Als Lehrer in Gotha/Thüringen 1950–1990

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Mein Frau war – über alle beschlossene Pläne hinweg – froh, mich wiederzuhaben. Und ich hielt ziemlich glücklich wieder meinen kleinen Sohn im Arm. Später ist mir bewusst geworden, dass neben meinem Baracken-Trauma und der familiären Ungewissheit mich unbewusst noch ein anderes Bild verunsichert hatte: Die schon erwähnte lateinisierende Akademikerrunde am Nebentisch in jenem rheinischen Restaurant ist mir noch oft in den Sinn gekommen. Dieses Bild ließ mich daran erinnern oder mich in meinem damaligen Zustand glauben machen, dass meine niedere Bildung und Ausbildung für den Westen womöglich nicht ausreichte, dass ich unterliegen könnte drüben: als „Neulehrer“ vor jenen unbehelligten Studienräten nach altem Schrot und Korn.

Es war das erste Mal, dass ich zu mir sagte: Ob du es wahrhaben willst oder nicht, du bist ein Kind dieser DDR. Auch wenn es nicht so recht „deine“ DDR ist! – So ließ ich meinen Plan „abzuhauen“ erst mal fallen. – Jahre später, in schwierigen Situationen oder zugespitzten Fällen, habe ich deswegen mit mir gehadert.

Wieder in Gotha – in der Löfflerschule wie bisher

Die tägliche Arbeit in der Schule, die Familie und natürlich die Partei mit samt dem politischen Getriebe nahmen mich wieder fest in die Zügel. Vor allem mein Fernstudium zwang mich an Schreibtisch und in Bibliotheken. An einem bestimmten Tag in der Woche war ich ausgeplant in der Schule. Meine 26 Unterrichtsstunden waren auf die übrigen fünf Wochentage gelegt, so dass ich den „Studientag“ frei behielt für das individuelle Studium bzw. für die Konsultationen mit unserer Mentorin. In den Sommerferien musste ich an einem dreiwöchigen Seminarkurs in Weimar teilnehmen – mit Vorlesungen, Klausuren, Zwischenprüfungen und 1957 abschließend mit Diplomarbeit und Staatsexamen.

Zu all dem nahmen mich natürlich meine Aufgaben als Klassenlehrer und als stellvertretender Schulleiter voll in Anspruch. Ich kam kaum zur Besinnung, wohl an die 12 – 14 Stunden täglich hatte ich zu arbeiten. Manchmal noch mehr. Für Korrekturen der Schülerarbeiten musste ich meist des Sonntags Zeit finden. Auch die Ferientage zu anderen Jahreszeiten blieben größtenteils aufgespart, um notwendige Studien nachzuholen und um für Schule und Unterricht nach- oder vorzuarbeiten. Es war eine harte Zeit, und unser familiäres Vorhaben, „in den Westen zu gehen“, trat ganz in den Hintergrund.

Zudem richteten die geforderten Studien mein Interesse auch auf literarische Themen und Werke, die mir besonders zusagten und denen ich auch gern tiefer nachgehen wollte. So wurde beispielsweise meine Begegnung mit Werk und Person von Bertolt Brecht für mich ein echtes Bildungserlebnis. Es kam wie eine Offenbarung über mich, weil ich vorher – völlig ohne Kenntnisse – mit Brecht nicht viel anzufangen wusste. – Das erste Mal war ich auf ihn gestoßen, als ich 1951 im Theater in Gotha das Brecht-Stück „Die Mutter“ zu sehen bekam. In der Pause bin ich rausgegangen! Was da stattfand auf der Bühne mit roten Fahnen und Sprechchören, das empfand ich als pure politische Agitation, so wie man sie derzeit auf unseren Straßen und Plätzen bei Aufmärschen und Demonstrationen erlebte. Das war doch kein Theater, wie ich es bislang verstand! 1955, während meines Fernstudiums, als wir nur oberflächlich die deutsche Literatur der zwanziger Jahre behandelten, hatte einer nach Brecht gefragt. Warum dieser so quasi übergangen würde, er wäre doch wichtig? Unsere Mentorin wich aus: Nun ja, der mache zwar sein Theater am Berliner Schiffbauerdamm, aber er sei ein eigenwilliger Mann, und sein „Episches Theater“ habe mit dem modernen „sozialistischen Realismus“ wenig zu tun. Sie messe ihm keine herausragende Bedeutung bei.

