Die Tränen des Kardinals

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„Er hat gestern schon über eine Erkältung geklagt“, rief einer der Kellner herüber.

„Was wollt ihr denn von ihm?“

Wir ließen die Frage unbeantwortet und liefen durch das Lokal, an der Küche vorbei die Treppe hoch. Die Tür zur Wohnung war nur angelehnt. Nie ein gutes Zeichen. Wir gingen hinein. Der gleiche Anblick wie in Domenicos Wohnung. Umgestürzte Möbel, aufgerissene Schränke, offene Schubladen. Eine Menge Papier lag auf dem Fußboden. Nur eins war anders. Ganz anders.

Inmitten des Durcheinanders lag mit ausgebreiteten Armen ein Mann. Kopfschuss. Die Augen weit offen. Sein weißes Hemd war blutgetränkt. Er konnte uns nichts mehr sagen. Marcello betastete seinen Hals.

„Tot.“

Es war nicht Domenico. Ich tippte auf Romano Lupo. Ein Fenster stand sperrangelweit offen. Sah verdammt danach aus, als wenn jemand Reißaus genommen hatte. Ich sah aus dem Fenster. Der Markt war nun noch voller geworden. Selbst wenn Domenico noch dort unten weilte, würden wir ihn in dem Gewimmel kaum ausmachen können. Ich ging in den Flur und rief nach unten, dass mal jemand heraufkommen solle.

Ein untersetzter junger Mann kam herauf.

„Lucius. Ich bin Romanos jüngerer Bruder“, stellte er sich vor.

Ich nickte mit dem Kopf, dass er ins Wohnzimmer gehen solle. Er tat es zögerlich und schrie dann auf. Er beugte sich zur Leiche hinunter und nahm den blutigen Kopf und wiegte ihn in seinen Armen.

„Romano, Romano!“, jammerte er.

Nun kamen noch andere vom Personal herauf und stimmten in das Wehgeschrei ein. Ich lief hinunter in die Pizzeria, nahm das Telefon vom Tresen und rief Montebello an und berichtete ihm von dem Schlamassel.

„Kann sein, dass unser Pizzabäcker die Sache mit unserem Freund ausgeheckt hat. Domenico konnte den Cantonas vielleicht ein zweites Mal entkommen.“

„Wenn es die Cantonas sind“, sagte Montebello nüchtern. „Eine Visitenkarte haben die wohl nicht hinterlassen.“

„Nein“, gab ich zu. „Aber wer sollte es sonst sein?“

„Wenn die Sizilianer den Romano Lupo umgebracht haben, dann stecken die tatsächlich hinter dem Dokumentenraub. Du bist in höchster Gefahr.“

„So wird es wohl sein.“

„Gut. Ich komme mit Streife und Krankenwagen zu euch. In fünfzehn Minuten sind wir da.“

Ich ging in die Wohnung zurück.

„Kennt ihr Domenico Casardi?“, fragte ich die Runde und scheuchte sie von dem Toten weg. Dies war ein Tatort. Sie zerstörten eventuelle Spuren.

Lucius nickte bekümmert.

„Ja. Natürlich. Er ist oft hier.“

„Gestern auch?“

Wieder ein Kopfnicken. „Er hat bei uns übernachtet.“

„Gab es etwas Besonderes?“

„Sie hatten ein großes Ding laufen, aber Romano hat nicht herausgelassen, was es war. Er sagte nur einmal, wenn es klappen würde, dann hätten wir ein für alle Mal ausgesorgt.“

„Tja, nun hat er ein für alle Mal ausgesorgt“, warf Marcello düster ein.

„Wer wohnt noch in diesem Haus?“

„Mein Vater, meine Mutter, meine zwei Brüder und natürlich noch Romanos Frau mit den zwei Kindern.“

„Und ihr habt nichts gehört?“

Sie schüttelten alle den Kopf.

„Schalldämpfer!“, mutmaßte Marcello.

„Wohin könnte Domenico geflohen sein?“

Sie sahen sich ratlos an.

„Domenico hat ihm sicher nichts getan“, beteuerte Lucius.

„Das vermute ich auch nicht. Es geht wohl um das große Ding, das zu groß für sie war.“

Ein alter Mann trat ein und stürzte schreiend zur Leiche. Montebello traf mit der Spurensicherung ein. Er fluchte, als er die vielen Menschen in der Wohnung sah und schickte alle hinaus. Der Vater war ein harter Brocken. Er hatte zwar ein tränennasses Gesicht, aber tat, was getan werden musste. Er war der Typ „in vielen Gefechten gestählter Unteroffizier“. Er ließ das Restaurant schließen. Die noch anwesenden Gäste bat er zu gehen und erließ ihnen die Bezahlung. Keiner der Gäste protestierte. Ich wiederholte meine Frage, wo Domenico sein konnte. Der Alte strich sich nachdenklich über seinen Schnurrbart.

