«Dies Kind soll leben»

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«Wie bei meinen Besuchen beim Rechtsanwalt Baumgärtel«, dachte ich auf dem Heimweg,»das erste Mal so hoffnungsvoll, und nach wenigen Tagen hat sich alles gewandelt.«

Das Ghetto war am 15. August geschlossen worden. Am Tor standen Wachtposten, die den Eintritt verwehrten. Die Juden durften es nur in Begleitung von Wachen verlassen. Täglich kamen größere und kleinere geschlossene Gruppen – »Brigaden«– über die Vilijabrücke in die Stadt, um bei den deutschen Militär- und Zivilbehörden zur arbeiten. Die Stellen forderten am Vortage von der Ghettoverwaltung die benötigte Zahl von Arbeitskräften.

Die Militärstellen waren beliebter, trotzdem die Arbeit dort häufig physisch schwerer war. Aber unter Offizieren und Soldaten gab es viele, deren Gefühl sich gegen die offenbare Verletzung der Menschenwürde empörte und [die] sie persönlich auszugleichen versuchten. Die jiddische Sprache ist der deutschen so verwandt, daß eine Verständigung ohne weiteres möglich ist. Die deutschen Soldaten, die hier häufig zum erstenmal in ihrem Leben mit Juden in engere Berührung kamen, erlebten zu ihrem größten Erstaunen, daß das von der deutschen Propaganda geschaffene Zerrbild in keiner Weise auf die Wirklichkeit paßte. Sie fanden anstellige, tüchtige Handwerker, die ihr Fach ausgezeichnet verstanden, sie fanden Lastträger von ungewöhnlichen körperlichen Kräften, intelligente Ingenieure. So entwickelten sich oft sehr freundliche Beziehungen zwischen den Soldaten und den Juden. Sie schütteten sich gegenseitig ihr Herz aus, und manchmal entwickelten sich richtige Freundschaften.

Unter den jüdischen Mädchen und Frauen fanden sie die lieblichsten, anziehendsten Erscheinungen, und auch da entstanden rasch menschliche Beziehungen, oft solche mit der Hoffnung auf Dauer» nach dem Kriege«, die sich freilich nicht verwirklichen konnte. Offiziere nahmen jüdische Mädchen zur Instandhaltung ihrer Wohnung. Aus den Aufwartungen wurden Hausfrauen, und die intimen Beziehungen sprachen der propagierten natürlichen rassischen Abneigung Hohn. Wurden diese Verhältnisse von den Vorgesetzten entdeckt, so schickte man die Offiziere schleunigst an die Front.

Natürlich gab es auch viele, die den Juden von vornherein mit dem ihnen eingeprägten Vorurteil begegneten und sich durch keine Einsicht davon abbringen ließen. Aber solche waren unter den Soldaten viel seltener als bei der Zivilverwaltung. Vielleicht hatte auch das Beispiel, die würdige Erscheinung der obersten militärischen Person, des Generalmajors Just[42], seine Wirkung, während die Häupter der Zivilverwaltung wahre Untiere waren, die in ihrer Überheblichkeit im Laufe der drei Okkupationsjahre nicht nur gegen die Juden, sondern auch gegen die Litauer die schwersten Verbrechen begingen.

Eine Brigade von Frauen wurde beordert, in den Verwaltungsgebäuden die verwahrlosten Klosetts zu reinigen. Auf die Forderung von Bürsten und Lappen antwortete man ihnen:»Nehmt eure Kleider!«Auch zum Dielenscheuern, zum Fensterputzen wurde ihnen das nötige Putzzeug verweigert. Man sah gebildete Juden als Straßenkehrer, beim Räumen vom Schutt, Ausbessern der Straßen.

Sie sollten eigentlich nur Schwerarbeit leisten. Da aber überall Arbeitskräfte fehlten und es sich zeigte, daß die Juden auf allen Gebieten tüchtige Kräfte stellen konnten, wurden einzelne auch als Übersetzer in den Schreibstuben, als Drucker, Ingenieure, Buchhalter, anfangs sogar auch als Ärzte verwendet.

Man holte jüdische Fachärzte, wenn in schweren Fällen die anderen keinen Rat mehr wußten. Man sah gelegentlich, wie einer der bekannten Chirurgen oder Internisten von einem Partisanen mit dem Gewehr in der Hand durch die Stadt geführt wurde. Der Partisan auf dem Fußsteig, der Arzt daneben im Rinnstein mit dem gelben Stern.[43] Die Frau eines hohen Zivilbeamten, eines schweren Antisemiten, ließ sich von einem jüdischen Gynäkologen von einer Zwillingsgeburt entbinden.