Solch einer Wertung misstraute ich. Wenig später, nachdem Brecht 1956 gestorben war und man ihn plötzlich im Übermaß öffentlich zu loben begann, reiste auf einmal, der neuen Linie angepasst, unsere Mentorin Frau Dr. W. als Referentin der „Nationalen Front des demokratischen Deutschland“ in Städten unseres Kreises umher – mit einem Vortrag über den bedeutenden deutschen Dichter Bertolt Brecht! Dieser plötzliche Wandel in der öffentlichen Bewertung Brechts gab mir erneut zu denken und machte mich erst recht neugierig. Dann hörte ich sagen: „Da nun tot, kann er sich nicht mehr wehren!“

Zu dieser Zeit kam mir mehr per Zufall ein Propagandaheftchen vom „Deutschen Friedensrat – Berlin“ (Ag 201/​56 DDR – 125) unter die Hände. Und ich muss unbedingt zitieren, was darin Karl Kleinschmidt; Dompfarrer von Schwerin, in einem Nachwort über seinen Freund Bertolt Brecht gesagt hat:

„Bert Brecht war nicht nur seinen politischen Gegnern, er war auch uns, seinen politischen Freunden, unbequem, auf eine andere, viel tiefere Weise als seinen Feinden. Er war uns unbequem auf eine besonders abgefeimte Weise, uns immer wieder nicht nur auf einzelne Mängel, sondern auf den Grundfehler unserer Überzeugungsarbeit hinzuweisen, ….auf den Grundfehler, dass sie Überredungs- und keine Überzeugungsarbeit ist. Das Unbequemste daran ist, dass es sich nicht nur um eine andere Taktik oder Technik handelt, sondern um eine höhere Stufe der Menschlichkeit, um einen Respekt vor dem Andersdenkenden, der es ihm verbot, ihn zu überreden, wenn er ihn nicht zu überzeugen vermochte.“ (6)

Diese in der Öffentlichkeit kaum bemerkte, von mir entdeckte Würdigung Brechts war für mich eine ungeheuer interessante Erklärung, deren Wahrheit ich nun sofort zu prüfen gedachte. Mein Entschluss stand fest: Du musst jetzt Brecht lesen und sein Theater genauer kennen lernen. So besorgte ich mir die „Stücke“, deren ich habhaft werden konnte, und begann – trotz Zeitnot – zu lesen und merkte bald, dass ich mich zugleich mit seiner Theorie vom „Epischen Theater“ beschäftigen müsse. Natürlich wollte ich jetzt unbedingt Brecht-Inszenierungen auf dem Theater sehen. Abgesehen vom Theater Meinigen, wo Fritz Bennewitz (an einem abgeschiedenen Rand der DDR-Kulturszene) schon in den 50er Jahren hatte ungeschoren Brecht-Stücke inszenieren können, gab es erst mit Beginn der 60er Jahre rundum mehr Brecht-Aufführungen. (Ich erinnere mich an die „Dreigroschenoper“ in Weimar, an die „Mutter Courage“ in Erfurt, an den „Kaukasischen Kreidekreis“ …, an „ … Arturo Uri“, an „Das Leben des Galilei“ und an weitere Brecht-Erlebnisse in Weimar, Erfurt und Eisenach und später auch in Berlin am „B.E.“)

Nun will ich nicht weiter vorgreifen, aber doch sagen: Ich war sehr angetan von Brechts Theaterstücken und der Spielweise seines „Epischen Theaters“. Ich begriff seine marxistische Weltsicht und darüber hinaus vor allem das, was er mit seinem „Epischen Theater“ bezweckte. Nämlich, dass er den Zuschauer vor Illusionen und vordergründiger emotionaler Manipulation (wie beim „dramatischen“ Theater) bewahren und mit seinen Gestaltungsmitteln des Epischen Theaters hauptsächlich zu vernunftgemäßen Wahrnehmungen und zum dialektischen Denken anregen wollte. Der Zuschauer sollte nicht primär „tief gerührt“, sondern primär angeregt bzw. befähigt werden, gezeigte Charaktere, gesellschaftliche Umstände und Konflikte tiefer zu durchdenken und zu bewerten. Brecht hat keine heroischen „sozialistischen Helden“ zur begeisterten Nacheiferung und Parteilichkeit vorgeführt, keinen oberflächlichen „sozialistischen Realismus“ à la Ulbricht und Abusch demonstriert, keinen indirekten Gesinnungszwang ausgeübt, sondern hat mit seiner Theaterkunst selbständiges Denken und rationale Auseinandersetzung mit Argumenten und Haltungen herausgefordert. Und gerade das schien mir so wichtig. Genauer besehen, widersprach das der befohlenen „sozialistischen“ Kunstauffassung und einer vernunftwidrigen Parteipropaganda. So sah ich mich in meiner eigenen Meinung bestätigt und begann zu hoffen, dass sich, wenn ein so bedeutender kommunistisch gesinnter Dichter nach Freiheit im Denken verlangt, dass sich dann auch in unserem gesellschaftlichen Leben womöglich mehr Vernunft und Toleranz durchsetzen könne.