„Wir und die Casardi haben einmal hinter den Caracalla-Thermen gewohnt. Meine und Casardis Kinder haben oft hinter dem Grabmal der Caecilia Metella gespielt. Die Kinder hatten dort unterhalb des Grabmals eine kleine Höhle entdeckt, in der sie sich oft aufgehalten haben. Vielleicht ist er dorthin.“

Es war immerhin eine Möglichkeit. Ich informierte Montebello und wir ließen uns mit dem Taxi zur Via Appia Antica fahren. Wir baten den Taxifahrer zu warten. Er nickte vergnügt und deutete auf sein Tachometer. Obwohl es nur eine Ruine war, konnte man gut nachvollziehen, wie gewaltig das Grabmal einst gewesen war. Im Mittelalter war es zu einer Festung ausgebaut worden. Bald fanden wir unterhalb des Grabmals die geschilderte Höhle. Einst mochte es ein Raum für die Trauernden gewesen sein. Dort lag Domenico. Er hatte die Augen geschlossen. Auf seinem weißen Hemd war ein großer Blutfleck. Ich prüfte seine Halsschlagader. Er hatte noch Puls. Marcello öffnete sein Hemd.

„Scheiße!“, sagte er und deutete auf ein kleines, böse aussehendes Loch oberhalb der Lunge. Domenico öffnete die Augen. Sie weiteten sich vor Entsetzen.

„Nein. Wir kommen nicht von den Cantonas“, versuchte ich ihn zu beruhigen. Sein Atem beruhigte sich.

„Hast du das Dokument noch?“

Er schüttelte den Kopf.

„Nein. Romano hatte es ihnen übergeben, aber er forderte mehr Geld als ursprünglich vereinbart. Sie haben uns ausgelacht. Er hat sich auf sie gestürzt und da haben sie ihn … kaltblütig niedergeschossen. In dem Durcheinander bin ich zum Fenster hinaus. Sie haben mir noch eine Kugel hinterhergeschickt. Was ist mit Romano?“

Seine Stimme war so leise geworden, dass man ihn kaum verstehen konnte.

„Los, Marcello! Lauf zum Taxi. Sie sollen uns einen Krankenwagen schicken.“

Marcello lief hinaus.

„Was ist mit Romano?“, flüsterte er erneut.

„Welche Rolle spielte Romano?“, wich ich aus.

„Romanos Familie stammt aus Palermo. Mit einem Cantona war er in der gleichen Klasse. Er bat Romano, den Kontakt zu mir herzustellen. Sie wussten, dass mein Onkel Archivar im Vatikan ist.“

Er brach ab. Er war wieder bewusstlos. Ein Wunder, dass er es überhaupt bis hierher geschafft hatte.

Ich konnte mir den Rest zusammenreimen. Domenico und Romano hatten natürlich am Anfang keine Ahnung von dem Wert des Dokuments gehabt. Als ihnen dies klar wurde, wollten sie sich nicht mit ein paar Tausend Lire abspeisen lassen. Das ging gründlich daneben. Aber vielleicht hatten die Cantonas ohnehin vorgehabt, die beiden Amateure umzulegen. Einmal konnte Domenico ihnen entwischen und das war schon mehr Glück, als es viele andere gehabt hätten.

Er schlug wieder die Augen auf.

„Werde ich sterben?“

„Hoffentlich nicht! Commissario Montebello wird ungern einen wichtigen Zeugen verlieren. Weißt du die Namen der Brüder, die dich …?“

„Nur einen. Rollo Pupetto. Das ist der, mit dem Romano in die Schule …“ Er war wieder weg.

Nun waren Sirenen zu hören. Montebello stürmte mit den Sanitätern herein.

„Oh Scheiße!“, stöhnte er, als er Domenico wie tot daliegen sah.

Der Arzt beugte sich über den Verletzten.

„Die Lunge scheint nicht getroffen zu sein“, murmelte er.

„Wird er es schaffen?“, fragte Montebello.

„Möglich. Er ist ja noch jung. Aber er hat viel Blut verloren.“

„Dann schafft ihn schleunigst ins Krankenhaus.“ An seinen Assistenten gewandt, sagte er, dass er mitfahren und dafür sorgen solle, dass eine Wache vor dem Krankenzimmer postiert würde.

