Ostfriesland verstehen

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Ostfriesland verstehen
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Inhaltsverzeichnis

0. Einleitung

1. „Menschen, die aus Deutschland zu uns kommen”

Die Herkunft der Ostfriesen_innen

2. Ubbo, Hermine, Amke und Eske

Namensgebung

3. Filmemacher_innen, Nobelpreisträger und …

Bekannte Persönlichkeiten

4. „Seit Urzeiten …”

Geschlechterverhältnisse

5. „Gottes Herz schlägt auf Platt”

Kirchen

6. „Mit der dritten Generation wächst es sich dann langsam aus”

Plattdeutsch

7. „Schiffe fahren auch nachts auf Ems”

Ostfriesendeutsch

8. „Macht uns die Kinder nicht zu klug”

Bildung, Aus- und Einwanderungen

9. „Heckscheibe mit dem Kopf eingeschlagen”

Kriminalität

10. „Sonst würden wir nicht klarkommen”

Reichtum und Armut

11. „Das ist die neue ‚Miss Ostfriesland’”

Landwirtschaft

12. „Es ist hier alles so schön urig und herzlich”

Tourismus

13. „Meine erste Niederlage nach 36 Siegen mit dem Deutschland-Achter”

Sport

14. „Arvtensoop und updrögt Bohnen kann man nich bi McDonalds holen”

Gastronomie

15. Ostfriesen_innen fahren flott

Individualverkehr

16. Im Sauseschritt zu Werder?

Deutsche Bahn & Co

17. „Ältere Leute, die zum zweiten oder dritten Mal bauen”

Wohnen

18. „Es ist nicht so, dass hier keine Bäume wachsen wollen”

Eine ostfriesische Allergie

19. „Was müssen wir noch alles aushalten?”

Umwelt

20. Innovationstreiberin oder schlechter Scherz?

Meyer-Werft

21. „Langfristig werden die ostfriesischen Inseln und Teile der Küste untergehen”

Bedrohung durch das Meer

22. Ostfriesland am Scheideweg

Schlussbemerkungen

Literaturverzeichnis

Hinweise auf Websites und Filme

Impressum

0.
Einleitung

Reiseführer und Tourismusverantwortliche stellen Ostfriesland gern als Land dar, wo alles noch so ist „wie früher”. Das Land und seine Bewohner_innen aber sind nicht „von gestern”! Dieses Buch will aufzeigen, wie Ostfriesland wirklich ist: Wie leben die Ostfriesen_innen? Was ist ihnen wichtig? Sowohl die liebenswerten Seiten als auch die Probleme werden vorgestellt, