«Dies Kind soll leben»

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Er wohnte zusammen mit einer zweiten Familie in dem winzigen Häuschen. Der Großvater schlief auf einer Pritsche in der Küche. Die Kleinheit der Stuben hatte wenigstens den Vorteil, daß jede Familie einen Raum für sich hatte. Es kamen noch andere Bekannte dazu. Was wird werden? Was wird werden? Auf diese bange Frage wußte keiner eine Antwort.

Wir suchten Zinghaus’ Wohnung. Sie lag in einer Siedlung von Arbeiterhäusern, kleinen Steinhäusern ohne Kanalisation und Wasserleitung, aber ziemlich neu und sauber. Wir trafen unsere Freunde nicht zu Hause. Frau Zinghaus’ Schwester führte uns herein. Es war nur für einen winzigen Tisch Platz. Man saß auf den Koffern. Wenn man uns nur in Ruhe läßt, sagte die alte Dame, dann werden wir uns an dieses ärmliche Leben gewöhnen. In allen war ein böses Vorgefühl.

Auf dem Rückweg trafen wir Zinghausens.»Nach den neuen Verordnungen müßten Sie auch ins Ghetto. Lesen Sie den Anschlag am Tor des großen Häuserblocks. «Wir lasen:»Nichtjuden, die mit Juden verheiratet sind, und Halbjuden unterstehen den Judengesetzen und müssen ins Ghetto ziehen. Die Nichtbefolgung dieses Gesetzes zieht die schärfsten Strafen nach sich.«

Wir hatten nicht mehr die Kraft, uns mit unseren Freunden aufzuhalten. Das Herz klopfte uns bis zum Halse. Es war auf einmal dämmrig und kühl geworden. Wir eilten fort. Grüße von einigen Vorübergehenden beachteten wir kaum. Wir liefen über den großen Platz, der in der Mitte des Ghettos liegt. Krähen flatterten hoch und setzten sich auf die hohen Bäume, die den Platz begrenzten.

Also auch wir, auch wir gehören zu den Ausgestoßenen. Jetzt wissen wir es. Es gibt kein Entweichen. Wahrscheinlich wird dieses neue Gesetz schon heute auf Extrablättern in der Stadt bekanntgemacht werden. Wir hielten uns an den Händen, spähten nach neuen Anschlägen. In einem Gäßchen in der Altstadt trafen wir einen Bekannten.[34]»Sie müssen auch ins Ghetto«, sagte er.»Ich habe meine Frau und Kinder schon dorthin gebracht. Ich selbst unterstehe dem Gesetz nicht, denn ich habe mich schon in Vorahnung künftiger Konflikte vor Jahresfrist pro forma von meiner jüdischen Frau scheiden lassen. «Die Verordnung scheint also schon stadtbekannt zu sein.

Als wir zu Hause ankamen, war es schon dunkel. Wir machten Licht und gingen durch unsere schöne Wohnung, die wir nun in wenigen Tagen verlassen sollten. Unsere kleinen Vorräte hatten wir schon verteilt. Wo sollten wir anfangen, was mitnehmen? Und vor allem: wer würde für Marie sorgen?

Wir konnten uns auch am nächsten Tag nicht entschließen, etwas zu packen, für eine Wohnung zu sorgen. Geists, die bis zum letzten Tag in der Stadt bleiben wollten, konnten bei allem Mitgefühl ihre Freude nicht verhehlen.»Mit euch zusammen wird uns dort alles leichter sein. «In der Zeitung oder durch Anschläge war die verhängnisvolle Verordnung noch nicht bekanntgegeben. Wir ließen die Stunden ungenutzt, waren wie gelähmt.

Am 14., einen Tag vor dem Schlußtermin, ging ich in die Stadtverwaltung zu einem mir bekannten höheren Beamten. Auf meine Frage, was tun, schwieg er. Ich werde es bei Jordan selbst versuchen. Im neu errichteten Stadtkommissariat saßen deutsche und litauische Beamte. Ich fragte mich durch die vielen Gänge, wollte auch hier erst noch mit einem Litauer sprechen. Niemand wisse genau in solchen Zweifelsfällen Bescheid, nur Jordan selbst könne sie entscheiden.

Vor Jordans Zimmer stieß ich auf den Rechtsanwalt Stankevičius. Er warnte mich dringend, hereinzugehen. Eine Frage sei dort gleichbedeutend mit einer negativen Antwort. Bevor in der Stadt keine öffentliche Bekanntmachung erfolgt sei, solle ich nichts unternehmen. Ich solle nach Hause gehen und abwarten.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Ein zierlicher Mensch mit auffallend kleinem Kopf, bleich, mit wäßrigen Augen, verkniffenem Munde kam heraus, ging, ohne uns zu beachten, vorbei. Es war Jordan.