Wir fuhren mit ihm in die Stadt zurück. Der Taxifahrer war sauer, dass er nicht auch für die volle Rückfahrt kassieren konnte. Marcello gab ihm eine Abschlagszahlung. Der Taxifahrer war trotzdem nicht zu beruhigen. Mit Vollgas fuhr er davon.

Auf dem Kommissariat setzte sich Montebello an den Computer. Seine großen Hände fuhren unbeholfen über die Tasten.

„Rollo Pupetto sagtest du?“

„So nannte ihn Domenico.“

„Scheißkiste! Früher brauchten wir solche Kisten nicht. Es ging alles langsamer, aber auch gründlicher. Da!“ Er haute auf die Tasten. „Er wird verdächtigt, an drei Morden und einer Entführung beteiligt gewesen zu sein. Ein tolles Früchtchen.“

Ich rief Kardinal Wischnewski an und fragte, ob schon eine Lösegeldforderung eingetroffen sei.

„Nein. Dann hätte ich Sie längst informiert. Was ist passiert?“

Ich schilderte ihm die letzten vierundzwanzig Stunden.

„Wenn man bedenkt, dass wir erst seit zwei Tagen an dem Fall dran sind, ist das ein passables Ergebnis“, lobte ich mich.

„In der Tat. In der Tat“, ging er darauf ein. „Ein ganz erstaunliches Ergebnis. Ich werde das an den Kardinalstaatssekretär weitergeben.“

„Wir wissen jetzt, wie das Dokument gestohlen werden konnte und wer es gestohlen hat. Wir wissen nur nicht, warum sie die Rechnung noch nicht präsentiert haben.“

„Was werden Sie nun tun?“

„Nach Palermo fliegen, was sonst?“

„Seien Sie nur vorsichtig.“

„Sagte der Frosch zur Libelle, als sich der Storch über ihn beugte.“

Montebello deutete mit dem Kopf auf den Bildschirm, dass er bereits den Flug buchte.

„Pupetto ist unter seinem Namen nach Palermo geflogen“, rief Montebello.

Wischnewski murmelte: „Was haben die nur vor?“

Ich beließ ihn bei seinen Sorgen.

„Ich werde den dortigen Kommissar informieren. Der wird dir zur Seite stehen. Mein Bruder kann es ja nicht mehr. Sein Nachfolger ist auch ein guter Mann. Er ist ein Jugendfreund von mir.“

Wir waren kaum in der Detektei, da klingelte es. Automatisch griff Marcello zum Telefon. Aber es war die Tür. Ein gut gekleideter Mann mit einem Stetson trat ein. Kaugummi kauend musterte er mich. Er stieß seinen Hut zurück und setzte sich unaufgefordert. Ich warf Marcello einen fragenden Blick zu. Dieser zog die Schultern hoch.

 

„Sie sind also der ‚toughe Guy‘! Sie machen einen guten Job. Ich werde Sie zukünftig unterstützen“, sagte er und reichte mir seine Karte. Es war eine beeindruckende Karte. Er war von der CIA. Er nannte sich Elvis Collins. Wollte er mit mir den Jailhouse Rock singen?

„Ja und?“, fragte ich so kühl wie Humphrey Bogart in „Haben und Nichthaben“. Er lächelte. Seine Jacke war rechts ein wenig ausgebeult.

„Sie sind nicht hinter dem Zusatzvertrag her?“, fragte er mit ironischem Grinsen.

„Kann schon sein.“

„Und den haben nun die Cantonas.“

„Schon möglich.“

„Ich wollte Ihnen nur zusichern, dass wir auf Ihrer Seite sind. Wir wissen, dass noch keine Geldforderung beim Vatikan eingetroffen ist und wir vermuten, dass es um mehr als ums Geld geht. Das ist ein Spiel, das wesentlich größer ist als Sie vermuten.“

„Ach ja?“

„Ja, Buddy! Es geht vielleicht um die Entscheidung, wer den Kalten Krieg gewinnt.“

Mir blieb die Spucke weg. Mein Mund fühlte sich trocken an.

„Bei den Cantonas dreht sich alles ums Geld“, widersprach Marcello.

„Bisher. Diesmal sind sie nur Helfershelfer.“

Ich sah Marcello ratlos an. Der zog wieder die Achseln hoch.

„Tja, Buddy, du bist in ein ganz großes Spiel hineingeraten.“

Sein Kumpelgehabe ging mir auf die Nerven.

„Vielleicht. Vielleicht ein bisschen viel Vielleicht.“

„Mag sein. Eine erste Arbeitshypothese von uns. Aber es sieht ganz danach aus, dass sie belastbar ist. Wir gehen im Moment davon aus, dass die Cantonas vom KGB engagiert worden sind.“

„Die Mafia ist nun nicht gerade dafür bekannt, Kommunistenfreunde zu sein.“

„Die hassen die Kommunisten wie die Pest“, unterstützte mich Marcello.