Ein von mir selbst gewähltes „Wahlthema“ für die mündlichen Prüfungen bei Abschluss meines Fernstudiums hieß: „Bertolt Brechts Theaterkunst!“ Frau Dr. W., mit in der Prüfungskommission, hat mir anerkennend zugenickt. Eine „Zwei“ habe ich bekommen!

Das Brechtsche Fünkchen Hoffnung in mir wurde weiter genährt durch unerwartete politische Vorgänge in Moskau, Warschau und Budapest. Wie wir wissen, auf dem XX. Parteitag 1956 hatte Chrustschow in einer Geheimrede „die Folgen des Stalinschen Personenkults“ und des „Dogmatismus“ in der Parteipolitik der KPdSU enthüllt! Diese Nachricht fiel auf mich ein wie eine plötzliche Erhellung, obwohl die SED zunächst zögerlich damit umging und nur in internen Parteiinformationen nähere Ausführungen dazu machte. Schließlich sah sich auch Parteichef Ulbricht genötigt zuzugeben, dass „der ‚Personenkult‘ auch in unserer Partei, besonders in der ideologischen Arbeit, weit verbreitet war“ (2). In der Folge wurden diese Vergehen abschwächend umschrieben und hauptsächlich nur auf die Person Stalins gemünzt, so dass man wissen sollte: „Na ja, so schlimm war’s bei uns nicht!“ Doch wir DDR-Zeitungsleser hatten ja die gloriosen, lautstarken Hymnen über den „größten Genius der Menschheit“ längst nicht vergessen. – Jedenfalls schien mit der Kritik am „Stalinismus“ eine öffentliche Klärung der problematischen SED-Diktatur in der DDR unvermeidbar zu werden. Der Begriff „Tauwetter“, Titel eines stalinkritischen Romans des sowjetischen Schriftstellers Ilja Ehrenburg, ließ mich jetzt auf eine Ausbreitung dieses politischen Tauwetters bis in unsere DDR hoffen.

Nach dem 17. Juni 1953 hatte ich begonnen, bestimmte Zeitungen aufzuheben oder mir wichtig erscheinende Zeitungsartikel zu sammeln. Ich habe jetzt meine Zeitungsmappe 3 aufgeschlagen und könnte nun Berichte über zwei markante Ereignisse aus dem Jahr 1956 vorlesen.

 

Mit Zitaten könnte ich belegen, wie unsere parteigelenkte Presse jenes Aufbegehren im polnischen Volk vom „Juniaufstand“ 1956 in Posen bis hin zum Polnischen Oktober 1956 kommentiert hat. Auch wie dann mit Genugtuung berichtet wurde, dass die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei nach erfolgreichen „Beratungen“ mit Abgesandten der KPdSU die „Schwierigkeiten“ in Volkspolen wieder überwunden hat. Doch gewisse Ergebnisse waren für uns schon bemerkenswert: Wladislaw Gomulka, Altkommunist und nach 1949 mehrere Jahre in Haft, war nun, plötzlich rehabilitiert, zum Ersten Sekretär der PVA gemacht worden, und die Pflicht zur Kollektivwirtschaft wurde aufgehoben; Bauern durften in Polen jetzt wieder privat wirtschaften und leben! Es war also zu erkennen: Trotz – oder mit – sowjetischer Intervention hatte man nachgeben müssen!

