Mein langer Weg von Schlesien nach Gotha 1933–1950

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Blond und blauäugig

Das war auch die Zeit, wo an uns ältere Schüler in der Schule eine broschierte Beilage zu unserem „Realienbuch“ ausgegeben wurde. Vielleicht sollte ich zuerst erklären: Das „Realienbuch“ war in unserer Volksschule ein universelles Lehrbuch, in dem gefächert Grundwissen in Geschichte, Erdkunde, Naturkunde und Naturlehre zusammengefasst war. Dazu kam jetzt eine etwa 20-seitige Ergänzungsbeilage über „Rassenkunde“. Ich kann nicht genau sagen, ob der Titel so lautete, jedoch der Inhalt entsprach diesem nazistischen Thema. Mit Porträt-Abbildungen und Merkmalsbeschreibungen waren verschiedene Menschenrassen vorgestellt, natürlich mit einer qualitativen Bewertung. Ich erinnere mich, dass u. a. von der Nordischen Rasse, von der Westischen Rasse, von der Romanischen Rasse, von der Ostischen Rasse, von der Dinarischen Rasse und vor allem auch von der Jüdischen Rasse die Rede war.

Ich fand das irgendwie lustig. Ich weiß auch nicht mehr genau, ob unser Lehrer diesen Exkurs sehr ernst genommen hat. Ich glaube eher nicht, denn wir haben die ganze Thematik so nebenbei behandelt. Aber immerhin blieb bei mir haften: Die besten Menschen sind die der Nordischen Rasse! Negativ bewertet wurde die Ostische Rasse, auf die slawischen Völker gemünzt, und als schlechteste Menschen galten die Juden. Mit hässlich gestalteten Abbildungen sollte das auch äußerlich kenntlich gemacht werden. Nun ja, die Juden, die waren so im Gerede, da muss wohl was dran sein, aber …? So unter uns Jungen hatten wir damit zu tun, uns selber einzuordnen: Zu welcher Rasse gehörten wir? Selbstverständlich zur Nordischen Rasse. Wir stammen doch von den Germanen ab! Aber wir betrachteten uns gegenseitig so halb im Spaß, ob wir nun auch äußerlich den Merkmalen der Nordischen Rasse entsprächen. Mein Bruder und ich, so meinten die anderen zu unserer Beruhigung, wir ähnelten der Nordischen Rasse. Helmuts schmaler Kopf und hohe Stirn wurde hervorgehoben, und blond waren wir ja beide. Meine blauen Augen verbürgten auch für Nordische Herkunft, nur mein Kopf sei etwas breiter, das könnte auf ostischen oder dinarischen Einschlag zurückzuführen sein. Dann prüften wir die Nasen und den Körperbau. Und zu den Mädchen schauten wir natürlich hin: Wer ist groß, schlank, blond … und schön? Dass die Hoffmann Ursel die schönsten langen blonden Zöpfe von allen hatte, das gefiel mir sehr … .

Gotha, im Oktober 2000

Liebe Franziska,

wer soll das verstehen oder wie soll man das erklären, dass ich erst jetzt, nach einem Abstand von 10 Jahren, von neuem ansetze und fortführen will, was ich Ende 1990 begonnen, dann aber abgebrochen habe.

Nicht dass ich dieses Schreibprojekt vergessen oder hätte fallen lassen wollen. Nein, einfach aufgehört, weil andere mich stärker beanspruchende, fesselnde Geschehnisse jener Zeit mich abgelenkt haben und in den Vordergrund getreten sind. In der Brisanz jener aktuellen Ereignisse von 1990, der Wiedervereinigung Deutschlands, fragte ich mich auch erneut nach dem Sinn solcher weit zurückreichenden autobiographischen Aufzeichnungen. Oder: Wer bin ich schon, dass ich mir anmaße, von meiner Person zu schreiben? Dann wiederum redete ich mich damit heraus, dass es bis zur endgültigen Niederschrift einer größeren zeitlichen Distanz bedürfe.

Und jetzt, liebe Franziska, bist Du inzwischen zu einer Frau von 24 Jahren herangewachsen. Wenn ich weiß, wie man in solcher Lebenszeit durch Lernen, Suchen, Träume und Erfahrungen vor allem mit sich selbst genug zu tun hat und nicht unbedingt den Wurzeln der Familie oder Zeitgeschichte nachgehen möchte, dann frage ich mich wieder: Wirst Du das jetzt unbedingt lesen wollen?