Die Beschäftigung der Ärzte wurde bald verboten. Die Deutschen verzichteten lieber auf die rettende medizinische Hilfe, als ihre Notwendigkeit einzugestehen. Eine Ausnahme bildete der Zahnarzt Dr. Quitzner, der bis zuletzt mit seiner Frau als Assistentin in der Gestapo als Zahnarzt arbeitete. Er hatte sein vollständig eingerichtetes Kabinett, und die Mörder von Tausenden von Juden ließen sich von seiner geschickten Hand die Plomben, Kronen und Gebisse machen. Er wurde täglich mit einem Auto vom Ghetto abgeholt und wieder zurückgebracht.

Am 18. August wurden circa 500 intelligente, gutgekleidete Juden zur Sonderverwendung in einem Archiv gefordert. Sie sollten etwas Gepäck mitnehmen, da man sie längere Zeit außerhalb der Stadt beschäftigen werde. Es meldeten sich viele freiwillig. Sie waren erfreut, zu so angenehmer Arbeit gebraucht zu werden, und verabschiedeten sich wohlgemut von ihren Angehörigen. Die zur geforderten Zahl Fehlenden wählte der Ältestenrat aus. Am Morgen verließen 534 gut angezogene, meist jüngere Männer mit ihren Koffern oder Bündeln in der Hand das Ghetto. Sie wurden weggeführt, und niemand hat wieder etwas von ihnen gehört. Später gestanden angetrunkene Gestapisten, daß man sie auf einem Fort erschossen hat. Sie brauchten Anzüge und Wäsche, war die zynische Begründung. Das war die erste große Vernichtungsaktion.[44] Im Ghetto glaubte man noch lange, daß sie zurückkommen würden, bis man allmählich begriff, daß keine Hoffnung mehr war.

Der Terror hielt an. Ende August erging der Befehl, alles Geld bis auf 10 Reichsmark, die pro Kopf erlaubt wurden, abzugeben, außerdem alle Wertgegenstände, Gold, Silber und Juwelen, alle elektrischen Geräte, alle Pelze. Viele machten den Versuch, einen Teil ihrer Schätze zu verstecken. Die meisten wurden dadurch eingeschreckt, daß man circa 20 Personen sofort erschoß, weil sie Sachen versteckt hatten. Deutsche Polizei und litauische Partisanen durchsuchten Haus für Haus, Höfe und Schuppen. In jedes Haus kamen sie mehrere Male, durchwühlten alles und plünderten dabei nach Herzenslust. Manchen war es dennoch gelungen, etwas in Eile zu vergraben oder anderswie vor den Räubern zu verbergen, aber viele gaben vorbehaltlos alles, was gefordert wurde, und verblieben völlig mittellos.

Die Verteilung von Lebensmitteln erfolgte in staatlichen Läden, wie für die Stadtbevölkerung, nur daß die Rationen viel geringer waren. Um täglich 200 Gramm Brot zu bekommen, mußte man lange anstehen. Butter, Fett und Fleisch gab es überhaupt nicht. Wer in der Stadt arbeitete, brachte Gemüse, Kartoffeln mit. Auf dem Wege von und zu den Arbeitsstätten kaufte man auf den Märkten. Auch auf den Arbeitsstätten, den Höfen der Fabriken, Baustellen, Behörden entwickelte sich schnell ein schwunghafter Tauschhandel. Da man in der Stadt alle wertvolleren Waren beschlagnahmt hatte, war große Nachfrage, besonders nach Kleidungsstücken. Manche Juden hatten noch viel. Die nichts hatten verdienten am Zwischenhandel. Diese Geschäfte und jegliche andere Beziehung zu den Juden waren natürlich verboten. Es gab aber viele Posten, besonders unter den deutschen Soldaten, die durch die Finger sahen. Trotzdem war dieser Handel eine ernste Gefahr für beide Teile. Viele Litauer wurden dabei verhaftet, manche saßen wochenlang im Gefängnis. Ein Bürger, der sich erdreistet hatte, einem Juden auf der Straße die Hand zu geben, wurde dafür mit einer Woche Gefängnis bestraft, sein Name als abschrekkendes Beispiel in der Zeitung genannt.

Jordan ertappte auf dem Markte der Altstadt einen Juden, der vier Bauernwagen voll Gemüse eingekauft hatte, um sie ans Ghetto fahren zu lassen, wo man die Ware durch den Drahtzaun hineinschmuggeln wollte. Jordan zog seinen Revolver und erschoß den Käufer vor den Augen aller Umstehenden. Das Gemüse wurde an die umstehenden Weiber verteilt, die sich, anstatt sich über die Missetat zu empören, zufrieden mit den ihnen unerwartet zuteil gewordenen Kohlköpfen und Möhren davonmachten. Noch Wochen später hörte ich eine sich rühmen, wieviel sie damals von der Beute abbekommen habe.