Äußerst interessiert und mit Anteilnahme hatten wir dann die Ereignisse in Ungarn verfolgt. Wie es im Herbst 1956 dort zu starken Unruhen gekommen war, die sich im Oktober/​November zugespitzt und zu einem Volksaufstand in Budapest geführt hatten, der dann nur durch das militärische Eingreifen der sowjetischen Streitkräfte mit blutiger Gewalt niedergeschlagen werden konnte. – Ich erinnere mich, wie eines Abends, vom westdeutschen Rundfunk übertragen, die letzte eindrucksvolle Rede des ungarischen Ministerpräsidenten Imre Nagy zu hören war. Der Hilferuf eines Kommunisten, der mit dem gemäßigten Flügel der Partei den stalinistischen Kurs überwinden und einen reformierten Sozialismus anstreben wollte. Angesichts des Vordringens sowjetischer Panzerverbände auf Budapest hatte er in seinem letzten verzweifelten Hilferuf die übrige Welt um Unterstützung für das ungarische Volk gebeten. Wir waren tief berührt und wirklich traurig über den tragischen Ausgang dieser hoffnungsvollen sozialistischen Revolution. Natürlich wussten wir damals nichts Genaueres über Hergang und Ausmaß der Kämpfe, auch noch nicht, dass man wenig später Imre Nagy gegriffen, in die Sowjetunion verschleppt und 1958 zum Tode verurteilt hatte.

Aus meinen Zeitungsartikeln konnte ich damals lesen, dass es natürlich „die verbrecherischen, konterrevolutionären Feinde und Putschisten“ waren, die „angestachelt von imperialistischen Agenten und Einflüssen“ die „Ungarische Volksdemokratie beseitigen“ wollten, und dass es der Solidarität der sowjetischen Genossen und Soldaten zu verdanken sei, dass der Sozialismus in Ungarn und damit der Weltfriede gerettet worden sei und so weiter und so weiter.

„Die Revolution entlässt ihre Kinder“

Irgendwann in jener Zeit 1956/​57, als ich abends den deutschsprachigen Londoner Rundfunk hörte, gewann ich Zugang zu einer interessanten Serie gesendeter Lesungen aus Wolfgang Leonards Buch „Die Revolution entlässt ihre Kinder“. Ich hatte diese Lesungen von Buchausschnitten mit großem Interesse verfolgt. Wohl ein Jahr danach drückte mir eine befreundete Kollegin ein Exemplar dieses Buches in die Hand. Irgendwer hatte es ihr „aus dem Westen“ mitgebracht! Es war sehr aufschlussreich für mich, was der kommunistische deutsche Emigrant Wolfgang Leonard über seine Erfahrungen mit dem Stalinismus in Moskau und auf der sowjetischen Antifa-Schule zu berichten wusste. Es war das erste Mal, dass ich aus einem authentischen subjektiven Erfahrungsbericht Näheres über interne parteipolitische Vorgänge und stalinistische Machenschaften innerhalb der Sowjetunion erfuhr. Vor allem darüber, wie Stalin mit redlichen Kommunisten und kommunistischen Emigranten umgegangen war. Auch über Strategie und Taktik der „Gruppe Ulbricht“, mit der Wolfgang Leonard als zugehöriges Mitglied Ende des Krieges aus Moskau nach Berlin zurückgekommen war, konnte ich interessante Einzelheiten und Einschätzungen erfahren.

Es ist wohl zu ersehen, wie unsereins mit jedweden aufregenden politischen Ereignissen und Informationen beschäftigt war. Aufmerksam verfolgte ich, was in unserer erstarrten Welt in Gang gekommen und in Bewegung geraten war. Von Mal zu Mal saßen wir im Freundeskreis zusammen, wo wir, aus verschiedenen beruflichen Erfahrungen und Blickwinkeln gesehen, über das Neueste diskutierten. Mit der Zeit kam ein Gefühl von Hoffnung in mir auf, das mich denken ließ: Vielleicht lohnt es sich doch durchzuhalten …

Ich las schon damals den „Sonntag“, eine vom Kulturbund herausgegebene Wochenzeitung und sporadisch auch „Sinn und Form“, eine von Peter Huchel gelenkte Zeitschrift für Literatur, Theater, Kunst und Ästhetik. Aus Berichten, Aufsätzen und Kommentaren glaubte ich erkennen zu können, wie auch diese Zeitungsleute auf eine Liberalisierung unseres politischen und kulturellen Lebens hinzielten. Zwischen den Zeilen war die Frage herauszuhören: Wann nun endlich zieht unsere SED-Führung klare Schlussfolgerungen aus dem XX. Parteitag der KPdSU?

Aber es dauerte nicht lange, im Laufe des Jahres 1957 kam der Gegenschlag der SED-Führung. Warnend wurden wir durch die Parteizeitungen über die „Beweisaufnahmen im Harich-Prozess“ und über den Prozess gegen die zweite Harich-Gruppe“ informiert. Man hatte die leitenden Redakteure des „Sonntag“ und vom Aufbau-Verlag um Wolfgang Harich, Walter Janka, Gustav Just u. a., zumeist Altkommunisten und ehemalige KZ-Häftlinge, verhaftet, vor das Oberste Gericht gestellt und als „Staatsfeinde“ zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt.

