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Expansion: Von Einsiedeln nach New York

Regionale Netzwerke, Verwandtschaftsbeziehungen und die kommunale Politik waren ein wichtiger in die Firmengeschichte «integrierter Anker».220 Dem stand andererseits die dezidiert internationale Ausrichtung des Unternehmens gegenüber. Internationale Handelsbeziehungen, vor allem in den süddeutschen Raum – mit Städten wie Stuttgart, Augsburg, Nürnberg – und ins Elsass, waren bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert ein fester Teil des Geschäfts. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergrösserte sich der Absatzmarkt punkto Intensität und Ausdehnung. In der zweiten Jahrhunderthälfte beschleunigte sich die Expansion. Dies lässt sich nicht zuletzt an diversen Niederlassungen ablesen, welche die Firma Benziger ab den 1850er-Jahren in den USA (New York, 1853; Cincinnati, 1860; St. Louis, 1875; Chicago, 1887), in Deutschland (Waldshut, 1887; Köln, 1894), in Frankreich (Paris, 1899; Strassburg, 1912) sowie vorübergehend in Mexiko (Mexiko-Stadt, 1912) errichtete. In Lyon und London unterhielt die Firma zeitweise eigene Kommissionäre. Über London bediente der Verlag im ausgehenden 19. Jahrhundert auch die «asiatischen, afrikanischen und amerikanischen Missionen».221 Auf dem Höhepunkt ihrer internationalen Geschäftstätigkeit war die Firma Benziger ein global tätiger katholischer Medienkonzern. Diese bemerkenswerte Expansion und die zahlreichen Herausforderungen für das Unternehmen gilt es in diesem Kapitel zu beschreiben und zu reflektieren. Im Folgenden wird immer wieder von «Raum» und «Markt» die Rede sein. Um besser zu verstehen, was diese Konzepte in ihren jeweiligen Kontexten bedeuten und wie sie hier verwendet werden, sind zwei kurze Vorbemerkungen nötig.

Die erste Vorbemerkung betrifft verschiedene zur Anwendung gelangende Raumkonzeptionen. Die historische Forschung hat sich in den letzten ungefähr zwanzig Jahren vermehrt darum bemüht, den geografischen Raum als kulturelle Grösse wieder stärker wahrzunehmen und ihn der Zeit als zusätzliche Dimension zur Seite zu stellen. Relevant in der Debatte des «spatial turn» scheint mir die grundlegende Unterscheidung zwischen geografischen Räumen, die physisch durchschritten werden können, und sozialen Räumen, die durch menschliche Interaktionen und Vorstellungen konstruiert werden.222 In unserem Fall müssen wir also einerseits fragen, was es für ein Unternehmen konkret bedeutet, wenn es immer neue Absatzmärkte erschliesst und so eine immer grössere Distanz zwischen ihm und den Käufern seiner Ware entsteht. Andererseits sollten wir auch überlegen, wie und entlang welchen sozialen Netzwerken sich die Expansion des Unternehmens vollzieht. Wir haben im vorangehenden Kapitel bereits festgestellt, dass sich im selben geografischen Raum verschiedene Raumkonzeptionen überschneiden und überlagern können. Einsiedeln war im 19. Jahrhundert eine geografisch, politisch und wirtschaftlich periphere Region, auf der mentalen Landkarte vieler Katholiken allerdings eindeutig ein Zentrum. In Bezug auf die Expansion des Unternehmens scheint es also sinnvoll, auch solche mentalen Raumkonzeptionen im Blick zu behalten.

Die zweite Vorbemerkung schliesst direkt an diese erste an. Neuere Unternehmensgeschichten haben verschiedentlich betont, dass auch Märkte als soziale Räume verstanden werden können. Sie gehen häufig von handlungstheoretischen Ansätzen aus, die besagen, dass Märkte nicht automatisch durch Angebot und Nachfrage entstehen, wie dies die neoklassische ökonomische Theorie nahelegt, sondern, dass es ökonomische Akteure braucht, welche die Märkte schaffen: indem sie produzierende Unternehmen und Verkäufer auf der einen und räumlich getrennte Käufer auf der anderen Seite miteinander in Beziehung bringen. Märkte sind so gesehen nichts anderes als das Resultat einer Ansammlung zahlreicher, von Personen durchgeführten und sich über die Zeit verdichtenden ökonomischen Tauschakten, oder anders ausgedrückt: soziale Räume, in denen Käufer und Verkäufer miteinander in Beziehung treten.223 In diesem Kapitel sollen deshalb die Akteure, die mit Tausenden von Briefen, unzähligen Geschäftsreisen und persönlichen Treffen an neuen Absatzmärkten woben und die Expansion des Unternehmens vorantrieben, besonders im Fokus stehen.

