Das einzig wahre Rheinische Derby

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

III. Ein feiner Verein gegen ostholländische Bauern
Dior-Kunden treffen auf grenznahe Kartoffelsäcke

Eine Kölner Sichtweise zieht sich so oder ähnlich schon länger durch die Fußballgeschichte: Die Gladbacher Fohlen sind nur ein provinzieller Emporkömmling aus dem „Ost-Holländischen“ und ihre Anhänger sind „Boore“ (Bauern). So titelt im August 2003 die „Kölnische Rundschau“ vor dem Derby: „Ostholland freut sich auf Ziegenclub“. Der Boulevard kann noch anders, im September 2014 ätzt der „Express“ unter dem Motto „50 gute Gründe, ein Geißbock zu sein!“: „weil wir keine ostholländische Enklave sind.“ Und der Fernsehsender „n-tv“ beschäftigt sich 2016 mit der Vorliebe von Borussen-Keeper Yann Sommer für knallfarbene Trikots: „Was ihm ruhig jemand hätte sagen können: Ein Gladbacher Torwart in Oranje amüsiert die Fans des Erzrivalen aus Köln sicher prächtig – die verspotten die Borussia gern als Bauern aus Ostholland.“

Ostholländische Bauern. Eine nicht bis zu Ende gedachte Schmähung, die einkassiert wird von einer Erkenntnis des früheren Bundespräsidenten Gustav Heinemann: Wenn du mit dem Finger auf andere Leute zeigst, weisen drei Finger deiner Hand auf dich zurück. Der erste Ausländer, den der 1. FC Köln nur zwei Jahre nach seiner Vereinsgründung verpflichtet, ist ein … Holländer. Nationalkeeper Frans de Munck kommt von den Sittardse Boys aus der Provinz Limburg im Südosten der Niederlande, mit rund sechs Grad Ost etwa auf dem gleichen Längengrad wie Mönchengladbach gelegen. Köln liegt noch ein halbes Grad östlicher. Nach oben befinden sich die Limburger ebenfalls auf Augenhöhe mit den Kölnern und haben nicht nur den höchsten Kirchturm in Holland (wenn auch nicht halb so hoch wie der Dom), sondern auch die höchste Windmühle.

Dabei wäre die Domstadt nach dem Zweiten Weltkrieg beinahe selbst ostholländisch geworden. Bei den 1940 überfallenen Nachbarn entsteht später der Gedanke, als Reparationen westdeutsches Land einzufordern. Frits Bakker Schut, der Sekretär des Ausschusses für Gebietserweiterung, arbeitet einen detaillierten Plan mit drei Varianten aus. Die weitreichendste sieht eine Annexion von 10.000 Quadratkilometern mit 41 Städten und Landkreisen vor, darunter Aachen, Köln, Mönchengladbach, Münster und Neuss. Weil die alliierten Siegermächte dagegen sind, bleibt es 1949 bei 69 Quadratkilometern sowie den kleinen Orten Selfkant und Elten. Beide kommen 1963 wieder zurück, Deutschland zahlt 280 Millionen DM als Wiedergutmachung.

Wäre es zur großen Annexion gekommen, hätte de Munck nicht ins Ausland wechseln müssen. Von 1950 bis 1954 hütet der „schöne Frans“ und „schwarze Panther“ das Tor des FC, nachdem er zu Hause vom niederländischen Fußballverband KNVB wegen Verstoßes gegen die Amateurregeln für ein Jahr gesperrt und nach dem Wechsel ins Rheinland auch nicht mehr für die Nationalmannschaft berücksichtigt worden war. Was de Munck nicht daran hindert, Anfang 1954 mit dem 1. FC Köln zu einem Freundschaftsspiel gegen eben diese holländische Nationalelf (1:3) nach ‚s-Hertogenbosch zu reisen. So gelangt man nebenbei zugleich unversehens zu einem brisanten Länderspiel-Duell: Deutschland gegen die Niederlande. Aber was will man bei Rheinländern machen, wenn sie vom Hölzken auf ’t Stöcksken (Titel des zweibändigen „Großen Hüsch“ von 2011) kommen? Rund 40 Mal gab es das Duell mit der „Oranje Elftal“. Es ist ein internationales Fußball-Derby, etwa aus der Preisklasse England – Schottland oder Argentinien – Brasilien.