Nun hast Du aber, als wir vor kurzem über meine damals begonnenen Aufzeichnungen sprachen, mich von neuem ermuntert, indem Du spontan sagtest: „Schreib weiter, das ist wichtig für uns!“

Ich habe darüber nachgedacht und mich entschlossen weiterzumachen. Für wen mein Bericht „wichtig“ oder sagen wir interessant sein kann, das wollen wir dabei offen lassen. Über den Sinn oder Zweck solcher Aufzeichnungen gibt es unterschiedliche Auffassungen. Manche meinen, es sei wohl eine Illusion, wenn man glaubt oder hofft, die Menschen könnten aus der Geschichte Schlussfolgerungen ziehen für die Gestaltung einer humaneren künftigen Welt. Aber vielleicht kann ein Stück konkret erzählter Familiengeschichte doch mit dazu beitragen, darüber nachzudenken, was da vorgegangen ist im 20. Jahrhundert in Deutschland und wie kleine Leute, hineingeboren in Krieg und zwei Diktaturen, ihr Leben verbracht haben – recht und schlecht, gut oder nicht gut.

Ich will, liebe Franziska, im Folgenden – im Gegensatz zum ersten Teil – auf an Dich oder den Leser direkt gerichtete zwischengeschobene Anreden verzichten. Ich werde nur berichten und erzählen, aber natürlich nicht wertfrei, denn ich möchte auch durchblicken lassen, wie ich das Erlebte später überdacht oder verstanden habe. So will ich meinen Zeitzeugenbericht von nun an ohne Unterbrechung fortsetzen, in der Hoffnung, dass es einen lesbaren Sinn macht.

Vom Leben in Haus, Familie und Dorf

Häusler Oskar Scholz, Hartelangenvorwerk, Nr. 81, das war unsere Anschrift. Sie stand auf Karten oder Briefen, die der Poststellenleiter und Briefträger Wolf in unser Haus brachte. Die Bezeichnung „Häusler“ sagte aus, dass der damit genannte Besitzer nur ein kleines Haus besaß, mit ein wenig Garten und Feld. So war unser Haus weder stattlich noch groß, aber räumlich in drei Bereiche gegliedert: Rechts lag der Wohnbereich, in der Mitte Stall und Futtervorbereitung, zur Linken schloß sich die Scheune an. Wir gingen durch die Haustür in den Hausflur. Von dort konnte man hinten, die Kellertreppe hinunter, in den Gewölbekeller gelangen, der in den hinter dem Haus aufsteigenden Berg hineingebaut worden war und in dem Kartoffeln und Rüben lagerten, unsere Gurken- und Sauerkrauttöpfe standen und wo sich auf Regalen die Einkochgläser aneinander reihten. Vom Hausflur links gesehen, hinter einer einfachen Holztür, befand sich der Stall mit Kuh und Ziegen. Man konnte sie hören, zuweilen auch riechen. Rechts durch eine stabilere Tür gelangte man in die Wohnstube. Hier spielte sich insgesamt der Alltag ab. Da war links ein hoher Kachelofen, der mit einer Herdplatte über dem Feuerloch und einer „Röhre“ zum Kochen und Warmhalten diente, zugleich aber auch den Wohnraum heizte. Wir saßen im Winter gern auf der Ofenbank, mit dem Rücken an die warmen Kacheln gelehnt. Mutter, die in unseren frühen Kindheitstagen gern sang, saß dann strickend am Ofen und animierte uns zum Mitsingen, hauptsächlich in der Dämmerstunde, wenn die Hauptarbeit des Tages getan war. Wir Jungen sangen auch gern, und mein Bruder Helmut hatte eine ausgesprochen „schöne Stimme“, von meiner Mutter „geerbt“, wie wir alle meinten. Manchmal im Winter, wenn es draußen schneite, saßen wir zwei auch im Fenster, auf dem überbreiten Fensterbrett. Und das war bei uns möglich, da die Mauern gewiß 40 bis 50 cm dick waren. – Innen waren die Wände der Wohnstube mit Holz vertäfelt, auch der Fußboden mit Holz gedielt. Rechts in der Ecke stand der Esstisch, von zwei festen Eckbänken im Winkel umgeben. Darauf saßen wir Jungen beim Essen, mittags mit der Mutter, abends, wenn die Pfanne mit Bratkartoffeln auf dem Tisch stand, zu viert. In einer anderen Ecke stand unser altes Sofa, daneben Mutters Nähmaschine, und schließlich auf einem extra dafür gefertigten „Tischel“ das Radio. Da gab es natürlich noch den Küchenschrank, zu dem uns Jungen der ganztägige Zugang verwehrt war, weil man sich gefälligst am Morgen, zu Mittag und am Abend richtig satt zu essen hatte; alle Naschereien zwischendurch waren strengstens untersagt. Und Mutter kam uns stets auf die Spur, wenn wir insgeheim versucht hatten eine Scheibe Brot fein säuberlich und unauffällig abzuschneiden. Oder wenn feinste Körnchen von Zucker herabgefallen waren. Was das Essen zu den Mahlzeiten betraf, da galt grundsätzlich: Was auf den Tisch kommt, wird gegessen. Ich habe manchmal vor dem halbleeren Teller oder dem Rest einer dickpampig kalt gewordenen Mehlsuppe ewig gesessen, bis mir der Teller weggezogen wurde mit dem Bescheid: „Wenn nicht jetzt, dann isst du es heute abend!“