Ich fühlte mich einer großen Gefahr entronnen. Gretchen und ich beschlossen, wir werden auf jeden Fall hierbleiben, mag kommen, was will. Wir müssen in der Nähe von unserer Marie bleiben.

Viktor kannte eine der Gefängniswärterinnen und vermittelte durch sie eine illegale Verbindung mit unserer Gefangenen. Wir schickten ein paar Äpfel, ein Butterbrot, Süßigkeiten und schickten und erhielten vor allem kleine Briefchen. Da auch die Beamten streng kontrolliert wurden, konnte das alles nur selten und mit großer Vorsicht geschehen. Diese spärlichen Nachrichten bildeten den Mittelpunkt unseres Lebens. Zwei dieser Zettelchen in winziger Schrift sind erhalten geblieben.[35]

Ihr Lieben!

Ich will ja gerne geduldig sein, wenn ich nur wüßte, ob und wann das ein Ende nehmen soll und wie dieses Ende wohl aussehen mag. Die Gefängnisadministration weiß nicht, wozu ich hier bin, ich auch nicht, und mein Untersuchungsrichter, der sich übrigens seit vier Wochen nicht mehr um mich gekümmert hat, weiß es sicher auch nicht. Ihm kommt es gar nicht darauf an, ob ich schuldig bin oder nicht, sondern daß ich schuldig bin. Mir ist keine Schuld gesagt worden, kein Urteil gefällt. Wenn es irgend geht, rüttele die Leute etwas auf, aber wenn Ihr nicht helfen könnt, so grämt Euch nicht zu sehr darüber, ich halte es schon aus hier, habe aber sehr Angst vor dem Winter. Wenn nicht die Donnerstage wären! Aber die wöchentlichen Zeichen, wie sehr Ihr an mich denkt, helfen mir, wenigstens äußerlich geduldig und stark zu sein. Daß auch Ihr es sehr schwer habt, beunruhigt mich sehr. Ich würde furchtbar gerne wissen, welcher Art diese Schwierigkeiten sind, ob Ihr mir nicht zu heldenhaft seid, ob Ihr Arbeit habt, satt seid. Hungert nur nicht, um mir schicken zu können: ich arbeite ja nicht. Über Brot, Butter und Äpfel freue ich mich am meisten. Über die Wurst und dergleichen auch, aber ich denke, Ihr solltet sie selber essen. Nach den Brotrationen zu urteilen, die immer kleiner, nasser und kartoffeldurchmengter werden, ist alles auch bei Euch knapp. Zucker sollt Ihr nie schicken. Die laue, graue Brühe, die wir am Morgen bekommen, ist keinen Zucker wert. Die Suppen zu Mittag und Abendbrot sind aber gut warm und durchaus eßbar, vor allem, wenn Kartoffeln drin sind. Ich freue mich sehr, eine Handarbeit von Euch zu bekommen. Ich glaube, ich werde in der nächsten Woche Gretel eine Schürze schicken können. Der Gedanke daran erfüllt mich mit großer Freude, denn es ist sehr schwer, und Stoff- und Fadenbeschaffung dauerte Wochen. Da ich ohne Kenntnisse der Zuschneide- und Nähkunst bin, müßt Ihr über die Mängel eben hinwegsehen. Das Sticken macht mir besonders Freude und der Gedanke, Euch ein Zeichen meiner großen Liebe und Sehnsucht zu schicken. Versucht doch öfters mal, wenigstens mit einem Gruß den Weg durch Viktor zu benutzen. Im Laufe dieses Monats oder Anfang des nächsten wird meine Kammergenossin wohl frei und besucht Euch. Wenn Ihr den Zettel gefunden habt, näht ein rotes Kreuzchen auf irgendein Kleidungsstück und schickt Donnerstag. Ich liebe Euch unsäglich.

Marie

Schickt ein Spiegelchen.

Der zweite Zettel ist auf der einen Seite litauisch an Viktor geschrieben.

Lieber Viktor,

bitte seien Sie so gut und geben Sie meiner Schwester das Geburtstagsgeschenk. Sagen Sie ihr und Mama, daß ich große Sehnsucht nach ihnen habe, aber ich verspreche, stark und geduldig zu sein. Trösten Sie sie, daß sie meinetwegen nicht zu sehr leiden. Ihre wöchentliche Donnerstagssendung ist jedesmal für mich wie Weihnachten. Es würde schön sein, wenn ich durch die Gefängnisverwaltung zehn Mark geschickt bekommen könnte, damit ich mir wenigstens das Nötigste kaufen könnte. Ich denke oft an Sie. Es ist doch gut, Freunde jenseits des Gitters zu haben.

Ihre Maryte.

Der Brief auf der andern Seite ist für mein Schwesterchen.