Bei einer Gesprächsrunde des Goethe-Instituts Brasilien zur Fußball-WM 2014 gewinnt der Hamburger Journalist Alexander Laux solchen Rivalitäten auf Länderebene positive Seiten ab: „Die großen Feindschaften zwischen den Nationen lösen sich im selben Grade auf, wie der Fußball sich internationalisiert.“ Einer der beliebtesten Spieler Deutschlands sei heutzutage ein Niederländer, sagt Laux damals mit Blick auf HSV-Akteur Rafael van der Vaart. Doch es gibt nicht nur das Beispiel von der Elbe, sondern auch eines vom Rhein: Was will man denn auch weiterhin machen, wenn gar ein waschechter Holländer bei Hölzchen und Stöckchen in die Vollen greift und zur EM 2012 im „Express“ voller Vorfreude die Duelle mit Deutschland auf eine Ebene mit dem Derby zwischen Gladbach und Köln stellt: „Da geht es um sehr viel, es steckt immer eine Menge Brisanz drin.“

Sagt der damalige Innenverteidiger der Fohlen, Roel Brouwers, der bei Roda Kerkrade das Kicken erlernt hat und durch seinen coachenden Landsmann Jos Luhukay über Paderborn in den Borussia-Park gelotst worden ist. Dort wird Brouwers zum Liebling der Fans („Rooooel“), nicht wegen seiner überschaubaren Fußballkunst, sondern wegen seiner Bodenständigkeit inmitten immer mehr abhebender Stars. Das hat er bereits 2009 auf die Frage der „Bild“ gezeigt, was denn bitteschön Holländer besser könnten als Deutsche? Brouwers ohne Zögern: „Pommes. Nach Spieltagen gönne ich sie mir ab und zu als ‚Frikandel speciaal‘. Eine Fleischrolle mit Curryketchup, Zwiebeln und Majo. Kann man allerdings nicht jeden Tag essen.“


Roel Brouwers wird am 7. Mai 2016 im Borussia-Park von Manager Max Eberl (r.) und Vizepräsident Rainer Bonhof verabschiedet. Foto: Imago/Revierfoto

Vordergründig rührt die Rivalität zwischen Holländern und Deutschen nicht vom Essen her, sondern vom WM-Finale 1974. Diese Darstellung spiegelt aber allenfalls die halbe Wahrheit wider. Als die Deutschen Mitte der Siebziger eher unverdient den Titel gegen den „Voetbal totaal“ der Niederlande holen, bricht beim Nachbarn mental die Vergangenheit wieder auf, als Hitler-Deutschland im Zweiten Weltkrieg das kleine Land überfallen und besetzt hatte. Mittelfeldspieler Willem van Hanegem von Feyenoord Rotterdam, der im Krieg seine halbe Familie verliert, bleibt nach dem Finale von München dem Abschlussbankett fern. Während des Kriegs spielt der als Zwangsarbeiter verschleppte Stürmer Bram Appel von 1943 bis 1945 bei Hertha BSC und wird später vom holländischen Fußballverband wegen „Kollaboration mit dem Feind“ bis 1947 suspendiert.

Und dann eben de Munck. Der Keeper ist ziemlich heftiger Kritik in der vom Amateurgedanken beherrschten Heimat ausgesetzt, als er 1950 als Vertragsspieler ausgerechnet nach Deutschland wechselt. Das ändert sich erst nach der größten Nordsee-Katastrophe des 20. Jahrhunderts, als in der Nacht auf den 1. Februar 1953 große Teile der holländischen Küste von einer Sturmflut heimgesucht werden. 1.835 Niederländer kommen ums Leben, die Regierung ruft den Notstand aus. Unter den folgenden Benefiz-Aktionen ist auch ein Fußballspiel der holländischen Auslandskicker gegen eine französische Auswahl am 12. März vor 40.000 Zuschauern im Pariser Prinzenpark, de Munck steht im Tor. Nach dem Spiel gibt der holländische Verband seinen Widerstand gegen den Berufsfußball auf. Am 14. August 1954 wird in Holland erstmals professionell gespielt, 13.000 Zuschauer sehen die Partie Alkmaar ’54 gegen den Sportclub Venlo (3:0).

Venlo 1954 und ein Sprung ins Jetzt: Das wahre Leben ist bekanntlich besser als jede schräg erdachte Satire. So kommt es im Mai 2019 zu einem gar wunderlichen Krach. Der DFB gibt bekannt, dass er das Trainingslager der deutschen Nationalmannschaft für die EM-Qualifikationsspiele Anfang Juni gegen Weißrussland und Estland im holländischen Venlo abhalten will. Quartier ist das Hotel De Bovenste Molen, die Trainingsplätze liegen am kleinen Stadion De Koel (eine direkte Entsprechung zu „De Kull“ = Bökelberg im gerade 25 Kilometer entfernten Mönchengladbach).