Ich hatte mir immer vorgenommen: Das wirst du später mal von deinen eigenen Kindern nicht verlangen. Übrigens – und das sei hier an passender Stelle hinzugefügt – den gleichen Vorsatz habe ich einst aus tiefster Überzeugung gefasst, wenn ich als Junge diese furchtbar kratzenden und geradezu schmerzenden selbstgestrickten langen Strümpfe anziehen musste. Grob Gestricktes auf blanker Haut – das gehört mit zu den Leiden meiner Kindheit!

In unserer Wohnstube wurde zu Winterszeiten am Samstagabend auch der große hölzerne Waschzuber aufgestellt. Wir Jungen kamen zuerst dran und wurden von Mutter sehr gründlich „gebadet“ und geschrubbt, dann – nachdem wir ins Bett bugsiert waren – folgten Mutter und Vater. Diese wöchentliche Hauptwaschprozedur wie auch die täglichen Mahlzeiten fanden im Sommer im steingefliesten Hausflur statt. Hier stand in der Ecke auch die „Kochmaschine“, ein offener metallener Herd mit eiserner Herdplatte und Ofenrohr bis zum Schornstein, auf dem zur warmen Jahreszeit nicht nur die „Schweinskartoffeln“, sondern auch das tägliche Essen gekocht wurde.

Vom Hausflur aus führte eine freie, steile Holztreppe nach oben auf den oberen Flur, von dem man rechts in die Schlafkammer ging. Neben Betten für die Eltern wie auch für uns standen hier zwei Kleiderschränke, eine Kommode und ein „Vertiko“. Hatten wir mal ein Schwein geschlachtet, dann hingen hier an einem Gestänge auch die Leber- und Blutwürste, deren verlockender Duft uns Jungen ein weiteres Mal zu Disziplin und Entsagung zwang. Links vom Flur lag die „Rumpelkammer“, die Vater später als Kinderzimmer ausbauen ließ. Weiter hinauf führte eine holzverkleidete Treppe auf den Heuboden, auf dem tatsächlich das Heu bis in alle Winkel hinein vollgestopft, während auf dem Stangenboden über der Scheune hauptsächlich das Korn gelagert war. Von da aus musste es hinuntergereicht werden, wenn es zur Winterszeit auf der Tenne mit dem Flegel gedroschen wurde. Hinter dem Haus hatte Vater einen massiven Schuppen gebaut, in dem neben einem festen Schweinestall getrocknetes Brennholz gestapelt und Kohle und Sonstiges gelagert war.

 

Die zwei gemästeten Schweine hat Vater vorzugsweise verkauft, um mit dem Ertrag weitere Ab- oder Zinszahlungen für das 1923 gekaufte Haus zu tätigen. 1944 im Dezember hat Vater die letzte Rate von 200 Mark zurückgezahlt; zwei Monate später, im Februar 45, ist unser Haus bei den Kämpfen zwischen den hereinbrechenden sowjetischen Truppen und den verteidigenden Einheiten der Wehrmacht zerstört worden! Wie man erzählte, soll ein T 34 rückwärts, das Scheunentor eindrückend, in das Haus hineingefahren sein, worauf der Scheunenbau über dem Panzer zusammengestürzt sei. (Als ich im Jahre 1967 mit meinem Vater gemeinsam wieder in unserem Dorf vor den überwachsenen Grundmauern unseres alten Hauses stand, hat er geweint. Er sah sich vor den Trümmern seines Lebenswerkes!)