Internationalisierung des Geschäfts

Wir haben bereits einige Indikatoren wie Verlagsgebäude, technische Innovationen, Zahl der Angestellten angesprochen, die das Wachstum der Firma Benziger ab 1850 verdeutlichen. Im Folgenden soll zunächst die Expansion des Geschäfts anhand weiterer Indikatoren dargestellt werden, die stärker auf die Internationalisierung der Unternehmenstätigkeit abzielen.

In wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive lassen sich vier verschiedene Wachstumsstrategien von Unternehmen unterscheiden: horizontale Integration, indem andere Unternehmen aufgekauft werden; vertikale Integration, indem einzelne Produktionsstufen ins eigene Unternehmen integriert werden; Diversifizierung, indem die Bandbreite der eigenen Produkte erweitert wird; und geografische Erschliessung neuer Absatzmärkte.224 In der Geschichte der Firma Benziger treffen wir, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, alle vier Strategien an. Die Verlegerfamilie kaufte in einer frühen Phase verschiedene kleinere Konkurrenzfirmen in Einsiedeln auf. Sie integrierte eine fabrikmässige Buchbinderei, ab den 1830er-Jahren eine Druckerei und später zahlreiche weitere technische Betriebe in ihr Unternehmen, weil es für den Verlag zunehmend günstiger und praktikabler war, seine Bücher und Bilder selbst zu drucken und zu binden, als die Aufträge an externe Personen und Firmen zu vergeben. Zudem schuf sich der Verlag mit dem Bilder- und dem Zeitschriftenverlag sowie dem Paramenten- und Kirchenornamentenhandel weitere Standbeine neben dem Gebetbuchverlag. Am besten lässt sich die Expansion der Firma Benziger aber an der geografischen Erweiterung der unternehmerischen Tätigkeiten ablesen.

Topografie der Verlagstätigkeit

Einen Einblick in die Topografie der Geschäftstätigkeit ermöglichen die zahlreich überlieferten Korrespondenzbücher des Verlags. Exemplarisch soll im Folgenden die Korrespondenz anhand eines dieser Bücher ausgewertet werden. Es handelt sich um den Band «Allgemeine Correspondenz», der Abschriften von insgesamt 1154 Briefen enthält, die zwischen November 1876 und April 1877 verfasst wurden (Karte 1, S. 367).225

Die internationale Ausrichtung der Firma wird schnell sichtbar. Zwar korrespondierte sie im genannten Zeitraum auch regelmässig mit Personen im lokalen Umfeld sowie in Zürich und – etwas weniger intensiv – an anderen Orten der Deutschschweiz wie Basel und St.Gallen, der Schweizer Binnenraum als Ganzes spielte für die Firma aber eine untergeordnete Rolle. Weniger als ein Viertel aller Briefe im gewählten Zeitraum gelangte an Adressaten in der Deutschschweiz (275), eine vernachlässigbar kleine Zahl von Briefen ging in die französisch- und italienischsprachigen Schweiz (11).226