Ex-Bundestrainer Berti Vogts mosert auf „T-Online“: „Ich habe das für einen Aprilscherz gehalten. Der DFB kann doch nicht mehr Fan-Nähe predigen und dann im Ausland wohnen.“ DFB-Direktor Oliver Bierhoff verteidigt bei dpa die Standortwahl mit einem Trainingsspiel am Aachener Tivoli: „Wir haben ein Quartier in der Nähe gesucht. Aber die Standorte wie Düsseldorf, Mönchengladbach und Köln waren allesamt besetzt.“ Und witzelt in der „Stuttgarter Zeitung“: „Ich wollte ohnehin mal wissen, wo das halbe Ruhrgebiet am Wochenende immer einkaufen geht.“

Da freuen sich die Holländer: „Für uns ist dieses Trainingslager natürlich etwas ganz Besonderes. Wir entwickeln VVV Venlo in kleinen Schritten immer weiter und richten den Blick dabei konsequent auch auf die deutsche Seite der Grenze“, sagt laut dpa Robert Pinior, Deutschland-Verantwortlicher des niederländischen Erstligisten, über den Besuch. Das Business-Netzwerk des Eredivisie-Klubs ist mittlerweile bei fast 400 niederländischen Unternehmen, aber auch 50 deutschen Firmen als Partnern angelangt. Sportlich gibt es ebenfalls Austausch: Der Kölner Jugendspieler und Innenverteidiger Steffen Schäfer, zuletzt 1. FC Magdeburg, kommt zur Saison 2019/20 zu VVV. Dafür wechselt zur gleichen Zeit der gerade erst fest verpflichtete Ex-Borussen-Stürmer Peniel Mlapa zum Al Ittihad Kalba Sports Club in die Emirate.

Zurück in die Historie. Auf Frans de Munck folgen weitere Niederländer in den Reihen der Geißböcke. Wie Stürmer Bart Carlier von 1952 bis 1953, ein waschechter ostholländischer Niederrheiner, der aus Venlo kommt und in seinem einzigen Spiel gegen Borussia Mönchengladbach mal gleich zwei Tore schießt. Oder Michel van de Korput von 1985 bis 1987 und Anthony Lurling von 2005 bis 2006.

Und dann ist da noch die Geschichte des heutigen VfL-Vizepräsidenten Rainer Bonhof, der in seiner Karriere für die Fohlen und für die Geißböcke spielt. Eine Geschichte, die heute in der EU-Bürokratie unmöglich wäre: Bonhofs Familie ist holländisch, lebt aber im deutschen Grenzort Emmerich, wohin der Großvater einst der Liebe wegen von Doetinchem umgezogen war. Als Jugendlicher kickt Bonhof für SuS Emmerich, wird in Kreis- und Verbandsauswahl berufen und in einem Jugendlager in Duisburg vom DFB-Jugendtrainer Udo Lattek entdeckt. 1969 soll Bonhof sein Junioren-Länderspieldebüt in Geleen geben – gegen Holland. Bisher hat er für Spiele und Lehrgänge keinen Pass gebraucht. Im Grenzgebiet ist es damals – auch in die andere Richtung – nicht unüblich, beim Nachbarn hinter dem Zaun zu kicken. DFB-Trainer Herbert Widmayer erzielt Einigung mit dem Kollegen von jenseits der Grenze: Der Holländer Bonhof spielt am 18. Oktober 1969 für Deutschland gegen Holland (1:1). Im März 1970 nimmt Bonhof die deutsche Staatsangehörigkeit an, geht zu Weisweiler nach Gladbach und wird 1974 Weltmeister – im Endspiel gegen die Niederlande. Ein Jahr später holt der Borusse auch noch gegen die Holländer vom FC Twente Enschede den UEFA-Cup.

 

Nicht vergessen sollte man zudem einen Mann, den die FIFA 1999 zum „Trainer des Jahrhunderts“ kürt: Rinus Michels aus Amsterdam, Vater des „Voetball totaal“, der Oranje 1974 zur Vizeweltmeisterschaft und 1988 zum EM-Titel führt. Und 1983 mit dem 1. FC Köln den DFB-Pokal gewinnt.

Alles Boore oder was – mal ganz abgesehen davon, dass der Erwerbsberuf des Landwirts ein durchaus ehrenwerter ist? 2011 erklärt FC-Archivar Dirk Unschuld im Online-Portal „Der Westen“ der Funke-Mediengruppe etwas treuherzig: „Der FC wurde damals als feiner Verein wahrgenommen …“. Nun ja, immerhin tritt er ab 1962 auch in Seidentrikots von Dior aus Paris an. Wie zumindest kolportiert wird, ebenso eine Verbindung zum Designer-Konkurrenten Jacques Fath. FC-Haudegen wie Karl-Heinz Thielen, Wolfgang Weber und Hannes Löhr ziehen es 50 Jahre später leise in Zweifel, andere wie Präsident Wolfgang Overath thematisieren es laut „Bild“ sogar zum 60-jährigen Bestehen im Jahr 2008. Overath wird auch der Spruch angehängt, dass die anderen „in Kartoffelsäcken rumgelaufen“ seien.