Vor dem Haus, unter den Wohnstubenfenstern, war ein schmaler eingezäunter Blumengarten. Im Sommer wuchsen hier, auffällig und von unsrem Ehrgeiz pfleglich angetrieben, unsere Sonnenblumen hoch hinauf bis zu den Fenstern der Schlafkammer. Zwischen diesem Vorgarten und der Haustür stand unsere „Hausbank“, ein wichtiger und behaglicher Ruheplatz an warmen Sommerabenden. Unter dem Geäst unserer großen Kastanie hindurch hatten wir einen schönen Blick über Wiesen und Felder bis zu „Vogels Pusch“. Wenn wir von hier aus laut rufend das Echo ausprobierten „Wie spät ist es in Magdeburg“, schallte es drüben von Langes Giebel zurück: „Achte durch!“ Oder: „Wie heißt der Bürgermeister von Wesel?“, dann: „E-sel!“

Auf der Rückseite unseres Hauses konnten wir Jungen über das zu unserem Kellerberg herabhängende Dach hinaufklettern bis zum First. Nur einen knappen Meter, über die breite Holzdachrinne hinweg, brauchten wir hochzusteigen, um auf das nicht sehr steile Hinterdach zu gelangen. Hinter dem Haus, zum Berg hinauf, zog sich ein etwa 30 m breiter und 60 m langer Obstgarten, hinter dem sich das kleine „Gärtel“ für den Gemüseanbau anschloss. Neben zwei Birnbäumen hatten wir diverse Apfelsorten, zwei unbedeutende Pflaumenbäume und einen hohen Süßkirschbaum, den wir Jungen in der Reifezeit mit der Kirschenklapper gegen diebische Stare zu bewachen hatten. Vater verstand auch mannsähnliche, abschreckende Vogelscheuchen herzurichten und oben in der Spitze des Baumes zu befestigen. Der größte Teil „unseres Berges“, des etwa 30 m breiten Ackerstreifens bis über die Höhe hinauf, war bestellt mit Roggen, Kartoffeln und Rüben. Aber auf dem trockenen Sandboden waren Wuchs und Ertrag spärlich. Natürlich mussten wir beim Ernten helfen.

Garten und Berg gehörten mit zu unseren Spielbereichen. Hier bauten wir uns Lagerplätze oder „Höhlen“, manchmal aus alten Decken und Brettern unbestimmbare „Buden“, und ganz oben auf dem Feldrain richteten wir uns Beobachtungsstellen ein, und im Herbst ließen wir von hier aus unsere selbstgebauten Drachen steigen. Im Sommer, beim Spiel im Garten, mussten wir uns öfter aggressiver Bienen erwehren, die vom Bienenstand unseres Nachbarn Gerhard auf einer ihrer Fluglinien durch unser Grundstück flogen. In unserer unberechenbaren Beweglichkeit gerieten wir unwillkürlich in ihre Flugbahn, wurden dadurch prall angeflogen und als vermeintliche Gegner sogleich gestochen. Auch an unserer „Plumpe“ vor dem Haus, an der wir erhitzten Jungen unseren Durst löschten, stießen wir mit den nach Wasser lechzenden Bienen zusammen. Mit der Zeit gewöhnten wir uns an Schmerzen und Schwellungen und suchten Wege nach friedlicher Abwehr der Plagegeister. Zu allem blieben wir versöhnlich, weil die imkernden Nachbarsleute uns ihr Mitgefühl erwiesen, gute Ratschläge erteilten und uns versicherten, Bienenstiche seien gesund! Vor allem aber wurde immer mal wieder ein Glas süßen Honigs zu uns herübergereicht, oder man lud uns Jungen ein, beim Honigschleudern „mitzuhelfen“, was nichts anderes bedeutete, als dass wir naschen durften.

Und da bin ich bei unseren Nachbarn angelangt, die verdienen, dass ich Löbliches sage: Der „Bäcker-Gerhard“ mit seiner Frau Klara und die Kinder Käthe und Hans – sie wohnten in der Nr. 80, im Haus rechts neben uns, das etwas größer und geräumiger war. Deshalb meinten wir, die Schulzes neben uns seien nicht so arm wie wir. Man muss jedoch einräumen, dass der „Bäcker-Gerhard“ (er war ein Sohn des Dorfbäckers) ein tüchtiger Maurer-Polier war und deshalb sein Haus auch besser in Schuss halten und auch selbst ausbauen konnte. Aber ich hatte trotzdem immer das Gefühl: Die sind „reicher“ als wir: Eine Zeit lang stand sogar ein Flügel (ein richtiges Piano) in der Wohnstube! Dann hatten sie eine Zitter im Haus, auf der auch ich manchmal nach einem eingelegten Notenblatt spielen durfte. Im Stall hatte man auch zwei Kühe stehen, also eine mehr als wir. Und die bei uns allen im Dorf üblichen Bratkartoffeln zum Abendbrot glänzten vor Fett viel mehr als bei meiner Mutter! Und die Schulzes hatten Verwandte in Berlin! Standen also mit Stadtleuten in familiärer Verbindung! Und so weiter. Irgendwie – so meinte ich als Kind – stünden sie über uns oder sagen wir höher als wir. In vielem erklärbar, weil die Nachbarskinder Hans wie Käthe 4 – 5 Jahre älter waren als wir und wir auch mit Respekt zu ihnen aufsahen. Zumal sie uns so manches voraushatten und wir von ihnen dies und jenes lernten. Der 14-jährige Hans zeigte uns z. B., wie man aus Sperrholztafeln kleine Doppeldecker-Flieger herstellen konnte. Mir brachte er dann auch das Schachspiel bei. Wir lernten von ihm, wie man Hockey und Fußball spielt – auf der Straße versteht sich. Hans ließ uns in seine Versandhauskataloge von „Stuckenbrock“, „Klepper“ und „Sport-Schuster aus München“ einsehen, so dass wir wahrnehmen konnten, welche wunderbaren Sachen (Zelte, Skier, Skistiefel, Faltbote, Fußballschuhe oder Fahrräder) in der großen Welt draußen zu haben sind, für Leute, die über das nötige Geld verfügten. Und als er ein Akkordeon besaß und darauf spielte, da wußte ich, was mir noch fehlte Auch dass Hans nach der Schulzeit in Löwenberg in der Bufe-Mühle im Büro als „Schreiber“ lernte und schließlich auch eine Freundin aus der Stadt uns zu Gesicht brachte, hat uns imponiert. Und wie er dann als „Flieger“ zur „Luftwaffe“ „ging“, das war natürlich für mich ganz besonders beispielgebend!