Beinahe fünfzig Prozent der Briefe unserer Auswahl schickte die Firma Benziger nach Deutschland, rund dreizehn Prozent an Empfänger in Frankreich, rund sechs Prozent gelangten nach Österreich, je rund zwei Prozent nach England und Italien sowie in weitere Länder insbesondere im osteuropäischen Raum.227 Innerhalb Deutschlands schickte die Firma Benziger die meisten Briefe an Adressaten in Leipzig, München und Stuttgart. In der Buchhandelsstadt Leipzig gingen die meisten Briefe an dort ansässige deutsche Verlage und Verleger: Brockhaus, Otto Spamer, Ernst Keil, Albert Henry Payne, Velhagen & Klasing, E. A. Seemann, B. G. Teubner und andere. In München gehörten vor allem Maler, Zeichner sowie Kupferstecher und Lithographen zu den Adressaten, darunter auch bekannte Namen wie Georg Hahn (1841–1889), Heinrich Merté (1838–1917) oder Adrian Schleich (1812–1894). Auch mit Johann Baptist Obernetter (1840–1887), dem Erfinder des chemischen Lichtdruckverfahrens, wurde eine recht intensive Korrespondenz geführt. In Stuttgart gehörten Eduard Hallberger (1822–1880), der Verleger der auflagenstarken Unterhaltungszeitschrift «Ueber Land und Meer» (ab 1858), der Allgaier & Siegle-Verlag sowie einige Illustratoren und Holzstichmacher zu den häufigsten Adressaten. Die Korrespondenz mit Frankreich konzentrierte sich wenig überraschend in erster Linie auf Adressen in Paris, wo die Firma Benziger in dieser Zeit unter anderem mit den Verlagen Borrani und Didot sowie mit Charles Lorilleux, einem Fabrikanten von industriellen Druckfarben, in Kontakt stand. Daneben bestanden auch Kontakte mit dem katholischen Verleger Alfred Mame (1811–1893) in Tours.

Die Topografie der Verlagstätigkeit, wie sie auf der Karte aufscheint, zeigt freilich nur einen unvollständigen Ausschnitt. Die Korrespondenzen mit den Künstlern und Literaten beispielsweise wurden damals in separaten Büchern geführt und sind auf der Karte nicht verzeichnet. Auch nicht sichtbar werden der ganze nordamerikanische Raum, für den die Filialen in den USA zuständig waren, sowie die Beziehungen nach Südamerika: Dahin, vor allem nach Mexiko und Brasilien, exportierte der Verlag ab den 1860er-Jahren ebenfalls Verlagsware, vor allem Andachtsbilder.228

Gut ersichtlich wird hingegen die Bedeutung des deutschen Sprachraums. Gebetbücher, Kalender, Zeitschriften und Belletristik der Firma Benziger waren lange hauptsächlich auf eine deutsche Leserschaft ausgerichtet. «Im Deutschen liegt Ihre Kraft u. natürliche Stärke», schrieb der damals dienstälteste Associé Louis B.-Mächler (1840–1896) im Jahr 1893 von New York nach Einsiedeln und riet seinen jüngeren Kollegen, dem deutschen Sprachraum unbedingt die höchste Beachtung zu schenken.229 Sein Rat blieb mitten in einer Phase, in der die Firma Benziger ihren Bücherverlag konsequent internationalisierte, ungehört. Das Verlagsprogramm beinhaltete zwar schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts vereinzelt auch religiöse Literatur in Französisch, Italienisch und Lateinisch, und mit der Errichtung der Filialen in den USA wurden ab den späten 1850er-Jahren englischsprachige Bücher verlegt. Einen wirklichen Trend, den Bücherhandel stärker zu internationalisieren, gab es aber erst ab den späten 1880er-Jahren. Im Nachlassarchiv des Verlags sind Gebetbücher in mehr als zwanzig Sprachen überliefert, unter anderem in Spanisch (ab 1886) und Portugiesisch (ab 1892), Flämisch (ab 1891), Serbokroatisch (ab 1887) und Polnisch (ab 1891). Über die Missionen verbreiteten sich Bücher aus dem Benziger Verlag bis in periphere Regionen des Globus. Im Nachlassarchiv finden sich beispielsweise Gebetbücher in Swahili (1892), einer Bantusprache Ostafrikas, sowie in Quechua (1891), einer im Andenraum Südamerikas verbreiteten indigenen Sprachgruppe.