Der FC spielt jedenfalls komplett in Weiß, was seinerzeit eigentlich den Königlichen von Real Madrid („das weiße Ballett“) und dem Pelé-Club FC Santos in Brasilien vorbehalten ist. Kurz darauf tritt auch der ebenso ärmliche wie hemdsärmelige Provinzklub Borussia Mönchengladbach ungefragt dieser illustren Vereinigung bei. Als Lieselotte Weisweiler die schwarzen Trikots der Kicker ihres Mannes als zu „traurig“ erscheinen, werden sie 1964 durch weiße ersetzt.

Hennes Weisweiler selbst sorgt später, 1977 wieder Trainer bei den Geißböcken, ein weiteres Mal für fein gewebte textile Grenzüberschreitungen. Weil er die Ausgeh-Anzüge für eine Fernostreise des FC unbedingt von seinem (Gladbacher) Lieblingsausstatter haben möchte, trickst er und muss am Ende seinem entsetzten Präsidenten Peter Weiand das Etikett „Exquisit Herrenmoden Mönchengladbach“ im Inneren der Jacketts wahrheitswidrig erklären: „Chef, da machen Sie sich mal keine Gedanken. Der Laden hat auch einen Sitz in Rodenkirchen.“ So erzählt es 2017 der hochbetagte ehemalige Modeunternehmer und Inhaber Bert Jerabeck (93) der „Rheinischen Post“.

2016 schreibt das Wiener Fußballmagazin „ballesterer“ über den 1. FC Köln: „Doch den Verein, der sich schon früh auf gutes Management und Marketing verstand, umgab auch das Image, elitär und arrogant zu sein.“ Erneut FC-Archivar Unschuld: „Der FC hat als ‚Feine Pinkel‘-Klub gegolten, das Image hat sich bis in die 1980er Jahre gehalten.“ Zum 50. Todestag von Vereinsboss Kremer erinnert sich Karl-Heinz Thielen 2017 im „Express“: „Es hieß immer, da kommen sie wieder, diese eingebildeten Kölner. Doch das waren wir gar nicht. Aber Franz Kremer hatte dem Fußball das Biertheken-Image genommen. Wir hatten die geschniegeltsten Anzüge, waren immer pünktlich, immer höflich.“

Die Gladbacher hatten da offensichtlich mehr zu kämpfen. Der verstorbene VfL-Manager Helmut Grashoff berichtet in seinen Memoiren über den „Ball ohne Ball“ Anfang 1970 in der Kaiser-Friedrich-Halle mit Show-Größen wie Max Greger, Rudi Carell und Peggy March: „Ein Großereignis, das uns auch gesellschaftlich auf die Beine helfen sollte.“ Dort hätte man in Gladbach noch eher die Nase gerümpft: „Wohl wegen der Tatsache, dass Borussia sich aus dem Arbeiter-Stadtteil Eicken entwickelt hatte, der nicht als feinste Adresse galt.“

Anders die Kölner. Ein feiner Verein. Das Real Madrid des Westens. An dieser Stelle blitzt in der Tat ein Phänomen auf, das zumindest im Ansatz als allgemeines Argument für die Rivalität zwischen Fohlen und Geißböcken herhalten kann: die Arroganz der Metropolen gegenüber ihrem Umland. Der Geschichtsphilosoph Oswald Spengler hat in seinem Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“ von 1921 den Hochmut der großen Städte beschrieben: „Die neue Seele der Stadt redet eine neue Sprache, die sehr bald mit der Sprache der Kultur überhaupt gleichbedeutend wird. Das freie Land mit seinen dörflichen Menschen ist betroffen; es versteht diese Sprache nicht mehr; es wird verlegen und verstummt.“ Bereits 1903 spricht der Soziologe Georg Simmel von der „Blasiertheit“ der Großstädter.

Nicht anders ist es in der Großstadt Köln. „Für die sind wir hier nur die Bauern“, schimpft 2005 der SPD-Politiker Guido van den Berg aus Grevenbroich, Vize-Landrat des Rhein-Erft-Kreises, heftig über den Kölner Stadtrat. Beim FC ist man da voll auf Kurs. Manager Michael Meier erhöht bei der Generalversammlung 2006 (als Zweitligist) die Ansprüche ultimativ: „Ich vermisse die elitäre Arroganz im Verein!“ Die „Welt“ versieht daraufhin einen Zeitungsbericht mit der süffisanten Schlagzeile „Erfolgreicher Realitätsverlust“.