Käthe war als Mädchen für uns zwei Jungen, da wir keine Schwester hatten, wie eine ältere schwesterliche Freundin. Wir mochten sie, weil sie freundlich zu uns war, sich natürlich gab und sich gelegentlich um uns kümmerte.

So als unbedarfter Heranwachsender redet man ja manchmal von den „blöden Weibern“, regt sich auf über deren „Schöngetue“. Bei Käthe wären wir nie in derartige Reden verfallen. Später hat uns natürlich interessiert, mit „wem sie geht“. „Käthe ist wie ihre Mutter“, das hörte man sagen. Und es stimmt genau. So überaus gütig, so herzensgut, so voller stiller Nachsicht und natürlicher Freundlichkeit – so habe ich unsere liebe Nachbarin, Frau Schulz, in Erinnerung. Gegen uns Jungen fiel nie ein böses Wort oder eine schroffe Zurechtweisung. Manchmal steckte sie uns was zu. Ein andermal lud sie uns ein, von ihren so wohlschmeckenden Bratkartoffeln zu essen, was wir gern, aber nur zögerlich annahmen, weil bei unseren Eltern galt: Nicht betteln – zu Hause wird gegessen!

Der Vater von Hans und Käthe war uns Jungen auch gut gesonnen, aber von ihm kriegten wir manchmal schon was ab. Eine tadelnde Bemerkung, wenn wir uns ungeschickt verhielten, oder auch eine ironische, wenn ich im unpassendsten Augenblick in Jungvolkuniform daher kam, aber eben auch eine lobende, wenn man deutlich etwas „Vernünftiges“ vorweisen konnte. „Bäcker Gerhard“ war ein kritischer Mensch, selbst am Ende der Dreißiger Jahre noch stand er ziemlich „links“, während mein Vater seine alte sozialdemokratische Haltung schon fast verdrängt hatte. Über diesen Unterschied hinweg verstanden sich die beiden Männer recht gut. Beide tranken gern „an gutten Kurn“, waren sehr gesellig und spielten zur Kirmes oder zum Maskenball bei „Hiebnern“ gemeinsam so manchen Possen. Und nachbarschaftlich half man sich mit aller Selbstverständlichkeit.

Während des Krieges spürte man an seinen vorsichtig skeptischen Anmerkungen, dass bei ihm keine Siegeszuversicht aufkam. Er war auch kein militärischer Typ, der sich wie andere beim „Schissen“(Schützenfest) des „Reichkriegerbundes“ groß ins Zeug gelegt hätte. Nein, man konnte als Junge sich schon vorstellen: Der ist gegen den Krieg. Jahre später, nach 1945 haben wir darüber offen gesprochen.