„Normalerweise stimmt das“, gab er zu. „Es ist alles eine Sache des Preises.“

„Und die CIA ist bereit, in das Spiel einzusteigen?“, fragte Marcello skeptisch.

„Natürlich. Wenn sie das Papier in den Händen halten, können sie dem Papst signalisieren, sich nicht in Polen einzumischen, sonst …“

„Sie sind gut informiert“, gab ich zu.

„Unsere Firma macht ihre Hausaufgaben“, tat er sehr von oben herab.

Ich mochte ihn nicht. Aber ich konnte seine Hilfe gebrauchen, deswegen unterließ ich eine harsche Antwort über die CIA-Pannen.

„Die Cantonas werden das Dokument also dem KGB übergeben?“

„Richtig. Und dafür viel Geld erhalten. Sie werden dafür vergessen, dass sie die Kommis eigentlich hassen. Wir sind auf Ihrer Seite!“, wiederholte er. „Ach, übrigens, ich habe etwas für Sie.“

Er griff in die Tasche und holte eine Smith & Wesson heraus und hielt sie mir mit der flachen Hand entgegen.

„Die Waffe ist nirgendwo registriert. Ihr Weg kann nicht zurückverfolgt werden. Sie ist auch noch niemals eingesetzt worden. Aber das Besondere ist, ich habe für den Revolver auch eine besondere Munition.“ Er hielt mir eine Packung Patronen entgegen. „Spezialmunition! Fürchterliches Zeug! Hochexplosiv. Wirken wie kleine Granaten. Selbst bei einem nicht tödlichen Treffer paralysieren die Kugeln den Gegner so stark, dass er kampfunfähig ist.“

„Und warum geben Sie mir so ein Dreckszeug, das sicher verboten ist?“

„Weil wir nicht immer an Ihrer Seite sein können.“

Ich sah ratlos zu Marcello hinüber. Sollte ich mich von der CIA derart aufrüsten lassen?

„Ich verpflichte mich zu nichts“, erwiderte ich und steckte Waffe und Munition ein.

„Tun Sie nur Ihre Arbeit und holen Sie das Dokument zurück! Vorsichtig. Die Waffe ist geladen.“

Er schlug sich auf die Knie, setzte den Hut wieder auf und zwinkerte mir zu. „Man sieht sich!“ Mit einem „Good luck!“ empfahl er sich.

„Ist das tatsächlich passiert?“, fragte ich Marcello.

Ich wechselte meine Smith & Wesson gegen die CIA-Kanone aus. Marcello legte meinen Revolver in den Tresor. Er holte dafür meine Snubby heraus und reichte sie mir. Ich nahm sie gern. Sie war klein und hässlich, aber bei naher Distanz außerordentlich nützlich. Ich band sie mit dem Holster an mein Fußgelenk.

„Denk an die alte Regel. Wenn du einen Revolver aus dem Halfter ziehst, musst du auch bereit sein zu schießen“, mahnte Marcello mich, der einen gehörigen Respekt vor Schusswaffen hatte und meistens auf sie verzichtete. Ich rief Montebello an und informierte ihn über das Gespräch.

„So, so. CIA als Begleitschutz. Mich wundert gar nichts mehr. Ich bekam vorhin einen Anruf vom Innenministerium, dass wir den Vatikan zu unterstützen haben. Diskret natürlich. Ich fahre dich morgen zum Flughafen. Du brauchst nicht die Personenkontrolle zu passieren.“

„Was hältst du von der Spezialmunition?“

„Habe davon gehört. Kriegsmaterial. Soll geächtet werden. Setze das Zeug nur im äußersten Notfall ein.“

„In Ordnung. Und was ist deine Meinung zum Endkampf des Kalten Krieges?“

„Der Vatikan hat ein ganz großes Ding am Laufen. Es gibt die wildesten Gerüchte. Aber Genaues weiß niemand.“

„Was für Gerüchte?“

„Die Cosa Nostra wäscht Geld bei der IOR, der Vatikanbank. Frage: Warum lässt sie sich darauf ein?“

„Wenn das stimmt?“

„Wo Rauch ist, ist auch Feuer. Aber lass dich nicht verwirren. Bleib am Dokument dran.“

Nichts anderes hatte ich vor. Ich hatte mich mit dem Teufel eingelassen und stellte mir die Frage, ob die Unterstützung das wert war. Eine Vorahnung hatte ich schon. Aber ich glaubte, das Spiel bestimmen zu können. Wenn ich gewusst hätte, wer alles am Spieltisch saß, wäre ich nicht nach Palermo, sondern nach Hamburg geflogen. Es hieß zwar, Katzen haben sieben Leben. Aber konnte man dessen sicher sein?