 

Für den Verlag auf Reisen

Ein wichtiger Faktor bei der Entstehung und der geografischen Ausdehnung von Märkten waren Geschäftsreisen. Roman Rossfeld und andere Autoren haben in den vergangenen Jahren auf die zunehmende Bedeutung von Handelsreisen im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert hingewiesen.230

In der Firma Benziger nahmen Zahl und Bedeutung von Geschäftsreisen ab den späten 1850er-Jahren sprunghaft zu. Um die Produktion zu steigern und das Absatzgebiet zu vergrössern, waren neben den brieflichen Kontakten auch «face-to-face»-Kontakte zu Lieferanten, Künstlern, Verlegern, Buch- und Kunsthändlern, Pfarrern und Bischöfen ein wichtiger Faktor.

Adelrich B.-Koch (1833–1896) war zwischen 1860 und 1880 zusammen mit zwei Brüdern und drei Cousins Geschäftsinhaber der Firma Benziger. Er stand im Verlag der artistischen und teilweise der technischen Abteilung vor und beschäftigte sich vor allem mit dem Handel von religiösen Bildern sowie den technischen Einrichtungen zur Bildreproduktion. Es ist deshalb kein Zufall, dass ihn seine Geschäftsreisen besonders häufig in die Zentren der zeitgenössischen Reproduktionsgrafik, vor allem nach Paris, München und Stuttgart, führten (Tab. 4, S. 373).231 Ebenso häufig hielt sich Adelrich B.-Koch auch in Lyon auf, wo bedeutende Textilfirmen sowie Produzenten von Kandelabern und anderen Gegenständen, die man für Kirchenausstattungen verwendete, ihren Sitz hatten. Dort tätigte er Einkäufe für die Filialen in den USA, die sich auf den Paramentenhandel und den Import von Kirchenornamenten spezialisiert hatten.

Adelrich B.-Koch wird in der Familiengeschichte als jenes Familienmitglied seiner Generation beschrieben, das am frühesten «die grosse Bedeutung einer staendigen Fuehlungsnahme mit dem grossen Weltgetriebe» erkannt habe.232 Doch auch seine Mitassociés in Einsiedeln und New York reisten ähnlich häufig. Hinsichtlich Reisedestinationen bestanden zwischen den Associés allerdings Unterschiede. Nikolaus B.-Benziger II (1830–1908) beispielsweise, der den literarischen Verlag in Einsiedeln leitete, war öfter im deutschen Sprachraum unterwegs als sein Bruder Adelrich B.-Koch.

In den Quellen nur schwer fassen lässt sich die Reisetätigkeit der Associés in den USA. Belegt sind für Joseph Nicholas Adelrich B.-von Sarnthein (1837–1878; ab 1857 in den amerikanischen Filialen) und Louis B.-Mächler (ab 1860), die zusammen dem Amerikageschäft vorstanden, je drei längere Europareisen zwischen 1862 und 1880. Ab den 1880er-Jahren nahmen die transatlantischen Reisen der Verleger markant zu.233 Die wichtigen Kunden in Europa sollten mindestens alle zwei bis drei Jahre besucht werden, am besten von den Prinzipalen selbst.234 Umgekehrt wurde ein längerer Aufenthalt in den amerikanischen Filialen zunehmend zu einem integralen Bestandteil der Ausbildung der angehenden Prinzipale in Einsiedeln.

Die Verlegerfamilie Benziger bewegte sich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit zwischen den europäischen und amerikanischen Zentren ihrer Zeit. Exemplarisch wollen wir die Biografie von Adelrich B.-Koch etwas genauer betrachten. Sein Vater Nikolaus B.-Benziger I (1808–1864) hatte ihn gezielt auf das Leben als international tätigen Handelsmann und Verleger vorbereitet. Geboren 1833, besuchte Alderich zunächst die Primarschule in Einsiedeln, danach Sekundar- und Kantonsschulen im Kanton St. Gallen, bevor er seine Schulbildung im katholischen Pensionat Devrient in Ouchy am Genfersee abschloss. Mit 19 Jahren trat er 1852 als Lehrling in die Firma des Vaters und des Onkels in Einsiedeln ein. Bereits ein Jahr später wurde er nach New York geschickt, um bei der Errichtung einer Filiale mitzuhelfen und sein Englisch zu verbessern. Vier Jahre später musste er auf Geheiss seines Vaters – und entgegen seinem eigenen Wunsch – nach Einsiedeln zurückkehren. 1858 heiratete er Anna Maria Koch aus Boswil im Kanton Aargau. Sie war eine Institutsfreundin seiner Schwester Ursula Benziger und die Cousine von Pater Albert Kuhn, Konventuale im Kloster Einsiedeln und wichtiger Autor des Benziger Verlags. Zwei Jahre später übernahm Adelrich B.-Koch mit zwei Brüdern und drei Cousins das Verlagsgeschäft aus dem Besitz seines Vaters und seines Onkels als Teilhaber. Als sich 1869 schwelende Konflikte zwischen den Filialen in den USA und dem Muttergeschäft in Einsiedeln immer stärker akzentuierten, hielt er sich ein halbes Jahr in New York und an anderen Orten in den USA auf, um sich einen Überblick über das gewachsene Amerikageschäft zu verschaffen und zwischen Einsiedeln und den Filialen zu vermitteln.