Überhaupt unterschied er sich grundsätzlich vom Hilger Bruno, unserem anderen Nachbarn zur Linken. Der wohnte also in der Nr. 82 mit seiner Frau Berta. Beide waren „Hofearbeiter“, sie beim „Dunkel-Pauer“, er als Vorarbeiter beim Großbauern Heinrich im Nachbardorf. Hilger Bruno war ein renommierter Teilnehmer des Ersten Weltkrieges. In der Wohnstube hing groß und breit sein Porträt als stolzer Unteroffizier, ehrenbekränzt und mit dem Eisernen Kreuz geschmückt. Wenn die Männer in der Runde vom Krieg erzählten und wir Jungen ganz Ohr waren, dann waren die Kampfberichte von Hilger Bruno am spannendsten. Auch beim „Schissen“ trat er, militärisch ausstaffiert, mit stolzer Brust in Erscheinung. Es war für ihn selbstverständlich, dass seine Söhne nach einer Lehre beim Schmied sich freiwillig zu den Soldaten meldeten. Artur wurde Flieger und der zwei Jahre jüngere Kurt Matrose auf einem U-Boot. Sie avancierten beide und kamen zu Beginn des Krieges in schmucken Uniformen auf Urlaub. Bis dann Anfang 1941 die beiden Alten das Schlimmste traf: Zuerst erhielten sie die Nachricht, dass Artur im Luftkampf abgeschossen worden war, und vier Wochen später, dass Kurt in seinem U-Boot von einem Feindeinsatz nicht zurückgekehrt sei. Beide Söhne tot – innerhalb eines Monats! Das warf die Eltern völlig nieder, und für Bruno brach eine ganze Welt zusammen. Er war von nun an wie verwandelt, kritisierte Hitlers Kriegsführung und prophezeite, als im Sommer der Angriff auf Russland erfolgte, nun sei der Krieg nie mehr zu gewinnen. – Wie sehr doch persönliches Getroffensein, unwiederbringlicher Verlust und tiefstes persönliches Leid, die Blickrichtung ändern kann! So lange es immer nur die Anderen trifft, bleibt man in der eingefahrenen Spur.

Über unsere unmittelbaren Nachbarn hinaus hatten wir auch gute Verhältnisse zu anderen Bewohnern des Hinterdorfes. Walters Jungen, Kurt und Georg, waren mit uns gleichaltrig, also nahe Spielgefährten, selbst wenn sie als Bauernjungen viel mehr als wir in die häusliche Wirtschaft eingebunden waren und weniger Freizeit hatten als wir. Auf Walters Kellerberg sind wir Schlitten gefahren und bei Walters trafen wir uns auch manchmal abends, wenn die Eltern alle im Kretscham bei „Hiebnern“ zum Tanz waren. Und Schellenbergs Jungen, obwohl älter, so waren wir ihnen aus unterschiedlichen Gründen auch nahe. Oskar war im Dorf der Hitlerjugendführer; Richard, dem Ältesten, musste ich eine Zeit lang zur Reinholds Elli in Neuland als „Liebesbote“ dienen, und Hans, der Jüngste, mit mir gleichaltrig, konnte in der Schule etwas besser rechnen als ich.

Natürlich kannten wir gut die Bäckerfamilie, wo wir Brot holten. Und der Bäcker Kurt, ein Onkel von Käthe, war für uns Jungen irgendwie eine markante Person. Er ließ uns auch mal in die Backstube, und ich fand es interessant, wie er mit jungen weiblichen Kundinnen turtelte.

Und „die Rungen“, die war für uns insofern interessant, weil wir bei ihr neben Lebensmitteln Schokoladentafeln im Regal liegen sahen, aber höchstens für einen Pfennig ein dickes Sahnebonbon kaufen konnten. Und der Sohn, „Runge Briedl“, ein Jahr älter als ich, der hat mich auch mal heimlich mit in den Kramladen seiner Mutter hineingenommen. Aber er war vorsichtig, wir begnügten uns jeder mit einem Brathering aus der großen Blechdose.

Im Vorderdorf war ich gern bei Tüllners. Sie waren zugezogen und hatten Anfang der dreißiger Jahre einen Bauernhof übernommen, und der Sohn Lothar wurde mein bester Freund. Es war für mich eine schöne Jungenfreundschaft. Er war ruhiger als ich, aber mir sehr zugetan. Auch seine Mutter war mir auffallend freundlich gesinnt und legte Wert auf unsere Freundschaft. Ich fühlte mich wohl bei Tüllners. Der verhältnismäßig große vierflüglige Bauernhof war für mich eine andere Welt. Mit Lothar stöberte ich überall herum, von den Kellern bis hinauf in die Körnerkammern gab es allerhand zu entdecken, und er als Jüngster neben zwei älteren Schwestern brauchte nicht ernsthaft in der Wirtschaft zu helfen. Wenn wir mal Schweinskartoffeln mit dem großen „Dämpfer“ auf dem Hof vorbereiten sollten, war das eher wie eine Freizeitbeschäftigung mit einer leicht zu bedienenden Maschine. Ein ziemlich großer Hühnerhof nach dem Garten zu war oft im Gespräch. Ein Fuchs aus dem nahen Wald ging seiner Raubgier nach. Wir spürten ihn auf und machten uns dran, den Fuchsbau auszugraben, kamen wohl aber zu spät. Gänge und Nest waren leer, wahrscheinlich hatte er sich anderswo einen sicheren Bau eingerichtet. Als Lothar ernsthaft an Diphtherie erkrankt war und in Löwenberg im Quarantänehaus lag, habe ich gebangt und gelitten. Wir hatten später, auch im Krieg, während er an der West- und ich an der Ostfront war, noch brieflichen Kontakt miteinander, und sogar nach dem Krieg hatten wir uns wieder ausfindig gemacht, er in Sachsen und ich in Thüringen. Aber Lothar hat dann die Freundschaft abgebrochen, und ich glaube, ich bin schuld daran. Noch heute leide ich darunter.