4
Sizilianisches Intermezzo

Montebello fuhr mich aufs Flugfeld, dicht an die Maschine der Italia Airlines. Die Stewardess empfing mich auf der Gangway mit großen Augen. Sicher fragte sie sich, ob ich der Polizeipräsident oder der Minister des Inneren war. Ich bekam das entzückendste Lächeln, das ihr zur Verfügung stand. Genauso angenehm war der Sitz in der ersten Klasse. Auf dem kurzen Flug fragte sie alle zehn Minuten, ob sie etwas für mich tun könne.

Andrea Cosselieri empfing mich ebenfalls auf dem Flugfeld. Er war glatzköpfig, so um die Fünfzig und ein wenig übergewichtig. Sein fleischiges Gesicht strahlte Autorität aus. Sein Händedruck bestätigte dies. Seine Augen blickten zwingend.

„In groben Zügen weiß ich Bescheid. Silvio Montebello hat mir gestern Abend die Ohren vollgequatscht. Doch gehen wir erst mal essen, sonst kann man ja keinen vernünftigen Gedanken fassen.“

Er fuhr mich in die Innenstadt. Gegenüber dem Kommissariat war das Stupor Mundi. Mehr Reklame ging wirklich nicht. Immerhin war es der Beiname des Stauferkaisers Friedrich II. gewesen, den man das „Staunen der Welt“ genannt hatte. Als wir es betraten, kam der Wirt, seine Hände an der Schürze reibend, gleich auf uns zugeschossen.

„Signori, Signori, heute ist ein guter Tag.“

„Was hast du Gutes?“, fragte Cosselieri und setzte sich an die Stirnwand, so dass er das Restaurant übersehen konnte.

Wie sich doch Mafia- und Polizeiregeln gleichen, dachte ich.

„Ein sehr guter Tag“, wiederholte der Wirt. „Frische Sardinen zum ersten, eine Dorade zum zweiten, gefüllte Tomaten als dritten Gang. Ein Festschmaus.“

„Gut, gut. Und einen Roten aus Catania. Als Aperitivo vorab ein Bier. Es wird ein heißer Tag heute.“

Er hatte recht. Die Sonne lag wie eine Bruthenne über der Stadt.

„Also, dann will ich dich mal aufs Laufende bringen. Die Stadt hat sich in den letzten zwei Jahren sehr verändert. Antonio Cantona ist der eigentliche Herr von Palermo. Ein großer Teil seiner Geschäfte ist legal. Er ist in großem Stil ins Baugeschäft eingestiegen. Außerdem ist er halblegal im Olivengeschäft tätig. Verkauft griechische Oliven als italienische. Der düstere Teil sind Glücksspiel und Bordelle und … Schmuggel von Rauschgift. Seine beiden Leutnants Bonanini und Bacocelli sind dafür zuständig. Sie sind für die blutigen Geschäfte prädestiniert. Intelligent. Brutal. Skrupellos. Sein Consigliere ist Ragniani. Da sich die beiden Leutnants in Rom aufgehalten haben, ist dort ein großes Geschäft über die Bühne gegangen.“

„Wie kommt es, dass ihr so viel über die Mafia wisst und doch können sie fast ungehindert ihren Geschäften nachgehen?“

„Was gibt es da zu wundern?“, entgegnete er unwillig. „Es fehlt an Beweisen. Es fehlt an Personal. Es fehlt an Anstand. Alle sind irgendwie korrupt. Und das Gesetz der Omertà gilt immer noch. Nicht reden, nicht sehen, nicht hören. Die Mafia bekommt ihren Stoff nicht über die French Connection, sondern aus … der Krim. Das führt zu ganz seltsamen Bündnissen. Du verstehst?“ Von förmlicher Anrede schien er nicht viel zu halten.