Liebes, liebes Gretelchen,

das Hemdchen und Leibchen mußt Du schon als eine Art vorzeitiges Weihnachts- und Geburtstagsgeschenk ansehen. Wenn Du wüßtest, mit welchen Schwierigkeiten und Gefahren es zustande gekommen ist, würdest Du über ihre vielen Mängel etwas hinwegsehen. Dafür mußt Du mir versprechen, aufzupassen, daß Mutter keine Weintrauben und keinen Zucker schickt, und von allem andern nur so viel, daß Ihr vorher wirklich satt seid. Ich muß ja heulen, wenn ich esse und denke, Ihr Pelikane[36] zu Hause arbeitet Euch hungrig für mich ab, und ich esse und arbeite nichts. Dafür würde ich mich sehr über Stoff (eventuell schon zugeschnitten als Nachthemd, Schürze oder Blüschen für Dich) freuen, und wenn Ihr, falls Ihr habt, bunte Garne zum Sticken schicktet oder irgendeine Handarbeit. Wenn die Patiencekarten die Sperre passierten, dürfte ich sie sicher behalten. Sage Mutter, daß ich die siebente Woche seit dem letzten auch völlig ergebnislosen Verhör bin, ohne Urteil und ohne daß sich seitdem jemand um mich gekümmert hat. Vielleicht kann sie die Leute etwas aufrütteln. Untersucht immer alle Strümpfe, die ich schicken werde, und die grauen Socken, die ich schickte. Ich liebe Euch unsäglich.

 

Marie

Sie schrieb uns, daß sie gebeten habe, sie zu verhören. Sie wurde in die Gestapo geführt. Dort legte man ihr Fotos irgendwelcher der kommunistischen Konspiration verdächtigter Personen vor. Marie beteuerte, keinen zu kennen. Sie habe sich in dem Jahr der Sowjetregierung nicht politisch betätigt. Sie habe neben ihrer Bürostellung die Abendschule besucht und ihr Abitur gemacht. Als Komsomol habe sie sich einmal wöchentlich abends mit einer Kindergruppe beschäftigt. Dort habe man gehandarbeitet, vorgelesen, gesungen, Theater gespielt. Spionage habe sie nie getrieben. Die Wärterin berichtete Viktor, daß sie sehr deprimiert zurückgekommen sei. Sie fühle, daß man ihr nicht glaube, daß man ihre Worte mißverstehe, daß man sie für raffiniert und verstellt halte.

Ich suchte verzweiflungsvoll nach einem Menschen, der mit seiner Fürsprache die Mißverständnisse aufklärte. Ich ging zu verschiedenen deutschen und litauischen Leuten, die mit der deutschen Polizei in guten Beziehungen standen, aber keiner wollte es riskieren, sich ihrer Sache anzunehmen.

Da hörte ich, daß der Rechtsanwalt Baumgärtel, der früher in Kaunas gelebt hatte, zurückgekommen sei und in der Zivilverwaltung beim Generalkommissariat arbeite. Ich kannte ihn als warmherzigen Menschen, aber großen Antisemiten. Ich hatte Bedenken, zu ihm zu gehen. Wie wird er sich jetzt als nationalsozialistisches Parteimitglied und Beamter des Dritten Reiches zu mir stellen?

Beim Eintritt in das Verwaltungsgebäude mußte ich meinen Paß vorzeigen, wurde eingehend gefragt, was ich bei Baumgärtel wolle, bekam dann einen Zettel, auf dem die genaue Zeitangabe stand, und eine bewaffnete Begleitung bis zu Baumgärtels Tür. Ich zögerte bangen Herzens, ehe ich klopfte. Baumgärtel sprang auf, begrüßte mich äußerst herzlich, war voll Teilnahme für mich, überlegte, wie er mir helfen könne. Er versprach, selbst in die Gestapo zu gehen, zu sagen, daß er unsere Familie persönlich kenne und der Verdacht politischer Konspiration hinfällig sei. Er wolle bitten, den Fall möglichst schnell zu behandeln und eine eventuelle Strafe gering zu bemessen.

Wir sprachen lange miteinander. Er äußerte sich sehr kritisch über» das nationalsozialistische Regime«.»Wir Älteren«, sagte er,»sind uns alle einig, aber es herrscht der größte Terror, und niemand wagt, den Mund aufzutun. Wir Deutschen sind ja leider ein feiges Volk.«

An dieses letzte Wort mußte ich später noch oft denken. Wir verabschiedeten uns sehr freundlich. In zwei bis drei Tagen solle ich wiederkommen und erfahren, was er ausgerichtet. Als ich dem Türposten meinen Begleitzettel abgab, bemerkte er mißfällig, daß ich mich fast eine Stunde aufgehalten habe.

