interessante Verbindungen hier in Walsrode. Von Ihren Schülern sind ja erstaunlich viele hier hängen geblieben, Herr Mahnke, beziehungsweise zurückgekehrt an die Stätten ihrer Kindheit. Ein Großbauer, ein Arzt, ein Anwalt, ein Hotelier, eine Lehrerin, eine Sparkassenangestellte … Wirklich bestens integriert alle, und irgendwie scheinen die meisten auch untereinander Kontakt zu haben. Jedenfalls reagieren sie sehr abweisend, wenn man auf den Mord an Annika zu sprechen kommt. Kommt mir manchmal vor wie eine Mauer des Schweigens, um es hochtrabend auszudrücken.«

Sabine rückte nachdenklich ihre Brille zurecht, ihr Bruder starrte aus dem Fenster, als erwarte er jemanden.

»Mit einer Ausnahme«, fuhr die Journalistin fort. »Sven Weber, dieser Rechtsanwalt, der ist ungeheuer nett und offen. Aber vielleicht liegt das daran, dass wir uns schon von früheren Fällen her kennen. Auf jeden Fall hat er mir seine Hilfe angeboten.«

»Toll, Johanna.« Sabine war begeistert. »Das könnte wichtig sein. Der hat gute Beziehungen.«

»Und sein Vater war Polizist«, hakte Mathias ein. »Der hat hier damals sogar die Polizeidienststelle in Walsrode geleitet, müsste seit ein paar Jahren pensioniert sein.«

»Ich glaube, der hat erst kürzlich seinen Abschied genommen«, sagte Sabine. »Ich habe es vor einigen Monaten in der Zeitung gelesen, wenn mich nicht alles täuscht.«

»Vielleicht kriegen wir dann ja über seinen Sohn auch Einblick in die Polizeiarbeit von damals«, fügte Johanna an.

Mahnke strich sich skeptisch über die Stirn. »Sollte mich wundern. Der alte Weber hat Sven bestimmt nicht erzählt, was er so im Dienst getrieben hat.«

Jetzt fiel Sabine ein, dass in der Küche noch eine große Schüssel Rote Grütze auf ihre Gäste wartete. Kaum hatte sie das Wohnzimmer verlassen, klingelte das Telefon. Sie stürmte in ihr Arbeitszimmer und nahm ab. »Ja bitte?«

 

»Spreche ich mit Sabine Mahnke?«, fragte ein Mann in harschem Ton.

»Am Apparat, aber wer sind Sie denn?«

»Das tut nichts zur Sache. Ich habe gehört, dass ihr Bruder wieder aus’m Knast ist. Sie sollen ihn bei sich aufgenommen haben, Ihr liebes Bruderherz. Dass der sich nicht schämt, hier wieder aufzukreuzen! Richten Sie dem Schwein aus, dass er sich auf was gefasst machen kann, wenn wir ihn erwischen. Und wir werden ihn erwischen. So leicht kommt der nicht davon.«

Sabine war viel zu schockiert, um etwas zu erwidern. Als sie zu einer Entgegnung ansetzen wollte, hatte der Anrufer schon aufgelegt.

Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, konnten alle an ihrem blassen Gesicht ablesen, wie der Anruf sie erschreckt hatte. »Eine anonyme Drohung.« Sie musste schlucken, es fiel ihr nicht leicht, die Einzelheiten der Telefonattacke wiederzugeben.