„Dass sie wieder dick im Drogengeschäft sind, erstaunt mich. Ich dachte, sie hätten dies aufgegeben.“

„Das war der alte Cantona. Sein Sohn hat es wieder aufgegriffen. Das Geschäft ist zu lukrativ. Sie haben sich von der kolumbianisch-amerikanischen Connection getrennt. Mit der Cosa Nostra in New York haben sie sich verkracht, weil die zu viel vom Gewinn abgeschöpft haben. Nun läuft die Verbindung über die Türkei. Dort wird der Stoff aus der Krim fast industriell zu Heroin verarbeitet. Durch die kürzeren Transportwege können die Cantonas wesentlich billiger als die French Connection liefern. Sie scheffeln Millionen.“

„Aha, deswegen haben sie ihre Abneigung gegen die Kommunisten zurückgestellt.“

„Richtig. Sie sind auf das Wohlwollen der Russen angewiesen. Was ist das für ein Dokument, das sie geklaut haben?“

Ich beschloss, Montebellos Freund zu vertrauen. Trotz der Vorschrift, dies geheim zu halten, erzählte ich ihm den Hintergrund. Er nickte bedeutsam.

„So ist das. Ja, das würde den Vatikan gehörig in Verlegenheit bringen. Aber …“ Er machte eine Kunstpause und starrte plötzlich vergnügt auf den Teller mit den Sardinen, die der Wirt gebracht hatte. „… unter dem alten Cantona hätten sie sich nicht auf solche Dinge eingelassen. Er war ein guter Katholik und hätte den Vatikan nicht ernsthaft in Verlegenheit gebracht. Ich habe mich ein wenig umgehört. Im Grand Hotel Wagner ist ein Boris Dscherwinskij abgestiegen. Ich habe bei einem Freund vom italienischen Geheimdienst nachgefragt. Er ist ein hoher KGB-Offizier. Ein Oberst, keine kleine Nummer. Was sucht der ausgerechnet jetzt in unserer schönen Stadt? Denken wir mal laut.“

Er verspeiste die letzte Sardine und wischte sich vergnügt den Mund ab, nahm einen großen Schluck von dem vortrefflichen Rotwein und fuhr fort: „Der Fall beginnt mir Spaß zu machen. Es könnte doch sein, dass die Cantonas sich mit den Sowjets eingelassen haben, weil sie mit Rauschgift bezahlt werden. Je länger ich darüber nachdenke, desto besser gefällt mir die Idee. Die Russen hatten ein unschlagbares Angebot.“

„In ähnliche Richtung gingen auch schon meine Gedanken. Ich wusste nur nicht, warum die Mafia plötzlich sowjetfreundlich geworden ist.“

Er starrte mit großer Freude auf die Dorade, die uns nun serviert wurde. Goldbraun lag sie auf dem Teller.

„Vorzüglich, vorzüglich, mein lieber Federico. Doch weiter im Text: Rollo Pupetto ist heute mit der Frühmaschine aus Rom eingetroffen. Dscherwinskij hat für morgen einen Flug über Rom nach Warschau gebucht. Im Übrigen hat er einen Dimitri Sarlowka bei sich. Sein Leibwächter? Jedenfalls behauptet unser Geheimdienst, dass er ein KGB-Killer ist. Ein Killer vom bulgarischen Geheimdienst.“

Ich war etwas überrascht, wie schnell sich die Dinge entwickelten. Ich berichtete ihm, dass mich ein Elvis Collins von der CIA kontaktiert hatte.

„Oha, der Krieg ist unter der Decke bereits im Gange. Die Amis sind natürlich nicht daran interessiert, dass der Vatikan geschwächt wird. Der Heilige Vater besucht diese Woche Polen. Und wir wissen doch, dass die Polen trotz der jahrzehntelangen Zwangsherrschaft der Kommunisten ihren Glauben nicht verloren haben. Sie verehren Johannes Paul II. wie einen Heiligen. Sie hoffen, dass er sie von der kommunistischen Diktatur befreien wird.“

„Na gut, dann werde ich mir mal die beiden KGB-Männer genauer ansehen.“

 

„Achtung. Es sind Super-Profis!“

„Davon gehe ich aus.“

„Vielleicht kann ich helfen. Dscherwinskij genießt die Freuden des Westens in vollen Zügen. Vielleicht ist er heute Nacht wieder in der Isola Bella, einer Bar der Cantonas. Ich werde dort eine Razzia machen, die ich nicht bei meinem Vorgesetzten anmelde, sonst wird die Nachricht durchgestochen oder die Razzia aus Kostengründen verweigert. Wo wirst du übernachten?“

„Im Hotel Wagner. Dort kann ich den Dscherwinskij schon mal in Augenschein nehmen.“

„Fang den Krieg nicht zu früh an.“

„Nein. Ein Schritt nach dem andern.“

Cosselieri grunzte und bestellte als Digestif einen caffè.