Ich ging ganz verändert nach Hause. Ich malte [mir] schon das Wiedersehen mit unserer Liebsten aus, wie wir drei dann noch viel inniger, einander ganz, ganz nah sein würden, uns einig in unserer Trauer um den Vater und unserer gegenseitigen Liebe. Ich wartete mit Ungeduld auf Gretchens Heimkehr, um ihr die gute Nachricht mitzuteilen.

Inzwischen hatte sie eine Stelle in einem Übersetzungsbüro angenommen. In die Schule würde sie nicht mehr gehen, und sie wollte auch zur Erhaltung unseres kleinen Haushalts und der Sorge um die Schwester beitragen. Sie hatte sich in den letzten Wochen sehr verändert. Sie war kein fünfzehnjähriger kindlicher Backfisch mehr, [sondern] ein ernster Mensch, ein Kamerad.

Da sie noch jünger aussah, als sie war, hatte man nicht viel von ihr erwartet und sie erst nur probeweise angestellt. Sie arbeitete sich aber sehr schnell ein, lernte abends noch Maschineschreiben, und da sie beide Sprachen, Deutsch und Litauisch, sehr gut kannte, galt sie bald als beste Übersetzerin.

Nach drei Tagen passierte ich wieder den Türposten des Generalkommissariats. Auf dem Gang begegnete mir Baron von Grotthus in brauner Uniform mit der Hakenkreuzbinde. Er grüßte mich nicht. Baumgärtel empfing mich vollständig verändert. Er war hastig, aufgeregt.

«Ich hatte schon Angst, daß man Sie verhaftet hat, weil Sie gestern nicht gekommen sind. Ich habe mich indirekt erkundigt und erfahren, daß Sie auf der Schwarzen Liste stehen. Leider ist es unmöglich, jetzt für Ihre Tochter das geringste zu tun. Sie selbst sind in größter Gefahr. Sie müssen sofort mit Ihrer jüngeren Tochter fliehen. Ich rate Ihnen, nach Deutschland zu gehen. Dort wird man Sie nicht suchen, und Ihre zahlreiche Familie wird Ihnen helfen. Versuchen Sie, von einem Postauto illegal über die Grenze genommen zu werden, oder zu Fuß als Bäuerin. Hier haben Sie für die weitere Reise etwas Geld. Ich mahne Sie ganz dringend, sofort aus Kaunas zu verschwinden.«

Er drückte mir achtzig Reichsmark in die Hand und verabschiedete mich. Ich fühlte, daß er [sich] fürchtete, länger mit mir zu sprechen. Ich ging langsam die Treppe herunter. Der Türposten konnte sich diesmal nicht über meinen zu langen Aufenthalt beschweren.

Man sucht mich. Vor dem Eingang hielt ein Auto. Der Uniformierte, der heraussprang, kam auf mich zu. Jetzt verhaften sie mich, dachte ich.»Verstehen Sie deutsch? Können Sie mir sagen, wie ich zur Feldkommandantur komme?«

Ich holte Gretchen aus dem Büro ab und nahm sie mit mir nach Hause. Ich war nicht aufgeregt und bemühte mich, meine Kleine nicht zu sehr zu erregen. Trotz der Warnung blieben wir die Nacht in unserer Wohnung. Am nächsten Tag sprach ich kurz mit unserer Hauswirtin, die von Beginn unseres Unglücks teilnahmsvoll und hilfsbereit gewesen war. Wir wollten uns vorläufig in der Stadt verstecken. Ich gab ihr einige wertvolle Sachen zur Aufbewahrung. Wenn man nach uns frage, solle sie nicht wissen, wo wir sind. Grete ging in den Dienst. Dort wird man sie bestimmt nicht suchen.»Finde ein Versteck«, bat sie beim Weggehen. Ich stand auf der Straße und wußte nicht, was tun.

Sie zerstören uns, zerstören uns ganz und gar. Nach der Verordnung, die im Ghetto angeschlagen war, hätten wir dorthin umziehen müssen. Jetzt erwartete uns für Nichtbefolgung die angedrohte» härteste Strafe«.

Wo finde ich einen Menschen, der nicht Angst hat, mit mir zu sprechen, der uns berät und hilft? Ich kannte so viele angesehene Litauer, viele der wieder angekommenen Deutschen, und doch gab es keinen, an den man sich wenden konnte. Algirdas fiel mir ein. Anderthalb Stunden Wegs zu seiner Wohnung. Er war nicht zu Hause. Seine Frau versprach, daß er am nächsten Tag in die Stadt kommen würde. Wieder, wie schon einmal, mit Angst und Sorgen beladen den weiten, ermüdenden Weg zurück. Eine zweite schlaflose Nacht.

Ich hatte mich mit Algirdas bei Natalia Iwanowna verabredet, einer Russin, deren Mann kürzlich gestorben war. Sie bedauerte, daß sie andere Leute bei sich wohnen habe, sie hätte uns sonst gern aufgenommen. Algirdas schlug eine andere Russin vor. Man telefonierte, und nach einer Stunde kam eine zierliche Dame, die sofort bereit war, mich mit zu ihrer Freundin zu nehmen, in deren Haus sie mit noch einer dritten Russin wohne. Sie sprach weder deutsch noch litauisch. Auf dem Weg versuchte ich mich auf englisch zu verständigen, denn man hatte mir gesagt, daß sie in der Mandschurei aufgewachsen sei und dort englisch gesprochen habe. Sie antwortete aber fast nichts, war sehr scheu und kühl. Sie sieht mit den dunklen Augen und dem gelblichen Teint wie eine allerliebste Chinesin aus, dachte ich. Sie war mir fremd, und die ganze Stadt, die so oft gegangenen Straßen, waren mir fremd.

Das altmodische Holzhäuschen, in das sie mich führte, lag nicht weit von unserer Wohnung, aber abseits der Straße, hinter großen Bäumen mit noch einigen ähnlichen Häuschen, die wie vergessen aus der zaristischen Zeit schienen. Innen war ein großer Raum, in dem mit halbhohen Bretterwänden einzelne Stuben angedeutet waren. Sie gingen nach Süden und Westen und waren trotz zerbrochener Fensterscheiben und notdürftiger Möblierung freundlich und hell.

Die chinesische Natascha besprach sich mit ihrer Freundin, der das Häuschen gehörte. Sie war sogleich bereit, uns aufzunehmen. Sie hieß ebenfalls Natascha, und trotzdem sie etwas besser als die andere litauisch sprach, konnten wir uns nur schlecht verständigen. Ich fühlte mich wie ein unliebsamer Fremdkörper in dieser intimen Welt, gerade weil die Hilfsbereitschaft so ohne Ansehn der Person gewährt wurde. Es wurde verabredet, daß wir uns schnell unsere nötigsten Sachen holen und unsere Wohnung vorläufig nicht mehr aufsuchen sollten. Als ich Gretchen abholte und ihr unser Quartier beschrieb, erinnerte sie sich, dieses Häuschen bereits zu kennen. Dort wohne unsere alte Bekannte Ludmilla.

Mit Ludmilla hatten wir vor Jahren Datsche an Datsche einen Sommer in einem einsamen russischen Walddorf verbracht, wo sie das ganze Jahr lebte, die Bauern kurierte und beriet, die Kinder lehrte und mit ihnen Theater spielte. Sie war seit Jahren schwer leidend und hatte, da die Ärzte sie bereits aufgaben, ihren eignen Weg gefunden, sich zu erhalten. Zu Kriegsbeginn war sie in die Stadt zu ihren Freundinnen gezogen und jetzt von neuem erkrankt und bettlägerig geworden. Sie bewohnte ein besonderes Zimmer, das ich vorher nicht bemerkt hatte.

Zwischen Gretchen und ihr wurde das frühere herzliche Verhältnis sogleich wieder hergestellt. Sie trafen sich in gemeinsamer Sorge um eine gute Freundin, die mit ihrer Familie nach dem Innern Rußlands umgesiedelt worden war.[37] Welches Glück, sagten sich beide, daß Beka nicht hier ist. Dort wird sie als freier Mensch leben und muß nicht die Leiden des Ghettos ertragen.

Für die Nacht bot man uns ein Sofa. Gretchen schlief sofort ein. Sie fühlte sich durch das überraschende Wiedersehen mit Ludmilla in der Abseitigkeit unseres Unterschlupfes geborgen und atmete warm und ruhig an meiner Seite. Ich grübelte lange, was wir nun weiter tun sollen. Am besten erst mal ein paar Tage vergehen lassen. Hier wird man uns nicht finden.

Es vergingen viele Tage des Wartens, ohne daß wir zu einem Entschluß kamen. Die beiden Nataschas waren gütig und hilfsbereit, aber sehr verschlossen. Erst allmählich bekam ich heraus, daß die eine Schneiderin war und in einem Trust arbeitete. Die andere besorgte den Haushalt und die kranke Ludmilla. Sie hielten ganz unregelmäßige Mahlzeiten, standen einmal ganz früh, ein andermal spät auf und gingen ebenso unregelmäßig schlafen. Der Zuschnitt ihres Lebens war in jeder Beziehung verschieden von unserem.

Wir hatten unseren elektrischen Kocher und Lebensmittel mitgebracht und kochten für uns. Wir wollten so wenig wie möglich stören. Gretchen ging nach wie vor in ihr Büro. Dort ahnte keiner etwas von ihrem Doppelleben. Sie ging mit ihren Arbeitskollegen nach Hause, verabschiedete sich an der Straße unserer Wohnung, wartete dort ein wenig in einem Treppenhaus, bis die andern außer Sicht waren, und eilte dann in unser Versteck.