 

Vom Dunkel-Bauer, vom einzigen Gutsbesitzer in unserem Dorf, war bereits die Rede. Er war schon ein alter Mann; der kränklich aussehende Sohn leitete die Gutswirtschaft, und mit zur Familie gehörte die verwitwete Tochter mit ihren drei Kindern Ingrid, Manfred und Reinhard. Die drei gingen nach dem 4. Schuljahr auf das Gymnasium in Löwenberg. Nur mit Manfred, so alt wie ich, blieb ich weiter in Verbindung, und zwar im Jungvolk. – Unweit von Dunkels Hof befindet sich heute noch die Ruine einer alten Wasserburg, umgeben von einer verfallenen Wallanlage mit ehemals breiten Wassergräben. Als Jungen haben wir die Ruinenmauern erstiegen und im Winter auf den zugefrorenen „Burgteichen“ „geschindert“, was heißt, dass wir mit Holzpantoffeln, auf deren Sohlen wir je zwei Kupferdrähte als Gleitschienen befestigt hatten, auf dem Eis geschlittert sind.

Diese Ringwallanlage oder Sumpfburg soll ehemals den slawischen Bewohnern der Bober-Aue als Fliehburg gedient haben. Sie könnte also 800 bis 1000 Jahre alt sein.

Die Tüllners wie auch die anderen Bauern des Dorfes waren nicht ausgesprochen reiche Bauern. Die Weltwirtschaftskrise 1929 – 32 und mit ihr die erlahmende Kaufkraft hatte die Preise ihrer Produkte sinken lassen. Mit der nazistischen Ausrichtung der Wirtschaft auf Rüstung und Kriegsvorbereitung ging es Mitte der dreißiger Jahre auch den Bauern wieder besser. Vor allem die Wehrmacht, der „Arbeitsdienst“ und die Füllung der Staatsreserven verlangten nach mehr Lebensmitteln. Wir Arbeiterjungen im Dorf waren bei den Bauern auch gefragte Arbeitskräfte, besonders in den „Kartoffelferien“. Doch wir zogen vor, uns bei den Gutsbesitzern im benachbarten Rackwitz zu verdingen. Dort bekamen wir 1,20 Mark pro Tag einschließlich Frühstück, Mittagessen und Vesper. Am liebsten arbeiteten Helmut und ich beim Sauer-Pauer. Dort konnten wir auch in der Knechtstube übernachten, bekamen zuzüglich noch das Abendbrot und gewannen nach Feierabend interessante Einblicke in das Hof- und Gesindeleben! Und die Bauersfrau nahm sich unser an, kam abends zu uns an den Tisch, drängte uns zu ordentlichem Waschen und schmierte uns die vom Kartoffellesen rauhen, aufgesprungenen Hände mit Schweineschmalz ein. Es war für uns 12- und 13-Jährige eine harte und auch qualvolle Arbeit. Von 7 Uhr an bis 18 Uhr, abzüglich der Pausen, waren wir auf den Beinen. Das heißt, meist in gebückter Haltung oder auf den Knien rutschend hatten wir hinter der Schleuder auf einem abgemessenen Streifen die Kartoffeln in Körbe zu lesen und diese in den bereitstehenden Kastenwagen zu entleeren. Der Rücken, der Rücken … ich spüre ihn heut noch, wenn ich daran denke. Und wenn wir erlahmten, wurden wir unerbittlich angetrieben! Eine Woche, höchstens 10 Tage, das konnte man gerade noch durchhalten. Aber es hat uns niemand zu solch einem Einsatz gezwungen! Weder die Eltern noch die Schule. Wir wollten das, denn es war für uns Jungen eine Möglichkeit, durch selbst verdientes Geld sich einen Sonderwunsch zu erfüllen. „Wenn du eine Fahrradbeleuchtung brauchst, dann musst du sie dir verdienen. Wir können sie nicht kaufen!“ Was will man da machen? Das gebrauchte Fahrrad für mich hatte Vater mit 18 Mark bezahlt. Also wenn ich nun in der Dunkelheit nicht mit Karbidlampe fahren wollte, musste ich eine Woche lang hart arbeiten. Dynamo und Lampe mit Kabel kosteten 7,50 Mark bei unserem Hoffmann Fritz.