Auch am Drahtzaun wurden Geschäfte gemacht. Die Bauern kamen mit ihren Fuhren über die Landstraße, die am Ghetto vorbeiführte. Die Posten wurden bestochen, häufig beteiligten sie sich mit an den Geschäften. Große Möbelstücke, Sofas, Nähmaschinen wurden so direkt gegen Fett, Butter, Fleisch eingetauscht. Auf den anliegenden Friedhof kam ein Weiblein mit einem Kinderwagen. Sie verneigte sich murmelnd, als ob sie den Rosenkranz spräche, aber statt frommer Gebete ertönte die Anpreisung ihrer Waren:»Habe Butter, habe Speck, Gänse, Hühner. «Die Juden brachten Stoffe, Wäsche, und hurtig wurden die Produkte aus dem Kinderwagen durch den Stacheldraht lanciert.

 

Die litauischen Spekulanten nützten die Notlage der Juden weidlich aus und schlugen zu den Schwarzmarktpreisen immer noch auf. Sie mischten sich oft mit großer Dreistigkeit und ohne den geringsten Respekt vor den deutschen Gesetzen in die Brigaden, wo sie ihre Produkte mit Sicherheit zu guten Preisen umsetzen konnten. Wurde einer gelegentlich gefaßt und abgeurteilt, so fand er das auch» halb so schlimm«, saß seine paar Wochen ab und spekulierte hinterher munter weiter. Für die Juden dagegen bedeutete jede Gesetzesübertretung Todesgefahr. Der Kauf einer Zeitung an einem Kiosk, ein Händedruck auf der Straße mit einem vorübergehenden Bekannten, das Überhören des Anrufs eines Postens kostete viele das Leben. Dennoch war auch bei ihnen der Optimismus, der Glaube an das Leben so groß, daß sie auch in ihrer verzweiflungsvollen Lage um die kleinen Freuden des Genusses kämpften und unermüdlich und erfindungsreich die Wege dazu fanden. In den ersten Monaten dachten sie allerdings noch nicht daran, diese Wege einzufahren. Es war mühsam und bitter genug, sich in die neue Lage zu finden und sich Tag für Tag notdürftig zu erhalten.

Wir hielten uns schon die zweite Woche bei den Nataschas versteckt, ohne daß sich unsere Lage klärte. Wir gingen fast täglich in unsere Wohnung – nie ohne uns vorher telefonisch bei unseren Hauswirten zu versichern, daß alles in Ordnung sei. Die ganze Woche bereiteten wir unsere Donnerstagssendung vor, buken Weißbrot, kochten Marmelade, gingen aufs Land, um Eier und Milch zu erstehen. Und jedesmal das bange Warten und schließlich Erleichterung, wenn endlich alles abgegeben war und wir ihre Unterschrift in der Hand hielten.

Wir schickten jedesmal auch Leibwäsche, ein Handtuch und andere Kleinigkeiten mit: Bleistifte, ein Spiel, eine Handarbeit. Aber die Kontrolle wies vieles als»überflüssig «zurück. So angstvoll wir sonst auf der Straße gingen, in der Furcht vor plötzlicher Verhaftung – auf dem Gefängnishof fühlte ich mich unter den vielen Leidensgenossen sicher. Gerade hier, schien mir, würde mir nichts geschehen. Eine junge Frau sorgte für ihre Schwester, die mit Marie zusammen in einer Zelle saß. Wir wußten, daß die beiden Leidensgefährtinnen schwesterlich teilten, was wir ihnen brachten.

Als wir einmal in unserer Wohnung waren, wurde heftig geklingelt. Wir öffneten nicht, hielten uns mäuschenstill. Nach einer Viertelstunde kam unser Wirt.[45] Soeben sei ein Polizeibeamter bei ihnen gewesen, um sich nach uns zu erkundigen. Er habe sich unsere Personalien aus dem Hausbuch und nach den Aussagen des Wirtes eingehend notiert und dem Wirt strenges Schweigen uns gegenüber über seine Erkundigungen auferlegt. Mein Hauswirt hatte nichts Eiligeres zu tun, als das Verbot zu brechen. Er riet uns, unsere Wohnung einige Tage zu meiden. Wir schlichen in unser Versteck zurück.

Der Savanoriu-Prospekt lag so weit, so breit vor uns. Die Menschen gingen ruhig, gleichgültig. Wir schauten uns ängstlich um. Niemand ging uns nach. Trupps von Soldaten zogen in der Mitte der Straße. Sie sangen laut mit blechernen Stimmen von der kleinen Ursula und neue ausdruckslose Marschlieder. Es war keine Freude, kein Gefühl in ihrem Gesang.