Ich hatte mit unserer Hauswirtin ausgemacht, daß ich jedesmal erst anrufen würde, bevor ich in unsere Wohnung käme. Wir verabredeten einen Code, nach dem sie mir mitteilen sollte, ob man nach uns gesucht habe. Ich rief jeden Tag von einer Postfiliale auf dem Berge an. Da sich nichts ereignete, beruhigten wir uns allmählich, gingen öfter in unsere Wohnung, vor allem um unsere Donnerstagssendungen vorzubereiten. Während wir für unsere Marie einen kleinen Kuchen buken, schauten wir ständig aus dem Fenster. Wenn es klingelte, hielten wir uns mäuschenstill.

Algirdas mahnte uns dringend, die Stadt zu verlassen. Er bot sich an, bei einer Flucht behilflich zu sein. Er kannte Leute, die öfter nach Deutschland hereinfuhren und uns mit falschen Papieren mitnehmen könnten. Oder wir sollten nach Wilna gehen. In der größeren Stadt, in der wir nicht so bekannt waren, könnten wir uns leichter verbergen. Ich sagte zu jedem Vorschlag ja, traf alle Vorbereitungen und konnte mich doch nicht entschließen. Solange wir unsere Marie nicht bei uns haben, können wir nicht von hier fort.[38]

 

Vielleicht war es besser, in der Nähe der Stadt auf dem Lande eine Wohnung zu suchen. Wir erinnerten uns an den holländischen Gärtner Stoffel, der sieben Kilometer vor der Stadt seine Gärtnerei hatte. Wir kannten ihn nicht sehr gut, aber seine vornehme Erscheinung und seine ruhige, reservierte Art gaben uns solches Vertrauen, daß wir ihm gleich unsere Nöte unterbreite-ten und um Rat und Hilfe baten. Er selbst könne uns nicht aufnehmen, er wollte aber mit seinen Nachbarn sprechen.

Nach einigen Tagen kamen wir wieder heraus, gingen zusammen zu einigen Gehöften der Umgegend. Die Bauern waren bereit, uns gegen einen annehmbaren Mietpreis aufzunehmen. Holz und Lebensmittel waren hier leichter zu bekommen als in der Stadt. Ein neugebautes Haus gefiel uns besonders. Der Bauer versprach, unsere Möbel mit seinen Pferden abzuholen. Seine Frau erwarte bald ein Kind, da sei es auch ihm angenehmer, wenn noch jemand im Hause sei. So vernünftig alles aussah – auch dieser Plan blieb unausgeführt.

Einige Tage später kam Herr Stoffel, dem wir unser Versteck bei den Nataschas verraten hatten, zu uns. Der Rechtsanwalt Baumgärtel, den er gesprochen habe, sei außer sich, daß wir uns noch in der Stadt befänden. Es bestehe hohe Gefahr für uns. Wir sollten uns schnell zur Flucht entschließen.

Je mehr die Umstände zu einer Entscheidung drängten, desto unmöglicher erschien sie mir. Aber auch länger bei den holden Nataschas zu bleiben ging nicht an. Den Nachbarn fiel bereits unser langer Aufenthalt dort auf. Wenn Besuch kam, schlossen wir uns in einem Zimmer ein und regten uns nicht. Wir zeigten uns nie in den Verkehrsstraßen der Stadt, blieben meistens auf dem Grünen Berge. Aber auch hier oben war es unruhig. Täglich wurden auf der Straße und in den Häusern Verhaftungen vorgenommen. Man fing Menschen zu irgendwelchen Arbeiten, verhaftete Kommunisten, bestrafte Spekulanten.

Die Lebensmittelnormen, die auf Karten gewährt wurden, waren ungenügend. Der freie Verkauf war verboten. Aber die Litauer ließen sich nicht so leicht einschrecken.[39] Der Handel auf dem Schwarzmarkt blühte, die Preise stiegen. Wenn die Polizei auf dem Markte eine Razzia gemacht hatte, die Händler teils verhaftet, teils vertrieben hatte, so erschienen sie fünf Minuten hinterher wieder, und der Handel ging vergnügt weiter.

Es zeigte sich, daß die litauische Bevölkerung für dunkle Geschäfte, Umgehung der Gesetze, erbarmungslosen Wucher mit lebenswichtigen Waren ganz vorzüglich begabt war. Ganz mit Unrecht hatte sie behauptet, daß nur die Juden diese Fähigkeiten hätten, denn auch die geriebensten jüdischen Geschäftemacher halten sich im Prinzip an die Regel» Leben und leben lassen «und sind immer bemüht, einen Mittelweg zu finden, der beide Teile befriedigt. Aber auch jetzt noch, wo die Juden aus dem Wirtschaftsleben ausgeschaltet waren, wollte man ihnen ganz unlogischerweise an allen Mängeln die Schuld geben. Das Volk war nur zu gern bereit, auf die Propaganda der Deutschen hereinzufallen, die mit der antisemitischen Hetze die Aufmerksamkeit von ihrer eignen barbarischen Ausbeutung von Land und Leuten ablenkten.