Diese Schauprozesse – jetzt, nach den revolutionären Erhebungen in Polen und Ungarn – galten als lautstarke Drohung gegen all die kommunistischen Intellektuellen, die anstelle des totalitären Ulbricht-Regimes die sozialistische Gesellschaftsordnung in der DDR zwar erhalten, jedoch demokratisieren und gerechter machen wollten.

Am 28. 07. 1957 war in meinem „Sonntag“ zu lesen: „Sie (die Angeklagten) hatten die Zeitschrift („Sonntag“) als ein Mittel zur Realisierung ihrer staatsfeindlichen Pläne … eingesetzt und unter dem Deckmantel der Forderung nach einer weiteren Demokratisierung die Grundlagen unserer Arbeiter- und Bauern-Macht bezweifelt und verleumdet.“(7)

Wir verstanden so etwas zu lesen und wussten zugleich: Die das jetzt schrieben, waren die neu eingesetzten Redakteure oder Schreiber aus der gegenwärtigen staatstreuen Nachfolge-Mannschaft des „Sonntag“. Für eine Zeitlang verging mir die Lust, ‚meinen‘ „Sonntag“ zu lesen, tat es aber doch, denn ich wollte sehen, was die Neuen aus dieser Zeitung jetzt machten oder wie lange sie den harten Kurs aufrecht erhalten könnten.

Wenn ich heute zurückdenke, dann meine ich, dass ich damals nicht unbedingt niedergeschlagen war durch jene Prozesse. Man hatte ja damit gerechnet, dass nach Polen und Budapest die Zügel wieder enger geschnallt würden. Das Gespenst der Konterrevolution wurde wieder schrecklich ausgemalt, dem „Klassenfeind“ von innen und dem „imperialistischen“ von außen musste „größte Wachsamkeit“ und „Entschlossenheit“ entgegengesetzt werden, und auf allen Ebenen unseres gesellschaftlichen Lebens, selbstverständlich auch in den Schulen, musste der „Klassenkampf verschärft“ werden! Doch die Gewissheit blieb: Da haben erneut gescheite, verantwortungsbewusste Menschen, achtbare Sozialisten oder Kommunisten, diesmal deutsche, das totalitäre Herrschaftssystem in Frage gestellt und sich für eine Reformierung dieses DDR-Sozialismus mutig eingesetzt!

Und wenn ich im Sept. 1957 in meiner Zeitung lesen konnte: „Kantorowicz zum Feind übergelaufen“, dann wusste ich, dass wieder ein intellektueller Kommunist, diesmal ein angesehener Literaturwissenschaftler der DDR, dem Prozess-Terror durch Flucht in den „Westen“ entkommen war.


Mit meiner Klasse 1956.

Die „Ausmerzung feindlicher Elemente“ ging weiter. Im Februar 1958 wurde uns mitgeteilt, dass Karl Schirdewahn und Ernst Wollweber, ebenfalls von den Nazis verfolgte Altkommunisten und seit 1946 hohe Funktionäre der SED, wegen „Fraktionstätigkeit“ aus dem ZK der SED ausgeschlossen und mit einer strengen Rüge bestraft worden waren.

Neue Aufgaben und Probleme

Nun habe ich mich natürlich nicht nur mit der großen Politik befasst. Die anstrengende tägliche Arbeit und das persönliche, familiäre Leben nahmen mich ja voll in Anspruch. Vor allem die Schule, sie verlangte meinen vollen Einsatz.

Eine ganz spezielle Aufgabe, der ich mich im Frühjahr 1958 mit persönlichem Einsatz widmete, war die Planung und Vorbereitung eines schuleigenen Ferienlagers in den Sommerferien. Unser Pionierleiter, Elmar, ein rühriger und ideenreicher junger Mann, und ich als stellvertretender Schulleiter, wir hatten uns dieses Projekt ausgedacht und dann auf den Weg gebracht. Wir wollten ein schuleigenes Lager, ein möglichst unabhängiges Ferienlager für Kinder unserer Löfflerschule, einrichten und nach unseren Vorstellungen gestalten. Wie wir darauf kamen, soll kurz gesagt sein:


Mit meiner Klasse 1958.