Die lieblichen Nataschas beruhigten uns. Wir könnten bei ihnen bleiben, solange wir wollten. Sie wollten uns nicht merken lassen, welche Opfer sie mit unserer Beherbergung brachten. Sie hatten Besuch bekommen, und es fehlte an Raum und Lagern. Wir gaben unser Sofa ab und schliefen auf einem Schafpelz auf der Erde. Gretchen, die müde war von der ungewohnten Arbeit im Büro, schlief fest die ganze Nacht. Ich lag neben ihr wach und grübelte nach einem Ausweg für uns. Wenn wir nur erst unsere Marie bei uns hätten, würden wir zu dritt irgendwohin fliehen.

In unsere Wohnung war kein verdächtiger Besuch mehr gekommen. Wir gingen wieder hin und blieben dort. Nur manchmal, wenn uns abends Angst überfiel, daß man uns diese Nacht suchen werde, flüchteten wir zu unseren Wohltäterinnen, die uns immer freundlich aufnahmen. Ludmilla lag immer noch krank im Bett. Die klinischen Untersuchungen waren nicht gut ausgefallen. Zur nötigen Kur fehlten die Mittel. Sie selbst und die beiden Freundinnen trugen diese schwerste Sorge wie ihre vielen kleinen mit der heiteren Geduld frommer Menschen. Wir hatten uns allmählich über die Schwierigkeit der fremden Sprache hinweg angefreundet, und ihre immer gleich bleibende Hilfsbereitschaft und Sanftheit beruhigte uns tief. Als wir gingen, hatten wir das beruhigende Gefühl, jederzeit wiederkommen zu können, wenn es nötig werden sollte.

Es wurde Herbst. Wird unsere Arme, unsere Liebste nicht frieren in den kalten Gefängnismauern? Ich schickte ihr eine wattierte Jacke, warme Strümpfe und Schuhe. In den Strumpfspitzen schickten wir ihr kleine Briefchen. Nach einer Woche bekamen wir die getragenen Strümpfe mit gefüllten Spitzen zurück. Trostworte, Zärtlichkeiten, vorsichtige Andeutungen, nichts Verfängliches für den Fall, daß die geheime Post einmal entdeckt werden sollte. Wir schickten graues Leinen und viel buntes Stickgarn, damit sie sich mit einer Handarbeit zerstreut.

An den Donnerstagen stand man nicht mehr in dem weiten Hof, sondern in einer geordneten Reihe vor dem Gefängnistor. Es wurde schon kalt und die Abende lang. Einmal kam eine Frau. Sie sei soeben aus dem Gefängnis entlassen worden und habe Marie versprochen, daß ihr erster Weg zu uns sei, um ihre Grüße zu bringen. Die Zellen seien geheizt, das Essen mit den wöchentlichen Zugaben von draußen erträglich, aber die Sehnsucht nach Freiheit unerträglich. Auf einem Handtuch hatte Marie mit dünnem schwarzen Zwirn gestickt:»Könnt ihr mir denn nicht helfen, ich vergehe vor Sehnsucht und Qual. «Auch wir weinten heiß vor Sehnsucht und Qual.

Ich ging ins Generalkommissariat, um noch einmal mit dem Rechtsanwalt Baumgärtel zu sprechen. Er arbeite nicht mehr hier und werde bald nach Deutschland versetzt werden. Ich bat ihn durch einen gemeinsamen Bekannten, ihn in seiner Privatwohnung aufsuchen zu dürfen. Er lehnte ab, mich zu empfangen. Ich hatte kurz vorher den früheren Direktor des Kaunaer Deutschen Gymnasiums um eine Unterredung bitten lassen und ebenfalls eine abschlägige Antwort erhalten. Ein feiges Volk, die Deutschen.

Ich ging in die Privatwohnung des mir bekannten litauischen Kriminalbeamten. Ich wollte ihn ohne vorherige Anmeldung aufsuchen und um seine Vermittlung bei der Gestapo bitten. Sein Haus war verschlossen.»Da können Sie lange klingeln und klopfen«, sagten die Nachbarn,»er ist nämlich seit einigen Wochen verhaftet.«

Da ließ ich alle Vorsicht und ging selbst in das Schrekkenshaus der deutschen Polizei, in das ich schon in den ersten Kriegswochen so oft und so vergeblich gegangen war. Im Gang saß der frühere Schüler. Er nahm diesmal nicht die Hand, die ich ihm reichen wollte, sondern sagte nur halblaut und sehr schnell:»Wir wissen Bescheid. Sie können nichts bessern, gehen Sie schnell wieder fort!«Ich ging.