Diese Ausbeutung, die gleich nach dem deutschen Einmarsch eingesetzt hatte, mußte von langer Hand vorbereitet gewesen sein. Das reiche, wohlbestellte Bauernland war ein fetter Bissen, von dem man sich nichts abgehen lassen wollte. Die hohen Abgaben der Landprodukte wurden teils nach Deutschland geschickt, teils zur Heeresversorgung verwendet.»Für unsere Erhaltung müssen die von uns eroberten Länder sorgen«, rühmten[40] stolz die Soldaten. Sie befanden sich damals alle im Taumel der unentwegt Siegenden, die es nicht nötig hatten und keinen Wert darauf legten, beliebt zu sein. Unter den älteren Offizieren gab es allerdings damals schon manche, die dieses rücksichtslose Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung bedenklich fanden. Sie sahen schon voraus, daß es schlecht enden muß, sich überall Feinde zu machen.

Auf dem Savanoriu-Prospekt kamen lange Züge von Gefangenen. Sie wurden vor Wagen gespannt, um Pferde zu sparen. Sie trugen Holzbalken, mußten zu Fuß von einer Stadt zur anderen ohne Schuhwerk gehen. Die Stiefel hatte man ihnen abgenommen. Sie waren matt und abgezehrt. Obgleich es streng verboten war, den Gefangenen irgend etwas zu geben, wurde es allgemein üblich, ihnen Lebensmittel und Zigaretten zuzustecken. Besonders die russischen Bürger waren bemüht, soviel sie konnten zu helfen. Wir trugen in unserer Handtasche immer Äpfel, getrocknetes Brot, Zigaretten mit uns, um keine Gelegenheit ungenützt zu lassen. Die deutschen Wachen waren oft so perplex über die Dreistigkeit, mit der hier ein strenges Verbot überschritten wurde, daß sie nicht die Geistesgegenwart hatten, es zu verhindern. Andere taten bewußt, als ob sie es nicht bemerkten. Aber es gab auch oft Raufereien und Verhaftungen.

Ich sah einmal einen langsam schreitenden Zug Gefangener. Einer von ihnen fiel vor Erschöpfung zur Erde. Der Wachtposten, ein derber, roher Bursche, schrie ihn an, er solle aufstehen. Der Gefallene rührte sich nicht. Anscheinend war er ohnmächtig. Da überfiel den Deutschen eine solche Wut, daß er auf den Ärmsten heraufsprang, mit seinen schweren Stiefeln auf ihm herumtrampelte und dabei brüllte:»Auf, du Schwein! Wer gewinnt hier den Krieg? Nicht ihr, sondern wir! Wer gewinnt hier den Krieg, wer gewinnt den Krieg?«

Der Anblick solcher Roheit war entsetzlich. Es bildete sich sofort eine Menschenmenge. Eine Frau versuchte, den Soldaten fortzustoßen. Polizei mischte sich darunter. Man fragte [die Frau] nach ihrem Ausweis. Sie steckte ihnen mit einer kühnen Bewegung ihren Paß unter die Nase. Die und die bin ich, verhaftet mich, wenn ihr wollt, aber nie werde ich solche Niedertracht dulden. Sie ging mit den Polizisten. Ich sah, wie man sie dann freiließ. Wahrscheinlich waren auch die litauischen Polizeibeamten mit der Frau einer Meinung über diese Schandtat. Die russischen Gefangenen nahmen schweigend ihren mißhandelten Kameraden auf und trugen ihn mit sich.

Damals wurde es üblich, sich russische Gefangene aus den Lagern als Hilfskräfte für die Landwirtschaft zu holen. Meistens wurden sie dort gut herausgefüttert und fühlten sich sehr wohl. Aber es kam auch oft vor, daß einer davonlief. Deshalb wurde es später viel schwerer, die Bewilligung zur Haltung von Gefangenen zu bekommen.

Zu jener Zeit bekamen manchmal auch Städter die Erlaubnis zur Haltung eines Gefangenen. Unsere Nataschas wollten gleichfalls einen als Hauswächter und Pfleger des Gartens bekommen. Sie hatten sich bereits mit einem bekannt gemacht, der noch im Lazarett lag. Da man in der Administration deutsch sprechen mußte, ging ich als Vermittlerin mit.