Adelrich B.-Koch galt als Fachmann für kirchliche Kunst sowie für moderne Reproduktionstechnologien. In dieser Funktion war er mehrmals Jurymitglied von nationalen und internationalen Industriemessen, unter anderem an der Weltausstellung 1889 in Paris.235 In den bestehenden Familiengeschichten wird gerne auf die weitläufigen Kontakte verwiesen, über die Adelrich B.-Koch verfügte. Sein Beziehungsnetz ermöglichte ihm den Zugang zu höheren sozialen Kreisen. Die Villa Gutenberg in Brunnen am Vierwaldstättersee, wo Adelrich B.-Koch und seine Familie die Sommer verbrachten, war ein Treffpunkt für Künstler, Literaten und Geistliche von Rang. Der Sommersitz diente der Sommerfrische und der öffentlichen Repräsentation gleichermassen. Marieli Benziger, eine Enkelin von Adelrich B.-Koch, erinnerte sich in ihrer Biografie über ihren Vater August B.-Lytton an die Parkanlage, welche die Villa umgab: «Trees were planted along the mountainside. Some of the pines came from Oregon in America, the maples from Canada and the graceful birches from China. Adelrich had loved the American wild flowers, so seeds were sent from New York.»236 Zu seinen Gästen in Brunnen gehörte im Sommer 1881 auch König Ludwig II. von Bayern, der damals die Zentralschweizer Schauplätze des schillerschen Tell-Dramas besuchte. Adelrich B.-Koch hatte eine gewisse Affinität zu den «grossen Männern» seiner Zeit. Er war stolzer Besitzer eines reich verzierten Säbels, den ihm der Familienüberlieferung zufolge der amerikanische Präsident Abraham Lincoln persönlich geschenkt haben soll.237 In den Quellen belegt sind Audienzen im Weissen Haus in Washington bei Präsident Ulysses S. Grant (1822–1885) im Jahr 1869 sowie sechs Jahre später in Rom bei Papst Pius IX., der ihm für seine Verdienste um die «katholische Sache» im selben Jahr den Ritterorden des heiligen Gregor des Grossen (Gregoriusorden) verlieh.

Die Firma wusste Beziehungen zu einflussreichen Zeitgenossen, wie sie Adelrich B.-Koch, aber auch andere Mitglieder der Verlegerfamilie pflegten, geschickt zu Werbezwecken zu nutzen. Über den Empfang Adelrichs bei Präsident Grant im Weissen Haus beispielsweise liess man über Mittelsleute Artikel in englischsprachigen Zeitungen verfassen. Einige der Associés mahnten aber auch zur Bescheidenheit und kritisierten ein «das gesunde Mass überschreitende[s] Quantum» an «Extravaganz».238

1880 zog sich Adelrich B.-Koch vollständig aus der Firma Benziger zurück und liess sich seinen finanziellen Anteil am Geschäft auszahlen. Fünf Jahre später gründete er in Einsiedeln unter dem Namen «Adelrich Benziger & Co.» in Konkurrenz zur Firma Benziger eine «Anstalt für kirchliche Kunst und Industrie», mit der auch eine Buch- und Kunsthandlung in Einsiedeln sowie ein Zweiggeschäft in Thann im Elsass verbunden waren. Gesundheitliche Probleme zwangen ihn mit fortschreitendem Alter immer wieder zu längeren Kuraufenthalten, etwa in Meran im Südtirol oder in Algiers (Algerien). Wenige Jahre vor seinem Tod unternahm er auch eine Pilgerreise nach Lourdes.239 Adelrich B.-Koch starb 1896 in seinem Wohnhaus in Einsiedeln.