IV. Kaffeebud-Metropole und zwei Provinz-Hauptbahnhöfe
Wie Kölner und Gladbacher ihre Identität ausleben

Metropole Köln und der FC. Doch wie verhält es sich tatsächlich mit dem Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit, auch im Vergleich zu anderen? Augenscheinlich gibt es zwischen Stadt und Fußballverein ein Wechselspiel der Identitäten, wie man 2016 einem Buch des Kölner Autors Frank Steffan zum FC-Double von 1978 entnimmt: „Ich denke, es ist möglich zu sagen, dass der FC ein Abbild der Stadt ist und Köln ein Abbild des FC.“ Es komme nicht von ungefähr, meint Steffan, dass der FC zum Ende der Siebziger die dominierende Mannschaft in Deutschland war „und dass Köln seinerzeit mit New York konkurrieren konnte“. Denn: „Ohne einem Masterplan zu folgen, hatte sich Köln mehr als nur in Ansätzen zu einer echten Metropole entwickelt.“

Ebenfalls von Steffan folgt ein Dokumentarfilm zum Double, dessen Bewerbung schwierige Crossover-Vergleiche anstellt: „Köln war seinerzeit die europäische Kunstmetropole, auf Augenhöhe mit New York. Köln war darüber hinaus die Partystadt schlechthin. Köln pulsierte, man sprach von ‚Swinging Cologne‘. Die Jahre 1977 und 1978 waren zudem eine lang nachwirkende Zeitenwende. Die Schleyer-Entführung 1977, in unmittelbarer Nähe des Müngersdorfer Stadions, markierte einen politischen Bruch in ganz Deutschland.“

Na ja, ich habe damals in Köln studiert und nicht so viel von weltstädtischem Flair verspürt. An der Uni geht es mit Ausnahme von Rangeleien in überfüllten Hörsälen eher beschaulich zu. Das Uni-Center an der Luxemburger Straße mit 45 Etagen und 1.000 Wohnungen auf 135 Metern Höhe, wo nach Kunde von Studien-Veteranen noch wenige Jahre zuvor der Verfassungsschutz seine Feldbetten aufschlägt, wirkt auf mich eher bieder. Feiern in der Altstadt ist für mich ebenfalls nicht unbedingt on top, und musikalisch erlebe ich zwar die Stones, Santana und Joe Cocker, anderswo in Düsseldorf aber Eric Clapton, Elton John und ZZ Top. Und in der Fohlen-Heimat? Auch in Mönchengladbach hängt kein Pferdehalfter an der Wand, sondern finden Gigs mit Yes oder Status Quo statt.

2018 vertieft Steffan seine kölsch-globale Sicht im Netz-Portal „effzeh.com“: „Gleichzeitig war Köln zu diesem Zeitpunkt eine europäische Metropole, und ich würde mal behaupten, die Domstadt so etwas wie die heimliche Hauptstadt.“ Dieses früher weit in den Sportsektor ausstrahlende kölsche Denken hat eine ausgeprägte Tradition im 20. Jahrhundert, maßgeblich befördert vom Oberbürgermeister Konrad Adenauer und dem Sportdezernenten Heinrich Billstein in den Zwanzigern und Dreißigern. Die Stadt bewirbt sich auch um die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele 1936, bevor Berlin den Zuschlag bekommt. Und nach dem Krieg, als die Deutsche Hochschule für Leibesübungen von Dr. h.c. Carl Diem 1947 am Rhein als Kölner Sporthochschule neu eröffnet, findet sich nur sechs Jahre später im Jahresbericht des Kölner Zweckverbandes für Leibesübungen der Anspruch, zur „geistigen Zentrale des deutschen Sports“ zu werden.

Wobei andererseits die Domstädter wohl grundsätzlich nicht immer wissen, was sie eigentlich wollen. Im „Kölner Stadt-Anzeiger“ beschreibt Psychologe Stephan Grünewald im Fußball-Zweitliga-Jahr des FC 2007 die Befindlichkeit des Kölners so: „Einerseits will er Metropole sein, am liebsten das Zentrum der Welt; gleichzeitig will er die Gemütlichkeit einer Kaffeebud bewahren.“