Ich hatte jetzt mehr Privatschüler und gab meine Stunden korrekt und gewissenhaft. Keiner merkte mir die Sorgen an. Manche Tage vergingen mit der Besorgung von Holz und Kartoffeln. Weit draußen in einem Vorort sollten Kartoffeln in einem Waggon angekommen sein. Als ich hinkam war es schon dämmerig geworden. Die Waggons standen offen. Leute luden gefüllte Säcke auf Kinderwagen und Fuhrwerke. Ich vereinbarte mit einem Fuhrmann, meinen Sack mit zur Stadt zu nehmen. Doch als ich mich daran machen wollte, ihn zu füllen, verwehrte es der Bahnbeamte. Es sei zu spät. Er zog den Waggon zu. Man gab nichts mehr ab.

Ein Trupp grauer Gefangener zog langsamen Schrittes hinter den Bahnschienen vorbei. Sie trugen einen toten Genossen zu Grabe. Es fing an zu regnen. Die Tränen strömten mir aus den Augen. Ich weinte über den toten fremden Russen, die Bosheit der Menschen, aus wilder Sehnsucht und Verzweiflung.

Ende Oktober. Wir saßen abends in unserer Stube und taten nichts, waren traurig und unruhig. [Da] kamen zwei junge Mädchen zu uns, mit einem Gruß von Marie! Sie seien einige Tage wegen Übertretung des Tanzverbotes verhaftet und mit Marie in einer Zelle gewesen. Sie hätten sich schnell miteinander angefreundet, hätten zusammen gespielt und gespaßt und seien sehr lustig gewesen. Marie hoffe, auch bald entlassen zu werden. Dann wollten sie ihre neue Freundschaft weiter pflegen. Sie sei gesund und fröhlich gewesen. Der Besuch dieser strahlenden, hübschen Mädchen belebte und tröstete uns.

Als sie fortgegangen waren, holte Gretchen das Büchschen mit dem chinesischen» Zitterspiel«. Sie warf die elfenbeinernen dünnen Stäbchen zu einem Häufchen auf den Tisch, und wir versuchten mit einem zierlichen Häkchen eins nach dem andern herauszuziehen, ohne die übrigen dabei zu berühren. Wir spielten und sprachen von unserer Liebsten, unserer Marie, die sich nach uns sehnte, wie wir uns nach ihr.

Am folgenden Donnerstag stand ich ruhiger als sonst in der Schlange der Wartenden vor dem Gefängnis. Die Mädchen hatten viele Einzelheiten erzählt, von den verschiedenen Wärterinnen, den guten, die die Vertrauten der Gefangenen waren, und den bösen, vor denen man seine heimlichen Beschäftigungen versteckte. Ich hatte auf dem Weg zum Gefängnis noch Äpfel gekauft und in die Strumpfspitzen wieder ein tröstendes, zärtliches Briefchen geknäult. Endlich kam ich an die Reihe zur Registration.

«Maryte Holcmanaite – H, H, so eine ist bei uns nicht.«—»Vielleicht falsch registriert. Sehen Sie mal bei Ch nach oder bei G.«[46] —»Nein, ist nicht da. «Er sah sich mit einem andern Beamten bedeutungsvoll an.»Gehen Sie zur Inspektion, fragen Sie dort. «Der Inspektor war mürrisch:»Gehen Sie zur deutschen Polizei.«

Wieder in das verhaßte, weitläufige Gebäude. Ich ließ mich bei Stütz melden, wurde sofort eingelassen. Ein junger brünetter Mann in schwarzer Uniform. Das Hakenkreuz der Armbinde mit einem schwarzen Seidenband sauber aufgenäht. Er saß am Schreibtisch. Ich stand.»Ihre Tochter, ja, die ist fort.«—»Fort? Wo ist sie? Verschleppt? Ist sie tot?«—»Ich werde mal telefonieren.«

Er ließ sich verbinden und sprach mit einer anderen Stelle, sprach von ganz anderen Dingen, mit vielen unverständlichen Ausdrücken. Ich rüttelte den Mann am Arm, flehte.»Sagen Sie doch schneller, wo sie ist. Martern Sie mich nicht länger. «Er ließ sich nicht stören, sprach noch lange weiter, dann hängte er ab, sah mich an.

«Ihre Tochter ist tot. – Das war doch eine gefährliche Kommunistin, und ihr Vater ein Jude. Jetzt wird mit allen Juden hier aufgeräumt. Wir selbst beschmutzen uns nicht damit, dazu haben wir die Litauer. Im Reich haben wir das bis jetzt versäumt. Auch dort wird keiner übrigbleiben. Die Halbjuden werden nicht gleich behandelt, aber die gefährlichen, die müssen weg.«

Es kamen noch einige in das Zimmer. Ein dicker Bote in brauner Uniform schüttelte den Kopf und sagte:»Ja, ja, arme deutsche Frau. «Ich sah die Männer vor mir, sah sie an:»Mörder! Ihr seid die Mörder. «Stütz nahm den Revolver, der auf dem Schreibtisch gelegen hatte und steckte ihn in das Futteral an seinem Gürtel.»Ich rate Ihnen, das nicht noch einmal zu sagen. Wie ist Ihre Adresse? Ich werde in den nächsten Tagen mal zu Ihnen kommen, vormittags gegen halb zehn Uhr.«

Ich ging nach Hause, das volle Körbchen mit den Donnerstagsgaben am Arm, trockenen Auges, stellte mein Körbchen in die Küche und stand. Nach einer Stunde kam Gretchen aus dem Dienst. Wir weinten nicht, sprachen nicht.