Adelrich B.-Koch und seine Mitassociés in Einsiedeln legten Wert darauf, möglichst viele Geschäftskontakte persönlich wahrzunehmen. Darauf wiesen sie auch ihre jüngeren Associés in den USA in der Briefkorrespondenz immer wieder hin.240 Ein Prinzipal selbst fände bei Kunden weit bessere Aufnahme und erzielte mehr Erfolg als ein angestellter Reisender, die «Provisionen wegfressen» und «wie Schmarotzer viele Säfte aus dem Baume» pressen würden.241

Die häufigen Geschäftsreisen konnten für die Verleger allerdings auch zur Belastung werden. «Einstweilen versichere ich Sie nur, dass mir in meinem Leben noch nichts ekelhafter u. widriger vorkam, als mir jetzt das Reisen geworden ist», schrieb im Dezember 1859 der damals 26-jährige Adelrich B.-Koch aus Prag an seinen Vater und seinen Onkel in Einsiedeln von einer mehrmonatigen Geschäftsreise, die ihn neben Prag auch nach Salzburg, Wien, Berlin, Leipzig, Frankfurt und München führte.242

Klagen der Verleger über die ständige Pflicht zu reisen waren eine Konstante in der geschäftlichen Korrespondenz. Adelrich B.-Koch dachte bereits mit 32 Jahren laut über seinen Ruhestand nach: Ich «wünschte mir für das Geschäft u. für mich, mit 50 Jahren mich zurückziehen zu können. Ich hätte dann 33 Jahre im Geschäfte gearbeitet u. Verdienst gethan […] der ich kaum Theil dieser Zeit mit meiner eigenen Familie verleben konnte.»243

Mit der Ausdehnung des Geschäfts war es den Geschäftsinhabern aber je länger je weniger möglich, alle Geschäftsreisen selbst zu unternehmen. Sie sahen sich dazu gedrängt, wie ihre Konkurrenten professionelle Handelsreisende einzustellen. «Wir sollten unbedingt auch reisen lassen», schrieb Adelrich B.-Koch im Dezember 1859 von einer Geschäftsreise aus Nürnberg an seinen Vater nach Einsiedeln, nachdem er gehört hatte, wie viele Reisende Verlage in Stuttgart oder Berlin beschäftigten.244 Wenig später wurde mit Josef Bopp aus Bayern ein erster Reisender eingestellt, der für die Firma vor allem die südlicheren deutschen Staaten sowie das Kaiserreich Österreich bereiste. Bald folgten weitere Reisende für Preussen und das nördliche Deutschland sowie für Frankreich.245 1892 beschäftigte die Firma Benziger in Einsiedeln sieben Reisende, die Zentral- und Nordamerika, Italien und Südtirol, Elsass-Lothringen, Spanien und Südamerika, Frankreich und Belgien, Württemberg, Bayern und Österreich-Ungarn, Baden, Hessen, Unterfranken sowie das nördliche Deutschland bereisten.246

Das äussere Erscheinungsbild und die Fähigkeit, sich weltgewandt zu präsentieren, waren für Geschäftsreisende entscheidend. Nikolaus B.-Benziger II schrieb im Januar 1867 an seine Associés in den USA: «Ob aber ein schwarzer Zylinder auf dem Kopf nicht auch in America den Leuten Respekt einflösst […] müssen Sie erwägen. In Europa ist es so u. nicht ohne Grund heisst es Kleider machen den Menschen.»247 Bei der Anstellung von Reisenden konnten, wie folgendes Beispiel zeigt, äussere Merkmale gar höher gewichtet werden als kaufmännisches Geschick. Im Dezember 1874 reiste Adelrich B.-Koch nach Lyon und Paris, um einen geeigneten Reisenden für die Firma zu suchen. Seine Auswahl begründet er mit den folgenden Worten: Ein erster Kandidat sei «erster Angestellter von Girard248, ein kleiner Mann v. ca. 24–26 Jahren, sehr intelligent […], scheint bescheiden u. anspruchslos. […] Seine Sprache ist nicht sehr schön, er redet etwas durch die Nase.» Man habe ihm deshalb «einen Mann vorgezogen, der sich etwas besser repräsentirt, aber wahrscheinlich weniger intelligent u. jedenfalls weniger Kaufmann ist».249