Die an der Schule von Zeit zu Zeit üblichen Altstoffsammlungen (Altmetall, Papier, Glas u. Alttextilien) hatte unser Pionierleiter mit seiner Aktivität und durch gute Motivierung der Schüler (der Pioniere) zweimal zu einem herausragenden Ergebnis geführt. Wir wurden „Erste“ im Vergleich mit anderen Schulen und erhielten jedes Mal eine Prämie in Form einer beachtlichen Geldsumme. Dieses Geld sollte dem „Pionierverband“ unserer Schule zugute kommen. Also schlug Elmar vor: Wir kaufen Zelte! Das war damals nicht so einfach. Man musste sie bestellen, irgendwie über die Pionierorganisation des Kreises. Das dauerte alles seine Zeit, aber es gelang. So zeigte er mir eines Tages stolz die fünf erworbenen 4 – 5-Mann-Zelte. „Da können wir doch ein schuleigenes Zeltlager aufmachen, in den Sommerferien!“ – das war mein Vorschlag. Und das nahmen wir dann mit großem Eifer im Frühjahr in Angriff, denn es reizte uns beide sehr, ohne staatliche Anweisung und abseits von obligatorischen Ferieneinrichtungen etwas Eigenes, Löfflerschultypisches auf die Beine zu stellen.

Nach einigen Erkundungen fanden wir bei Tambach-Dietharz in der Nähe eines kleinen Quellbaches auf der „Kniewiese“ einen geeigneten Platz für unser Zeltlager. Der Revierförster stimmte zu. Unser RAW-Patenbetrieb half uns mit Material, schickte uns Betriebshandwerker, die im angrenzenden Waldrandbereich eine einfache Bretterbude mit einer „vorschriftsmäßigen“ Toilette bauten, in der Mitte des Lagerplatzes Holztische und Bänke aufstellten und eine Fahnenstange errichteten. Der Chef des nahen Betriebsferienheims „Rodebachsmühle“ sagte zu, unsere Lagerkinder gegen einen angemessenen Preis täglich mit Mittagessen zu versorgen.

Bis zu Beginn der Sommerferien 1958 hatten wir es geschafft: Rund um ein größeres Tageszelt standen vier kleine Zelte mit 20 Schlafplätzen und ein Zelt für die Lagerleitung. Der Lagerleiter, fürs erste unser Elmar, und zwei Helferinnen für Küche und sonstige Betreuung eröffneten den ersten 14-tägigen Durchgang. Diesem folgten im Laufe der großen Sommerferien noch zwei Durchgänge mit je 20 Schülern, meistens aus den Klassen 5 – 7. Die sanitären und allgemeinen Bedingungen im Lager waren zwar etwas dürftig, aber das störte damals die Kinder und auch uns Erwachsene nicht so sehr. Für Essen war gesorgt. Ansonsten war man anspruchslos und gab sich mit dem Allernötigsten zufrieden. Dafür bot das Tagesprogramm interessante Freizeitbeschäftigungen mit Sport und Spiel, mit Baden in nahen Schwimmbädern und mit Ausflügen und heimatkundlichen Exkursionen rundum in den Thüringer Wald. Da wehte in der Mitte des Lagers natürlich der Wimpel der Jungen Pioniere, der den Charakter eines Pionierlagers legitimierte, doch die ganze Lagergestaltung und der Tagesablauf verliefen unpolitisch und freizügig – fast demokratisch! Natürlich mussten Regeln für Ordnung und Sauberkeit eingehalten werden, doch die sonst übliche militante Lagerordnung brauchten wir nicht. Wir legten Wert darauf, dass die Kinder durch sinnvolle Beschäftigungen, interessante Erlebnisse und gesunde Bewegung inmitten der Natur wirklich frohe Ferientage verleben konnten.

Schüler, Lehrer, Schulleitung und Pionierleiter waren sich am Ende des Feriensommers sicher: Das war eine gute Sache, dieses schuleigene Ferienlager werden wir nächstes Jahr wiederholen und einiges dabei noch verbessern. Elmar und ich, wir zwei Macher, waren ein bisschen stolz auf unser kleines Ferienlager. An der Resonanz bei den teilnehmenden Jungen und Mädchen hatten wir sehen können, dass wir diesen Kindern unserer Schule ein schönes und sinnvolles Ferienerlebnis ermöglicht hatten.

 

Ich müsste noch vermerken, dass ich in diesen Sommerferien 1958 mit meiner 8. Klasse für 8 Tage ins Erzgebirge gefahren bin. Auch das war schön. Ich sah mich, wenn ich mit meinen Schülern in den Ferien unterwegs war, auf dem richtigen Wege!

Im Schuljahr 1957/​58 wurde laut staatlicher Anweisung an unserer Schule erstmalig die Jugendweihe in den Plan für die politisch-ideologische Arbeit aufgenommen.