Der Tag ging zu Ende, und ein neuer [kam]. Gretchen ging wie immer in ihren Dienst, ich ging zu meinen Schülern. Wir sprachen mit niemandem von dem Entsetzlichen, nur Ludmilla und [die] Nataschas wußten es. Wir standen auf, aßen unser Stück Brot, stellten mittags Kartoffeln auf den elektrischen Kocher, legten uns abends in unsere Betten im gemeinsamen Zimmer. Soll er nur kommen, der Stütz. Wir werden uns nicht mehr verstecken. Mag er uns holen. Sie ist fort – fort. Wir wollen auch fort sein. – Er kam nicht.

 

Die Tage wurden kürzer und dunkler. Im November ging ich ins Stadtkommissariat. Cramer hatte den Frauen jüdischer Männer gedroht, wenn sie sich nicht sofort scheiden ließen, werde er sie ins Ghetto stecken. Es war dabei gleichgültig, ob die Männer geflohen waren oder im Ghetto lebten oder tot waren. Ich hatte mich bis jetzt nicht zu dieser schändlichen Komödie entschließen können, ging nun aber doch. Eine Beamtin notierte die Daten. Am nächsten Tage bekam ich ein Zettelchen mit Schreibmaschinenvordruck, bekam einen Stempel mit Vermerk in meinen Paß und zahlte fünf Mark. Damit war die» Scheidung «vollzogen.

In das Übersetzungsbüro war eine frühere Mitschülerin Gretchens [namens] Robaschenski gekommen, um ein Gesuch an Jordan schreiben zu lassen, in dem der Vater Robaschenski mit seinen beiden Töchtern bat, in der Stadt wohnen bleiben zu dürfen. Frau Robaschenski, Protestantin, aber jüdischer Abstammung, war nicht ins Ghetto umgezogen. Auf eine Anzeige war ihr Fall bekannt geworden. Eines Tages erschien die Polizei und verlangte, daß nicht nur die Frau, sondern auch der» arische «Mann, weil er sich nicht habe scheiden lassen, und die Mischlingstöchter binnen drei Tagen ins Ghetto zu ziehen hätten. Das Gesuch wurde von Jordan abschlägig beschieden.

«Auf, ins Ghetto«, rief die ältere Tochter mit bitterem Hohn. Sie packten in Eile ihre Sachen, rüsteten [für] den Umzug, aber in der letzten Nacht trafen sie eine andere Entscheidung. Am Morgen fand man die vier Menschen tot in ihrer Wohnung. Sie hatten sich mit zwei Revolvern erschossen. Der Vater die jüngere Tochter und dann sich selbst. Die ältere, ein selten ernstes, charaktervolles Mädchen vor dem Selbstmord die Mutter. Die Tragödie dieser Familie – Mischehe mit halbwüchsigen, deutsch erzogenen Töchtern – , die in ihrer großen Verbundenheit manche Ähnlichkeit mit uns hatte, machte nicht nur uns tiefen Eindruck. Auch in der Stadt wurde sie erregt besprochen und die Härte und Willkür Jordans gemißbilligt.

Ich lag die langen Nächte hellwach. Jeden Augenblick konnten sie kommen und uns holen. Wir kannten nun schon ihre rohen Gestalten, brutal und weichlich zugleich, ihre harten, lauten Stimmen. Sie würden kommen, uns holen, quälen und Schluß machen, ein Ende unserem Leid. Fort. – Neben mir hörte ich Gretchen tief und sanft atmen. Jeder Atemzug ist Leben. Hier schläft meine Kleine lebendig, unversehrt.

Natascha Feodosewna ließ mir einmal durch Ludmilla sagen, ich solle nicht vergessen, wie reich ich doch noch mit meinem Gretchen sei. Sie hatte, ohne daß wir davon gesprochen, meine nächtlichen Qualen mitgefühlt und mitgelitten.

Am Tage war alles einfacher. Wir beschlossen, daß Gretchen allein nach Deutschland flieht. Es war nicht schwer, einen Soldaten zu finden, der bereit war, sie in seinem Lastwagen über die schwach kontrollierte Grenze zu nehmen. Wir trafen Vorbereitungen, aber es war uns nicht ernst. Schließlich sprachen wir nicht mehr darüber.