 

Was aber taten die Geschäftsreisenden der Firma Benziger unterwegs? In den Quellen finden sich einige aufschlussreiche Beispiele. Ein Reisender schrieb im Juni 1865 aus Regensburg nach Einsiedeln, er habe gehört, die Firma Pustet in Regensburg plane, in den USA eine Filiale in direkter Konkurrenz zur Firma Benziger zu errichten. Mehrere Angestellte seien daran «eifrig englisch zu lernen». Unter falschem Namen erschlich sich der Reisende darauf Zugang zum Firmengebäude, wo er laut eigener Aussage vom Verlagsleiter Friedrich Pustet (1831–1902) «rasch herumgeführt» wurde und tatsächlich einige Interna zu Gesicht bekam – etwa einen auf dem Schreibtisch des Chefs aufgeschlagenen «Cincinnatier Kalender» aus dem Benziger Verlag, was er als Hinweis darauf deutete, dass auch Pustet Pläne hegte, in den USA einen eigenen Kalender verlegen zu wollen.250

Im Normalfall verliefen die Geschäftsreisen aber wenig spektakulär. Die Reisenden besuchten Papier- und Maschinenfabriken, Kunst- und Buchhandlungen, trafen sich mit Künstlern, Kunsthandwerkern und Literaten und verglichen die Einkaufs- und Produktpreise in verschiedenen Städten und Ländern. Zudem betrieben sie auch eine Art Marktanalyse, indem sie Informationen über regional unterschiedliche Vorlieben der Käuferschaft sammelten.

Wenden wir uns zur weiteren Verdeutlichung nochmals den Geschäftsreisen von Adelrich B.-Koch zu. Was interessierte ihn auf den Reisen? Worüber legte er Notizen an? Im Spätherbst 1859 schrieb er aus Berlin, Prag, München und Nürnberg lange Briefe ans Geschäft in Einsiedeln, in denen er detailliert über sein Tun auf Reisen Auskunft gab. Wir erfahren, dass er in Wien zunächst zahlreiche Kirchenornaments-, Kunst- und Buchhandlungen besuchte, darunter auch damals bekannte Geschäfte wie Neumann, Paterno oder Artaria. Was er sah, beeindruckte ihn aber allgemein wenig. In ganz Wien gebe es beispielsweise nur einen «einzigen guten Xylographen», dessen Arbeiten aber sehr teuer seien, schrieb er. Auch die Wiener Staatsdruckerei, die er danach besuchte, hatte seiner Meinung nach wenig zu bieten: «Zu viel Protektion unter Arbeitern; zu viel alte Faulenzer, Ceremonienmeister, Dummköpfe …» Lediglich vier neue Schnellpressen, die mit «endlos Papier», das heisst mit automatischen Papierrollen funktionierten, erregten seine Aufmerksamkeit: «Also sollen in Zukunft alle Schnellpressen gemacht werden. […] Diese Erfindung ist sehr gut, besonders wo grosse Auflagen und ich glaube dass die nächste Schnellpresse die wir haben müssen eine solche sein wird.»

In Leipzig besuchte Adelrich B.-Koch die Firma Brockhaus, die eine «grossartige Buchdruckerei» habe. Alle übrigen technischen Betriebe seien aber «vernachlässigt» und «bei Meistern nicht was sein Katalog u. Programm verspricht». Begeistert war er hingegen von der Ausstattung der Kunstanstalt von Albert Henry Payne, welcher der einzige sei in ganz Leipzig, «der Texte galv.[anisiert] und zwar auf engl. Art». Payne selbst habe ihm den Zutritt zur Firma zwar verbieten wollen, «durch Bestechen eines Arbeiters» aber sei ihm dennoch «das Ganze genau erklärt worden». Alles in allem fand Adelrich B.-Koch aber auch in Leipzig, wohlgemerkt einem der bedeutendsten Buchhandelszentren in jener Zeit, wenig Spannendes: «Im Ganzen ist Leipzig langweilig, die Anstalten etwas bedeutend alt eingerichtet u. zu wenig amerikanisch.»