Während wir im Vorhof warteten, kamen verwundete und kranke Gefangene heran. Wir verteilten unser Mitgebrachtes. Die Russen bedankten sich sehr. Sie steckten sich sofort die Papirossen[41] an, bissen in das geröstete Brot. Da [es] ihnen aber unpassend erschien, das rösche Brot so laut krachen zu lassen, bemühten [sie] sich, vorsichtig zu kauen, um nicht zu laut zu knuspern. Natascha fing ein Gespräch mit ihnen an. Wir schauten [uns] dabei ununterbrochen ängstlich nach allen Seiten um, im Bewußtsein, hier ein strenges Verbot zu übertreten. Aber hier im Lazarett schien ein angenehmes Milieu zu sein. Ärzte und Pfleger duldeten stillschweigend das Unerlaubte, und die Kranken versicherten, daß sie gut behandelt würden.

In der Kanzleistube sprachen wir mit einer sehr liebenswürdigen Dame, die – jung, blondlockig, schön und elegant – der Atmosphäre einen unerwarteten Glanz gab. Personal und Patienten strahlten, wenn diese Sonne ihr Licht auf sie scheinen ließ, und auch wir wurden davon betroffen. Die Strahlende versprach, für die Zuteilung des erbetenen Gefangenen Sorge zu tragen. Wir könnten ihn, wenn wir wollten, jetzt gleich sehen und alles mit ihm besprechen.

Man schickte einen Boten, und bald kam der Verlangte langsam über den Lazaretthof angezockelt. Natascha setzte sich mit ihm auf ein Bänkchen am Toreingang. Ihr strenges Profil kam mir, von der Sonne beschienen, nicht mehr chinesisch vor, sondern ganz slawisch, eine echte, kleine Russin im Gespräch mit dem großen, etwas schwerfälligen Mann, der einen Arm gegipst und mit Gaze verbunden hoch auf ein unbequemes Gestell gebunden trug.

Wir gingen vergnügt und mit unserm Erfolg zufrieden nach Hause.»Wie kann der Mann, der anscheinend lange schwer verletzt ist, schon in wenigen Tagen zur Arbeit entlassen werden?«fragte ich Natascha.»Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Iwan ist überhaupt nicht verletzt, sondern wegen kranker Augen in ärztlicher Behandlung. Den pompösen Verband mit dem Gestell trägt er, wie noch viele andere Lazarettinsassen, nur als Attrappe für die deutsche Kontrolle. Das machen ihnen die litauischen Ärzte und Pfleger aus Mitleid, damit die armen Schlucker noch ein Weilchen im Lazarett bleiben können.«

Ich hörte hier zum ersten Mal von so wohlorganisierter Sabotage. Später lernte ich sie noch an vielen Stellen kennen und bewundern.

Iwan kam nicht am verabredeten Tag, und Natascha und ich gingen wieder ins Lazarett. Das Bild hatte sich völlig verändert. Schon der Torposten wollte uns den Eintritt verwehren. In der Kanzlei neue Menschen. Die Strahlende, die ihr Amt so virtuos verwaltet hatte, war verschwunden. Später hörte ich von einem Arzt, daß die Deutschen entdeckt hätten, daß sie eine Polin sei, und sie deshalb sofort entlassen und nach Deutschland zurückgeschickt hätten. An ihrer Stelle saß ein derber Gefreiter und sagte uns klipp und klar, daß an private Stadtbewohner keine Gefangenen mehr gegeben werden dürften. Während Natascha den vergeblichen Versuch machte, Iwan noch einmal zu sprechen, und ich im Hof wartend stand, wurden aus dem gegenüberliegenden Gebäude zwei Tote herausgetragen. Die wächsernen Füße ragten aus dem Leintuch. Sie wurden auf einen Karren geladen und fortgeführt.

34Wahrscheinlich Franz Vocelka, von dem noch die Rede sein wird. Er hat seine Frau später wieder aus dem Ghetto geholt.
35Helene Holzman hat die folgenden beiden Briefe Maries in ihren Aufzeichnungen abgeschrieben. Die Originale sind nicht erhalten.
36Über den Pelikan hieß es schon in der Antike, er würde sich die Brust aufreißen, um mit dem eigenen Blut seine Kinder zu ernähren.
37Gretes und Ludmillas Freundin Bella Feigelowitsch, genannt» Beka«, war mit ihrer Familie am Ende des Sowjetjahres nach Sibirien deportiert worden.
38Zusatz am Seitenrand: Zur Flucht brauchten wir vor allem Geld. Wir verkauften Bettwäsche, Bücher, Kleidungsstücke, Eßgeschirr sehr billig. Es hatte sowieso keinen Wert mehr für uns.
39Im Sinne von» einschüchtern«.
40Im Sinne von» prahlten«.
41Russische Zigaretten mit einem langen Mundstück aus Pappe.