Der Psychologe charakterisiert die kölschen Einwohner als „Weltmeister im sentimentalen Frohsinn“ und macht das auch an den FC-Heimspielen fest: Die wichtigste Zeit für den Kölner sei die halbe Stunde vor dem Anpfiff, weil er da die FC-Größe ausleben und besingen könne. „Wenn die Spieler auf den Rasen kommen, bricht die Spannungskurve zusammen.“ Der 2015 verstorbene Trainer Udo Lattek, von 1987 bis 1991 FC-Sportdirektor, hat das im Jahr 2010 so auf den Punkt gebracht: „Im Kölner Stadion ist immer so eine super Stimmung, da stört eigentlich nur die Mannschaft.“ Nochmals Psychologe Grünewald: „Weil die Kölner nicht fähig sind zu bedingungsloser Konsequenz, beäugen sie argwöhnisch das, was andere Städte wie vor allem Düsseldorf vom Zaun brechen, die in ihrer Metropolen-Sehnsucht konsequenter agieren.“

Oder, um ins Thema zurückzukommen, wie die Gladbacher, die im Mai 1977 im Endspiel von Rom gegen den FC Liverpool (1:3) trotz ihres provinziellen Zuschnitts alles versuchen, die Champions League zu gewinnen, die damals noch Europapokal der Landesmeister heißt. Das Scheitern gegen die „Reds“ vereint die beiden Vereine aus dem Rheinland. Weitaus dramatischer scheiden die Geißböcke mehr als 20 Jahre zuvor im März 1965 gegen Liverpool im Viertelfinale beim Entscheidungsspiel in Rotterdam (2:2) durch einen schnöden Münzwurf des Schiedsrichters aus. Das war an Pech nicht mehr zu überbieten.

Wohin aber grundsätzlich eine gesteigerte Anspruchshaltung führen kann oder auch nicht, vermittelt ausgerechnet die Kölner Parade-Sage schlechthin: Der arme Knecht Jan van Werth verliebt sich in die Magd Griet, die seinen Heiratsantrag aber ablehnt, weil sie eine bessere Partie für sich anstrebt. Tief verletzt lässt Jan sich fürs Militär anwerben, zieht in den Dreißigjährigen Krieg und bringt es bis zum General. Als er nach einer Schlacht im Triumphzug durch das Severinstor in Köln einzieht, entdeckt er Griet auf dem Markt, die dort Obst verkauft. Er steigt vom Pferd, zieht seinen Hut und sagt: „Griet, wer et hätt jedonn!“ („Griet, wer es getan hätte!“). Griet antwortet: „Jan, wer et hätt jewoss!“ („Jan, wer es gewusst hätte!“). Jan reitet davon.

So ist das halt mit dem Spatz und der Taube. Geschieht der Frau recht, werden die Gladbacher sagen, so geht man nicht mit einem Jan van Werth um, den es wirklich gegeben hat und der – wie Jahrhunderte später Berti Vogts – aus Büttgen stammte. Etwas Schadenfreude darf schon sein beim provinziellen Underdog … Vielleicht auch etwas Neid.

Die Tradition spielt hierbei eine zweischneidige Rolle. Die Ziffer „1“ im Vereinsnamen der Kölner bedeutet 1948 bei der Gründung ja den elitären Anspruch, der sportlich Beste zu sein oder zu werden. Nicht etwa die historische Zuweisung als ältester Verein der Domstadt. Im „11Freunde“-Interview von 2011 erläutert der Ex-Stürmer und spätere Manager Karl-Heinz Thielen Hintergründe: „Es wurde Franz Kremer zum Vorwurf gemacht, dass er den Klub, der aus der Fusion von Sülz 07 und Kölner BC hervorging, 1. FC Köln nannte. Andere Vereine wie der VfL 99 hatten mehr Tradition und waren größer. Das haben die Kölner nicht vergessen. In der Stadt waren viele eifersüchtig auf unseren Erfolg.“ Nur am Rande: Der Vorschlag zur Namensgebung kommt nicht von Kremer, sondern vom Sülzer Vereinsboss Karl Büttgen.


FC-Stürmer Karl-Heinz Thielen mit der Meisterschale am 12. Mai 1962 inmitten der jubelnden Menge nach dem 4:0 über den 1. FC Nürnberg. Foto: Imago/Hartung

Ältester Kölner Fußball-Verein ist der Internationale Fußball-Club Cöln vom 6. Mai 1899, später Kölner Fußball-Club 1899, noch später VfL 99. In seinen Reihen spielen auf dem Exerzierplatz am Neußer Ring und später im Weidenpescher Park Leute wie der hoch veranlagte Verteidiger Willi Raffenberg, der spätere DFB-Präsident Peco Bauwens, der französische Stürmer le Roi oder der holländische Mittelläufer van Hell. Ebenfalls im Mai 1899 – und jetzt muss der Effzeh-Fan ganz tapfer sein – gründen Mitglieder der Kölner Turnerschaft von 1843 den FC Borussia (lateinisch für Preußen) 99 Köln, der „seinem Namen entsprechend die schwarz-weiße Bluse als Clubtracht wählte“, wie die Kölner Fußball-Chronik ausweist.