Das Druckereiwesen und überhaupt die Produktions- und Vertriebsverhältnisse von Druckerzeugnissen aller Art entwickelten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ungemein dynamisch. Ständig mussten neue Entwicklungen in diesen Bereichen evaluiert werden. «An allen Ecken habe über versch. Druckverfahren mich erkundigt», schrieb Adelrich B.-Koch im Dezember 1869 von einer Geschäftsreise aus München nach Einsiedeln. Und im folgenden Sommer aus Paris: «Ueber neue Maschinen, Spitzenpressen, Vergoldpressen für chromo Bogen etc. habe diese Tage alle Erkundigungen eingezogen. […] Auf meiner Liste stehen noch Besuche für 4–5 Tage, […] Impr[imerie] Imperial wohin ich spezielle Empfehlung erhielt, ferner Robineau, 3 Maler, verschiedene Mechaniker u. 2 Druckphotogr[aphen] […] aber ich bin prächtig müde u. sehne mich zu den Meinigen.»251

Mark Casson und Martin Fiedler definierten Unternehmer als Spezialisten, «die über die Fähigkeit verfügen, Informationen mit der Aussicht auf Gewinn zu synthetisieren, indem sie Daten, Konzepte und Ideen auswerten, deren Bedeutung anderen Menschen nicht immer bewusst ist».252 In Anlehnung an Casson und Fiedler lassen sich Geschäftsreisen wie die eben geschilderten als ein wichtiges Bindeglied zwischen Unternehmen und Markt beschreiben. Die Geschäftsreisenden woben unaufhörlich an einem Netz, über das sie Informationsströme in ihr Unternehmen zu lenken versuchten, in der Annahme, diese Informationen gewinnbringend verwerten zu können.

Die Firma Benziger lässt sich dabei als Fixpunkt in einem sozialen Raum verstehen; als Knotenpunkt, an dem die Informationen aus verschiedenen Quellen und Netzwerken zusammenliefen. Dieses Netzwerk war über Generationen geschaffen worden. Einige Verbindungen darin waren alt und stabil, andere Beziehungen, vor allem in Geschäftsbereichen ohne längere Tradition in der Firma, mussten mit viel Aufwand erst geschaffen und etabliert werden.

Der Katholizismus spielte für die Geschäftsexpansion in mehrfacher Hinsicht eine grosse Rolle. Das katholische Revival im 19. Jahrhundert war der Nährboden, auf dem das Unternehmen wachsen konnte. Gute Beziehungen zum Netz von katholischen Institutionen – Pfarreien, Klöster, Bistümer, Vereine, Missionsgesellschaften und andere – waren wichtig für die Distribution der Verlagsware. Auch war das Katholische wichtig für die Repräsentation des Unternehmens (seit 1867 beispielsweise «Typographen des Heiligen Apostolischen Stuhls»). Auf der öffentlich wenig sichtbaren Ebene des Geschäftsalltags hingegen spielte die Konfession eine untergeordnete Rolle. Die Firma Benziger liess sich von der Unterhaltungszeitschrift «Die Gartenlaube» des protestantischen Verlegers Ernst Keil (1816–1878) in Leipzig genauso inspirieren wie von Werken des konservativ-katholischen Malers Melchior Paul von Deschwanden (1811–1881) in Stans. Die Verleger pflegten mit einem schweizerisch-amerikanischen protestantischen Intellektuellen wie Philip Schaff (1819–1893) genauso Kontakt wie mit dem österreichischen Bischof und Professor für Kirchengeschichte Josef Fessler (1813–1872). Sie bezogen die technische Infrastruktur genauso bei katholischen Fabrikanten in Paris wie bei evangelischen in London, New York oder Boston.