Die deutsche Armee ging mit Siegesschritten tief nach Rußland hinein. Noch einige Tage, und sie werden Leningrad eingenommen haben oder vielleicht vorher Moskau. Sie sind die ewig siegenden Eroberer. Die Welt sah es mit Staunen und Bewunderung. Die deutschen Soldaten brüsteten sich. Die Länder, in die sie schreiten, legen sich ihnen zu Füßen. Sie beschlagnahmen die Ernten, plündern die Warenlager der Städte, schlagen die Wälder, versklaven die Bevölkerung. Sie überraschen die Völker mit einem fertigen, bis ins kleinste ausgeklügelten Verwaltungssystem, das sofort in Kraft gesetzt wird. Sie sind unwiderstehlich, und dennoch, dennoch – von Anfang an war zu fühlen, daß dieser blendende Aufbau einen Konstruktionsfehler hatte. Es fehlte etwas in seinen Maßen. Dem Fundament war nicht zu trauen. Der hörige Glaube an die Unfehlbarkeit des Regimes, die maßlose Überheblichkeit gegenüber allen anderen Völkern und nicht zuletzt ihr wahnwitziger Antisemitismus – aus dem allen konnte und konnte am Ende nichts Gutes hervorgehen.

So warteten wir nur auf die Zeit, in der das offenbar werden würde. Die Oberschwester eines Lazaretts, die mir meine Pelzjacke abkaufen wollte, zog sich schließlich vom Kauf mit der Begründung zurück, daß Deutschland noch im Herbst den Krieg gewinnen würde und sie den Pelz in ihrer süddeutschen Heimat nicht nötig haben werde. Damals konnte sich noch niemand vorstellen, daß schon der Winter die ersten großen deutschen Niederlagen bringen würde, von denen Deutschland sich nicht wieder erholen konnte. Und doch war uns schon gewiß, daß der Zusammenbruch kommen würde. Wir wußten uns in dieser Hoffnung einig mit den Freunden und Geschwistern in der Heimat. Wir bekamen von dort spärliche, verängstigte Nachrichten, Todesanzeigen im Felde gefallener Freunde. Ein Sohn meiner Schwester war vor Leningrad gefallen, der andere hatte sich die Füße erfroren. Er lag monatelang schwerkrank im Lazarett.

Der Winter hatte schon so früh mit eisiger Kälte eingesetzt, daß die Bauern Kartoffeln und Gemüse noch nicht geerntet und eingemietet hatten. Ein großer Teil erfror und verfaulte auf dem Felde. Wir standen stundenlang vor den offiziellen Geschäften, wo es Kohl und rote Rüben zu den festgesetzten, niedrigen Preisen gab. Wir standen abwechselnd, weil es für einen zu kalt auf dem zugigen Savanoriu-Prospekt war. Man stand und stand geduldig in der langen Reihe und hörte das Geschwätz der Weibchen an, die mit derselben Ergebenheit warteten, wie sie den Freitod der Familie Robaschenski als unfromm verurteilten und über die schrecklichen Geschehnisse sprachen, die sich im Ghetto ereignet hatten.

Anfang September begann die vollständige Ausrottung der Juden in der litauischen Provinz. Es wurde dabei nach einem bis ins kleinste ausgearbeiteten Plan vorgegangen, so daß in allen Landstädten dieser grauenvolle Vernichtungsprozeß auf die gleiche Weise abrollte.

Deutsche Polizei warb unter der litauischen Land- und Kleinstadtbevölkerung um Partisanen, Henkersknechte ihrer harmlosen Mitbürger, mit denen sie ihr Leben lang zusammengelebt hatten. In den Landstädtchen hatten Litauer und Juden trotz vieler kleiner Spannungen im besten Einvernehmen gelebt. Die Juden waren Handwerker, Kaufleute, Unternehmer, Gastwirte, Ärzte und bildeten einen wichtigen Bestandteil des wirtschaftlichen Lebens. Die litauischen Beamten pflegten gute Beziehungen zu den tüchtigen jüdischen Landärzten, Advokaten, Ingenieuren, und die Litauer rühmten sich, daß es in ihrem Lande niemals Pogrome wie in Rußland und Polen gegeben habe.

Jahrelange systematische Wühlarbeit seitens des nationalsozialistischen Regimes hatte den Boden bereitet. Alles, was sich im Zeichen des sich vorbereitenden Krieges an Unebenheiten, Schwierigkeiten des Lebens, Teuerung und Arbeitsnot entwickelte, alles wurde den Juden als Ursache zugesprochen. Jetzt sei der Tag der Rache gekommen, peitschte die Propaganda die dunklen Gemüter auf, der Augenblick, da man sich am Besitz der Juden, der bei vielen ein Anlaß des Neides gewesen war, schadlos halten konnte. Es meldeten sich die Schlechtesten der Bevölkerung, die Faulen, die Tunichtgute, die Beutegierigen. Die Deutschen versprachen den Partisanen reichen Anteil an der bevorstehenden Beute und gaben ihnen zur Ermunterung Schnaps in großen Mengen. Der Akt konnte beginnen.