„Wann wollt ihr die Bar besuchen?“

„Kurz nach vierundzwanzig Uhr. Du kommst davor am besten zu mir ins Kommissariat.“

Nach dem Essen und einer halben Flasche Wein fuhr ich ins Hotel Wagner. Es war ein Haus mit viel Tradition. Der Komponist Wagner hatte angeblich in ihm genächtigt. Es hatte auf meine Entscheidung keinen Einfluss. Ich mochte seine Musik nicht. Sie war so schwülstig wie die Empfangshalle des Wagner. Ich nahm eine Suite. Kardinal Wischnewski würde staunen, wie teuer die Zimmer in Palermo waren. Danach machte ich eine Besichtigungstour durch die Stadt. Viel Zeit hatte ich nicht. Aber es reichte für Monreale und das Grab Friedrichs II.

Als ich zurückkam, war eine Nachricht für mich da. Ich solle Kardinal Wischnewski sofort zurückrufen. Ich ging auf mein Zimmer und rief ihn an.

„Wir haben einen zusätzlichen Auftrag für Sie. Kommen Sie sofort nach Rom zurück.“

„Überfordern Sie mich nicht. Ich habe es schon mit dem KGB, der CIA und der Mafia zu tun. Die reichen mir eigentlich als Mitspieler.“

Eine Weile war es still.

„Erzählen Sie!“

Ich tat es. Es schien ihn zu verwundern, wer alles mitspielte.

„Politik!“, seufzte er. „Kein Wunder. Wir gehen übermorgen nach Polen. Vorher muss ich Sie aber unbedingt instruieren.“

„Na gut. Aber denken Sie daran: Doppelter Auftrag bedeutet doppeltes Honorar plus Spesen.“

„Daran wird es nicht scheitern.“

Was mochte es sein, dass ihm der neue Auftrag im Moment wichtiger war als die Jagd nach dem Zusatzvertrag?

Nach dem Gespräch ging ich unter die Dusche und ließ das kalte Wasser lange auf mich herunterprasseln. Ich holte neue Wäsche aus dem Koffer, zog ein frisches Hemd an und schlüpfte in meine abgewetzte Lederjacke. Ich fühlte mich frisch genug, um es mit dem KGB-Mann aufzunehmen und ging hinunter in den Speisesaal. Spencer fehlte mir. Ich hatte ihn bei Marcello lassen müssen.

Es waren nicht viele Gäste im Restaurant. Die vier Ehepaare konnte ich ausschließen. Also blieb nur ein schmaler Mann in einem schlecht sitzenden Anzug übrig. Er hatte ein hartes, männliches Gesicht, eine scharf geschnittene Nase und kalte blaue Augen. „Blue Eye“ auf sowjetische Art. Er hielt sich sehr gerade, was den Militär verriet. Wir musterten uns beide. Ich ging zu ihm.

„Oberst Dscherwinskij, wenn ich mich nicht irre.“

„Sie irren sich. Mein Name ist Igor Balerowitsch. Ich bin Wirtschaftsbeauftragter der ukrainischen Regierung.“

„Wegen mir. Aber Sie wissen, wer ich bin, und ich weiß, wer Sie sind. Die Cantonas werden Ihnen von mir berichtet haben.“

Er zuckte mit den Achseln und lehnte sich weit zurück.

„Sie haben sich mir bisher nicht vorgestellt.“

Ich tat es auch jetzt nicht. Solche Scherze waren unnötig.

„Ich wollte Ihnen nur sagen, dass das Dokument, das die Cantonas für Sie gestohlen haben, eine Fälschung ist.“

Ich nahm also Wischnewskis Bemerkung auf, dass das Dokument eine Fälschung sein könnte. Ich hoffte, damit die Gegenseite zu verunsichern. Wie würde er darauf reagieren? War er ein Spitzenagent?

„Junger Mann, ich weiß nicht, wovon Sie reden. Aber ich weiß, dass Sie sich in Ungelegenheiten bringen, wenn Sie mich weiter belästigen!“

„Wieso? Ihren Freund Sarlowka sehe ich nicht im Saal. Er ist doch wohl für das Grobe zuständig.“

Seine blauen Tiefseeaugen wurden zu schmalen Schlitzen. Er legte Messer und Gabel beiseite.

„Ich gebe Ihnen mein Wort, dass Sie ihn noch kennenlernen werden!“

Das war nicht professionell. Er hätte auf meine Angriffe gelassener reagieren müssen. Jedenfalls hätte ich es so gehandhabt.

„Könnte für Ihren Freund sehr ungesund werden.“

Damit nahm ich zugegeben den Mund sehr voll. Aber mit eingezogenem Schwanz durfte man den Sowjets niemals entgegentreten. Er zwang sich ein Lächeln ab. Eine schmale Linie, so scharf wie ein Rasiermesser.