An dieser Stelle muss ich endlich erklären, dass es bei uns in der schlesischen Umgangssprache üblich war, den Nachnamen vor den Vornamen zu stellen. Ich war also für die anderen, wenn sie von mir redeten, der Scholz Heinz oder der Bahner-Scholz-Heinz, und Hoffmann Fritz, das war unser Fahrradmechaniker Fritz Hoffmann, der im Hinterdorf nicht weit von uns eine Werkstatt und einen Verkaufsladen eingerichtet hatte. Eigentlich war er ein Universalmechaniker. Er reparierte und verkaufte nicht nur Fahrräder, auch Grammophone und zunehmend Radios und dann noch Nähmaschinen. Natürlich lötete er auch Töpfe, legte eine „elektrische Leitung“ oder reparierte irgend einen anderen defekten Mechanismus. Und – er hatte eine hübsche, blondzöpfige Tochter! Aber darauf komme ich noch zurück.

So als Dreizehnjähriger kannte ich so gut wie alle Leute im Dorf. Ich nahm fast jeden zur Kenntnis, wollte auch wissen, wer ist wer. Und bei 480 Einwohnern ist das kein großes Problem, wenn man im Dorf unterwegs ist, sich für andere Leute interessiert und auch hinhört, was da oder dort über diesen oder jenen erzählt wird. Manchmal erfuhr man auch durch direkte Begegnungen, durch bekannt gewordene auffällige Verhaltensweisen oder Leistungen Näheres über eine bestimmte Person, so dass man sich dann aus seiner kindlich jungenhaften Perspektive ein eigenes Bild machte. So lernten wir auch unter den verheirateten Männern einige als „Schürzenjäger“ einzuschätzen, oder wir hörten von Frauen, die es „sehr schwer hätten“ und natürlich auch von schlimmen Krankheiten, die verhältnismäßig junge Frauen oder Männer nach „schwerem Siechtum hinwegrafften“. – Einmal im Sommer hatte mich Vater in ein Haus im Vorderdorf geschickt, um dem darin wohnenden dorfbekannten Manne eine bestimmte Nachricht auszurichten. Da ich barfuß und ungehört durch offene Türen Hausflur und Wohnung erreichte, stand ich ganz plötzlich in der Wohnküche, zuckte aber ganz schnell zurück, dieweil der Hausherr eben in diesem Augenblicke am Sofa auf für mich eigenartige Weise mit seiner Frau hantierte und umging. „Das hätte ich von dem nicht gedacht!“ So meine gedankliche Reaktion aus der Sicht eines unwissenden, unaufgeklärten Jungen. Da geschah auch manches im Dorf oder in Familien, das uns, wenn wir zusammenhanglos davon erfuhren, zu einer recht bedenklichen oder zweifelhaften moralischen Wertung verleitete.

Ich denke hier an die spektakuläre Geschichte mit der Opitz Marie, aus der Erwachsenensicht: ein klassischer Fall von Kindestötung. Nun, diese Marie, eine sitzengebliebene alte Jungfer zwischen 35 und 40, hatte ihr heimlich zur Welt gebrachtes Kind im sumpfigen „Errlicht“ verscharrt. Das wurde nun auf dem Schulweg mit sensationellen Enthüllungen weitergesagt und phantasievoll bis ins Kleinste durchgesprochen. Ein richtiges Kriminalstück, an dessen Erklärung wir spekulativ mitarbeiteten. In der Scheune habe sie am Vortage noch mit Flegeln das Korn mitgedroschen! Keiner habe etwas gemerkt, keiner hat den dicken Bauch gesehen! Wie das? Darüber mussten wir nachdenken! Und wer hat sie geschwängert? Das war ja die wichtigste Frage! Und warum hat sie alles „mitgemacht“? Dass sie das Kind aus Scham verschwiegen hatte – das glaubten wir zu verstehen, denn die ganze Sache war ja wirklich „schämenswert“! – Bald wurde auch unter vorgehaltener Hand der „Schürzenjäger“ benannt. Und die Marie, sie war längst „abgeholt“ worden, aber von dem Gerichtsprozeß war nichts Genaues zu erfahren. Nur dass sie dann nach Plagwitz in die „Verrücktenanstalt“ eingewiesen worden sei, das fanden wir so ungefähr in Ordnung. „Das arme Luder“, so meine Mutter, die viel besser als wir Jungen einzuschätzen verstand, was da vorgefallen war.