 

Bereits ein Jahr später folgt 1900 am Niederrhein die Gladbacher Borussen-Konkurrenz. Und so besteht man dort als Verein fast doppelt so lange wie der Effzeh. Aber: Köln am Rhein ist als Stadt mehr als 1.300 Jahre älter und heute gut viermal größer als Mönchengladbach an der Niers. Auch dort beschäftigen sie sich mit gewagten Identitäts-Thesen. 2017 erklären Oberbürgermeister Hans-Wilhelm Reiners und Borussen-Präsident Rolf Königs im Bewerbungsbrief an den DFB für einen EM-Spielort Mönchengladbach 2024: „Kaum eine Stadt und ein Verein sind so eng miteinander verwoben wie Mönchengladbach und die Borussia.“

Was für eine Europameisterschaft wenig Relevanz hat und außerdem zu beweisen wäre. Oder kommt hier „die Kunst der reinen Vermutung“ als Wesen des Niederrheinischen zum Tragen, deren pointierte Entlarvung dem „Zeit“-Textchef Christof Siemes zugeschrieben wird, ebenso die Geißelung der sprachlichen Form als „hemmungslos assoziierendes Schwadronieren“? Was ja nichts anderes ist als die vornehme akademische Umschreibung von Hölzchen und Stöckchen. Siemes, auch Romanautor nach dem Drehbuch des Sönke-Wortmann-Films „Das Wunder von Bern“, könnte es als gebürtiger Rheydter wissen, der nach eigenem Bekunden „im Schatten des Bökelbergs“ sozialisiert wurde.

Mönchengladbachs EM-Bewerbung 2024 scheitert krachend. Wobei die aus der Vitus-Stadt es bis heute noch nicht einmal geschafft haben, ihr recht überschaubares Hoheitsgebiet am Niederrhein einheitlich in den Köpfen der Bewohner zu verankern, weil sie nach wie vor mental in kleinteiligen Denkstrukturen verharren. Und so leisten sie sich zwar als einzige deutsche Stadt zwei Hauptbahnhöfe in ihren Mauern, aber keine ordentliche Verkehrsinfrastruktur, wie sie denn eine Fußball-Europameisterschaft wohl bräuchte. Die Umsetzung eines Masterplans 3.0 des britischen Architekten Nicholas Grimshaw von 2010 mit der „dritten Gründung“ (nach Mönchsansiedlung von 974 und Gebietsreform 1975 tausend Jahre später) dürfte auf sich warten lassen.

Andererseits: Wenn Gladbach es gelingt, sich im Fußball gegen prosperierende Großstädte wie Köln und Düsseldorf oder das von einem Weltkonzern alimentierte Leverkusen zu behaupten, ist das die Antwort auf dem Platz auf den angestammten Hochmut der großen Nachbarn. Losgelöst vom Rheinischen gibt es ein noch eingängigeres Beispiel: Als 1971 der Weltpokalsieger Internazionale Mailand zum Europapokal-Auswärtsspiel an den Bökelberg reist (und dort ein historisches 1:7 kassiert), denken die Italiener, Mönchengladbach sei ein Vorort von München. Nach sieben Gegentoren und einer Cola-Dose muss keiner von ihnen mehr im Atlas nachschauen …

Längst dürften an dieser Stelle die Düsseldorfer Fußball-Freaks mit den Hufen scharren. Die Frage ist ja berechtigt: Warum wurde die 1895 gegründete Fortuna bei der Derby-Diskussion bisher weitgehend ausgespart? Schreibt doch selbst besagter Schweizer Derby-Professor Christian Koller vom „Rhein-Derby zwischen Fortuna Düsseldorf und dem 1. FC Köln“, das wie andere Lokalspiele seine Brisanz nicht selten gewinne „durch eine in der Alltagskultur tief verwurzelte Rivalität benachbarter Städte“.

Die Landeshauptstadt Düsseldorf liegt nur 35 Kilometer von der Metropole Köln entfernt. Mental ist man voll auf Konfrontationskurs – ganze vier Düsseldorfer Stadtteile liegen auf der linken Rheinseite. Und historisch haben die Scharmützel zwar nicht mit der Schlacht von Worringen 1288 und ein paar Düssel-Bauern gegen den Kölner Mega-Bischof begonnen, wie oft gesagt wird, aber doch spätestens Anfang des 19. Jahrhunderts, als Napoleon am Fluss auftaucht. Da wird der Zwist zum Kampf um die Augenhöhe der Hochstapler und Emporkömmlinge.