Man drang in die Wohnungen der Juden ein und trieb alle Bewohner aus den Häusern auf den Marktplatz oder in die Synagoge. Kranke, Säuglinge wurden getragen. Man sagte ihnen, daß sie anderwärts zur Arbeit benötigt und zeitweilig umgesiedelt würden, und hieß sie, die notwendigen Kleidungsstücke mitzunehmen. Auf den Straßen, Plätzen [und in den] Synagogen spielten sich bereits die schrecklichsten Szenen ab. Man schlug die Juden mit Knüppeln und Gewehrkolben, entriß ihnen die herbeigeschleppten Sachen, [trennte] Kinder von Müttern, bespie und verhöhnte sie. Dann wurden sie geschlossen aus der Stadt getrieben.

An vielen Orten hatte man einige Tage vorher jüdische Ingenieure mit Hilfspersonal geholt und sie unter dem Vorwand, Brunnen graben zu müssen, im Walde oder auf freiem Felde breite Gruben ausstechen lassen. Nachdem sie die Arbeit ausgeführt hatten, wurden sie an Ort und Stelle erschossen.

Zu diesen Gruben wurden die Juden geführt. Ihre Bündel mußten sie auf einen Haufen legen und ihre Oberkleidung ausziehen. So wurden sie halbnackt in Partien an den Rand der Gruben getrieben und mit Maschinengewehren erschossen. Zuerst die Kranken, Alten, dann die Kinder und Frauen, zuletzt die Männer. Die Erschossenen fielen in die etwa zwei Meter tiefen Gruben. Verwundete wurden erstochen oder erschlagen.

Das Gemetzel währte an vielen Orten den ganzen Tag. Bevor die Reihe an sie kam, waren die Unglücklichen Zeugen, wie man die anderen abschlachtete. Wenn die Gruben, in denen die Toten in vielen Schichten übereinanderlagen, voll waren, wurden die Juden gezwungen, sie zuzuschütten, nachdem man die Leichen aus» hygienischen Gründen «mit calcium chloratum bestreut hatte. Kleine Kinder wurden lebendig in die Gruben geworfen und verschüttet. Manche Männer setzten sich zur Wehr, sprangen den Exekuteuren an die Gurgel und zogen sie mit in das grauenvolle Massengrab.

Die Exekuteure waren überall litauische» freiwillige «Partisanen. Deutsche Polizei und Wehrmacht leitete und überwachte die Handlung. Wo die Litauer schlappmachten, wurden sie mit Alkohol aufgemuntert. An vielen Orten wurden die Szenen von deutschen Filmakteuren aufgenommen. Bei den Aufnahmen wurde darauf geachtet, daß nur litauische Exekuteure auf die Platte kamen. Die Deutschen bemühten sich später, den Tatbestand zu fälschen, als ob litauische Initiative in» gerechter Volkswut gegen die jüdischen Ausbeuter «die Gemetzel veranstaltet habe.

42Es gab einen relativ humanen deutschen Offizier, Oberst Erich Just, der als Beauftragter des Wehrmachtbefehlshabers Ostland im Baltikum war. Möglicherweise ist aber doch Heinz Jost gemeint, ein allerdings nicht durch seine Milde bekannt gewordener Generalmajor der Polizei. Er war ab März 1942 mit der Wahrung der Geschäfte des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD und des Chefs der Einsatzgruppe A beauftragt. Avraham Tory (S. 251) berichtet, der Ältestenrat des Kaunaer Ghettos habe sich bemüht, mit Jost in Kontakt zu kommen, da er vor dem Krieg mit einigen Juden, die nun im Ghetto lebten, befreundet gewesen sei. Offenbar hoffte man, in ihm einen Fürsprecher zu finden.
43Vgl. Anm. 31, S. 44.
44Die sogenannte» Intellektuellen-Aktion«. Die Erschießungen wurden im IV. Fort ausgeführt. Die Zahl 534 wird in vielen Berichten genannt. Nach dem sog.»Jäger-Bericht «vom 1. Dezember 1941 fielen dieser Aktion sogar 711 Juden zum Opfer.
45Marijonas Senkus
46Da es im kyrillischen Alphabet kein» H «gibt, würde man den Namen» Holzman «in russischer Umschrift mit» G «oder» Ch«(kyrillisch Γ oder Χ) beginnen lassen.