„Sie wissen ja nicht, mit wem Sie sich anlegen, junger Mann.“

„Ach, der KGB ist auch nicht mehr das, was er einmal war. So ein Aufwand für eine Fälschung. Sie ist so echt wie die Konstantinische oder die Pippinische Schenkung, wenn Sie wissen, was ich meine.“ Damit missachtete ich die Warnung des Hauptkommissars. Ich fing den Krieg sehr früh an.

„Woher wollen Sie das wissen?“

„Sie wissen nicht einmal, wer ich bin? Wissen nicht, wer mich schickt? Machen Sie sich nicht lächerlich.“ Er schwieg dazu. „Dann wären Sie ja noch unfähiger, als ich angenommen habe.“

Er fuhr hoch. Seine Hand zerknüllte die Serviette.

„Verschwinden Sie!“, fauchte er und ließ die Maske fallen, indem er seine Hand in die Jacke schob, die sich an den Schultern leicht ausbeulte. Ich tat es ihm nach und klopfte auf meine Lederjacke. Er verstand.

„Das wäre ein Fehler“, kommentierte ich. „Wo ist denn nun Ihr Bodyguard oder was immer Sarlowka ist?“

„Er wird sich schon noch einfinden.“

„Meine Zimmernummer ist 333. Eine gute Nummer. Sie wissen, was sich dahinter verbirgt?“

Er blickte blöd. Geschichte schien nicht sein Lieblingsfach gewesen zu sein. Ich wandte mich um und ging zu einem Tisch auf der anderen Seite des Saals. Ich wusste, dass er nicht schießen würde. Es war ein Ritt auf der Rasierklinge. Aber mein Selbstbewusstsein würde ihn ins Grübeln bringen. War der Zusatzvertrag tatsächlich eine Fälschung? Ich bestellte einen Salade niçoise und als Hauptgericht Pasta mit Meeresfrüchten. Er stürmte nach einem gehässigen Blick aus dem Restaurant. Danach rief ich Cosselieri an.

„Was ist denn?“, fragte er etwas unwillig.

„Ich habe gerade mit Dscherwinskij geplaudert.“ Ich erzählte ihm von dem Gespräch. „Mit dem Hinweis auf die angebliche Fälschung wollte ich ihn ein wenig verunsichern. Ich glaube, es ist mir gelungen.“

„Du bist ein Idiot! Du hast ihn damit nur richtig wild gemacht.“

„Den Eindruck hatte ich auch.“

„Hoffentlich hast du dich damit nicht gewaltig überschätzt.“

„Er wird mir unbedingt beweisen wollen, dass der KGB nicht an Schlagkraft verloren hat.“

„Und du glaubst, dass du ihm gewachsen bist?“

„Das werden wir sehen. Übrigens, wieso ich eigentlich anrufe. Mein Gastspiel in Palermo wird diesmal sehr kurz sein. Man hat mich nach Rom zurückgerufen. Man will, bevor sich der Heilige Vater nach Polen aufmacht, noch einmal mit mir sprechen. Keine Ahnung, was ihnen nun wichtiger ist.“

„Du spielst in der Tat in der ersten Liga“, stellte er beeindruckt fest. „Übrigens … Warte mal. Mir wird gerade ein Zettel gereicht. Es wurde heute für die Frühmaschine ein Ticket nach Warschau gebucht. Ein polnischer Name – Dimitri Pilsinski. Ich werde prüfen lassen, ob dies der Bulgare Sarlowka ist. Nach unserem Gespräch lasse ich den Flughafen, die Bahn und die Häfen überwachen. Nun muss ich Schluss machen. Wir sehen uns heute Nacht.“

Wir fuhren mit acht Autos und zwei Bussen zur Isola Bella. Natürlich ohne Blaulicht und Signalhorn, sondern lautlos. Wir kamen wie die Comancheros des Geronimo über die Gäste der Bar. Der Schuppen hätte eine schöne Kulisse für einen Film über die Zeit des Risorgimento abgegeben. Hübsch rotplüschig mit vergoldeten Spiegelrahmen. Die Bar war so lang wie die Titanic und verchromt. Eine verspiegelte Kugel drehte sich an der Decke. Laserblitze zuckten über die Köpfe der Gäste, was mit der Einrichtung kontrastierte. Es gab viel Geschrei und umgestürzte Sessel. Einige wollten flüchten. Die Carabinieri nahmen sie am Ausgang in Empfang und verfrachteten sie in die Busse.

Antonio Cantona eilte mit den Armen fuchtelnd auf Cosselieri zu. Ich kannte ihn gut, hatte ich ihm doch bei meinem ersten Palermo-Aufenthalt ein paar üble Stunden beschert.

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