Was zu erklären ist. Köln bezieht über Jahrhunderte seine führende Position auch aus dem „Stapelrecht“. Das wird 1259 von Erzbischof Konrad von Hochstaden verliehen und besagt, dass verschiffte Waren mit einer Reichweite von 100 Kilometern flussab- und aufwärts in Köln umgeladen werden müssen und die Stadt ein Vorkaufsrecht hat. Napoleon schafft das Privileg ab. Mit der späteren Industrialisierung steigt die Standort-Rivalität zwischen Köln und Düsseldorf weiter.

Düsseldorf, wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch (nicht unbedingt gesellschaftlich) stets im Schatten Kölns, entwickelt sich zum „Schreibtisch des Ruhrgebiets“. Im Unterschied zu den „dreckigen“ Produktionsorten im Pott wird man zur „sauberen“ Verwaltungshochburg und administrativen Zentrale. Da ist von NRW-Landeshauptstadt oder Bonn als provisorischer Bundeshauptstadt noch gar nicht die Rede … Das so gedemütigte Köln hingegen wird zur Metropole für das Banken- und Versicherungswesen und in jüngerer Zeit auch der Medien. Andere Unterscheidung: 700 Jahre nach der Schlacht bei Worringen erbringt ein stadtgeographischer Befund des Kölner Stadtarchivs von 1988, dass Köln als Verkehrsknotenpunkt auf Wasser, Straße und Schiene seine Stärken habe, während Düsseldorf im Luftverkehr die Nase vorn habe und besser im Dienstleistungsgewerbe positioniert sei.

Solche erdrückenden ökonomischen Fakten ermutigen 2013 Holger Beßlich im Portal „HalbangstBlog“, mit einem launigen Bekenntnis im Netz die Paarung „F95 vs. Effzeh“ unter Missachtung von Mönchengladbach als das wahre Rheinische Derby auszurufen: „Die Fohlen-Truppe ist da nur der niedere Anrainer. Gefühlt schon in Holzklotschen unterwegs.“ Beßlichs folgender vermeintlicher Großmut kommt allerdings eher als Eifersucht daher: „Wenn man sich seit mehr als 725 Jahren mit einem südlichen Nachbarn liebt und neckt, kann man auch dem neu zugezogenen Kind vom linken Niederrhein mal das Gefühl lassen, seine 50 Jahre junge Rivalität wäre von wahnsinnig hoher Bedeutung.“

Schön und gut. Dazu noch ein lustiges Helau gegen Alaaf, ein süffiges Alt gegen Kölsch, ein eisiges DEG gegen Haie und rotzige Tote Hosen gegen rostige Bläck Fööss. Doch wie hatten wir festgestellt, ebenfalls im Einklang mit Forscher Koller: Alle fordern für die Zuerkennung der Derby-Qualität gleiche sportliche Augenhöhe. Daran scheitert es bei den Fortunen, die 1933 einmal Deutscher Meister werden. Zudem gibt es zwei Pokalsiege 1979 und 1980 gegen Hertha sowie – hört, hört – den 1. FC Köln. 1979 erreicht man das Endspiel im Europapokal der Pokalsieger und unterliegt dem FC Barcelona 3:4 nach Verlängerung. Schwerer wiegt, dass die Fortuna nach der längsten Phase ihrer Erstliga-Zugehörigkeit von 1971 bis 1987 zur Fahrstuhlmannschaft verkommt und Anfang der 2000er Jahre sogar viertklassig ist. VfL-Manager Max Eberl: „Da haben sie dann gegen unsere zweite Mannschaft gespielt …“

Düsseldorf und Köln kommen lange gar nicht mehr in Erstliga-Duelle. Das ändert sich momentan wieder, aber in diesem Jahrtausend stehen ansonsten mal gerade zwei Pflichtspiele in der Zweitliga-Saison 2013/14 zu Buche. Umgekehrt verhält es sich bei Bayer Leverkusen, 1904 gegründet, abgesehen von fünf Jahren in der Oberliga West aber bis zum Bundesliga-Aufstieg 1979 nie erstklassig und deshalb als gestandener Partner für das Rheinische Derby keine erste Wahl. Dennoch pikant: Ein Jahr nach der Vereinsgründung gewinnt der 1. FC Köln 1949 die Aufstiegsendspiele zur Oberliga West gegen … Bayer Leverkusen und bleibt bis zum ersten Bundesliga-Abstieg 1998 fast ein halbes Jahrhundert am Stück erstklassig.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?