Das hieß, wir Lehrer sollten werbend „überzeugen“, dass es richtiger sei und einer sozialistischen Gesinnung entspräche, wenn man als Vierzehnjährige/​r anstelle einer christlichen Konfirmation die religionsfreie Jugendweihe feiere. Wir Lehrer/​innen – so wurde uns gesagt – hätten zwar mit der Organisation und Durchführung der Jugendweihe nichts zu tun, das wäre Sache der „demokratischen Organisationen“ in unserem Land, wir könnten oder sollten aber freiwillig mitwirken usw. Und tatsächlich, abgesehen von der geforderten „Überzeugungsarbeit“, wurden wir Lehrer/​innen im ersten Jahr nicht in die Pflicht genommen Es hatten sich zu Beginn auch nur wenige der Schüler freiwillig bereit erklärt.

Gegen die bald „revolutionär“ einsetzende Jugendweihe-Kampagne wehrte sich nun die Kirche mit aller Entschiedenheit. Unsere evangelischen Pfarrer sagten mit aller Deutlichkeit: entweder Konfirmation oder Jugendweihe, beides könne die Kirche nicht akzeptieren. So ergab sich zum ersten Mal seit 1952/​53 ein neuer Kampf zwischen Kirche und Staatspartei und manche Eltern gerieten in Zwiespalt.

Fürs erste standen wir Lehrer mehr oder weniger außerhalb des Kampffeldes. Aber das sollte sich ändern, als sich herausstellte, dass die Kampfaktion „Jugendweihe“ von den „demokratischen Organisationen“ allein nicht geleistet werden konnte. Wie in den folgenden Jahren die Schulen und die Lehrer verpflichtet wurden, die Vorbereitung und Durchführung der Jugendweihe zu realisieren, darauf gehe ich später ein.

Auch die Einführung des Polytechnischen Unterrichts, eine weitere Neuerung im Schulwesen der DDR 1958/​59, bereitete uns erhebliche Probleme. Gemäß einem veränderten Lehrplan wurde zu Beginn des Schuljahres der „Unterrichtstag in der sozialistischen Produktion“ eingeführt. Anfangs waren es die 7. Klassen unserer Schule, die im VEB Gummiwerk Gotha in das neue Unterrichtsfach UTP/​ESP eingeführt werden sollten und dazu an einem Tag in der Woche in diesem volkseigenen Betrieb vier Stunden Unterricht hatten.

Im UTP (Unterricht in der sozialistischen Produktion) sollten die Mädchen und Jungen an ausgewählten, möglichst geeigneten Arbeitsplätzen im Betrieb zur praktischen Arbeit angeleitet werden.

In ESP (Einführung in die sozialistische Produktion) war zunächst ein Lehrausbilder oder Fachmann des Betriebes eingesetzt. Er hatte die Schüler/​innen in einem dafür notdürftig hergerichteten Unterrichtsraum theoretisch zu unterweisen.

Als begleitender Lehrer von der Schule war ich anfangs nur für Aufsicht und Sicherheit verantwortlich. Zu diesem Unterrichtsdienst in einem Produktionsbetrieb wurden vorzugsweise Lehrer eingesetzt, die wie ich über eine frühere technische Berufsausbildung verfügten. So gehörte ich als ehemals gelernter Mechaniker mit zu den Lehrern, die laut Stundenplan einmal in der Woche mit einer Klasse in einen volkseigenen Betrieb geschickt wurden. Trotz technischer Grundkenntnisse fühlte ich mich als verantwortlicher Lehrer unsicher, weil ich die Strukturen und die daraus resultierenden Probleme in solch einem Produktionsbetrieb nicht genau kannte. Besonders schwierig erschien mir, in den jeweiligen Produktionsstrecken geeignete Arbeitsplätze für Schüler auszuwählen und einzurichten. Grundsätzlich fehlte es bei den Verantwortlichen im Betrieb wie bei uns Lehrern an Erfahrung. Es hätte im Voraus eine sorgfältige Planung und Vorbereitung dieses praktischen Unterrichtsbetriebes erfolgen müssen. Diese Einführung des Unterrichts in der Produktion kam zu schnell. Ich hielt auch das Gothaer Gummiwerk für den praktischen Arbeitseinsatz von Schülern als ungeeignet, hauptsächlich aus Sicherheitsgründen.

Erst später, in den 60er Jahren, als gut ausgestattete Lehrwerkstätten und Unterrichtsräume in den Betrieben geschaffen waren, auch ausgebildete Lehrausbilder und Fachlehrer die Ausbildung und den Einsatz im Produktionsprozess des Betriebes leiteten, konnte man von einem sinnvollen und erfolgreichen produktionsverbundenen Unterricht sprechen.

Ich hielt trotz der Schwierigkeiten in der Anfangsphase des UTP-Unterrichts die Verbindung von Schule und Produktion grundsätzlich für sinnvoll. Es schien mir nützlich für Jungen wie für Mädchen, wenn sie über die theoretische Wissensvermittlung in der Schule hinaus mit Grundkenntnissen und Erfahrungen in technischer, praktisch produzierender Arbeit vertraut gemacht werden. Ich betrachtete den Unterricht in praktischer Produktion als notwendig für eine zeitgemäße Allgemeinbildung, vorteilhaft für die Gewinnung sozialer Erfahrungen und förderlich für die Berufsorientierung junger Menschen.

Dass ich selbst als (Neu)Lehrer über eine vorausgegangene Berufserfahrung in technischer Produktion verfügte, habe ich stets als einen Vorteil in meiner Arbeit als Lehrer verstanden!

Ein Schulhort für unsere Löfflerschule

In jener Zeit versuchte die SED-Staatsführung – wohl zum Ausgleich für den wieder verschärften Druck des Regimes – die Bevölkerung mit einigen sozialen Maßnahmen und Verbesserungen zufrieden zu stellen. Im Mai 1958 wurden die letzten Lebensmittelkarten (der Nachkriegszeit) aufgehoben. Das von der Partei beschlossene Wohnungsbauprogramm zeitigte die ersten sichtbaren Erfolge. Neue Ferienheime der Gewerkschaft konnten vorgezeigt und von „Bestarbeitern“ genutzt werden. Und man förderte verstärkt den Bau bzw. die Einrichtung von Kindergärten und Schulhorten. Letzteres mit dem Ziel, die Ganztagsbetreuung bedürftiger Schüler zu sichern.

So wurde auch in unserer Schule darüber nachgedacht, für die Schüler der Unterstufe einen Schulhort einzurichten. Im eigenen Schulgebäude sah die Schulleitung keine Möglichkeit zum Ausbau von Räumen für einen Schulhort. Nach eingehender Beratung mit sachverständigen Eltern entstand dann folgender Plan:

Im städtischen Gelände des benachbarten Schulgartens stand ein altes massiv gebautes, aber baufälliges ehemaliges Garten- bzw. Sommerhaus. Dieses Gartenhaus sollte – gemäß dem Plan – stabil ausgebaut und durch einen Anbau erweitert werden, so dass darin drei Gruppenräume mit Wasch- und Toilettenräumen Platz fänden. Dieses Projekt entsprach damaligen Minimalanforderungen – räumlich und hygienisch. Ein Vorteil war der günstige Standort: Das umliegende Gartengelände bot genügend Raum und Fläche für die Beschäftigung der Kinder im Freien.

Die Schulverwaltung der Stadt befürwortete Ausbau und Einrichtung dieses Schulhortes, allerdings – wie das so üblich war – unter der Bedingung hoher Eigenleistungen. Aus der Elternschaft gewannen wir zwei Bauingenieure, Herrn Carius und Herrn Lorenz, die das Bauprojekt unentgeltlich erarbeiteten und im weiteren Verlauf die Bauarbeiten leiteten. Die Ausschachtungsarbeiten für Wasser- und Stromleitungen vom Schulgebäude bis zum künftigen Hortgebäude mussten von der Schule im „Nationalen Aufbauwerk“ freiwillig geleistet und organisiert werden. Im Frühjahr dann, an mehreren Wochenenden, hatten Lehrer, Eltern und ältere Schüler in schwerer Handarbeit die Gräben ausgehoben und nach dem Verlegen der Leitungen durch Fachleute die Gräben wieder zugeschüttet. Der Patenbetrieb hatte mit Gerätschaften und einigen Helfern zum Gelingen des Ganzen beigetragen. – Nach Fertigstellung des Schulhortes wurden zwei Horterzieherinnen eingestellt, und zu Beginn des Schuljahres 1958/​59 konnte der Hortbetrieb aufgenommen werden. Ich wusste damals, im Herbst 1958, noch nicht, dass dieses so aufwendig erarbeitete, gelungene, nützliche Gemeinschaftsprojekt unserer Schule schon nach einem Jahr so gänzlich seinen Sinn verlieren würde!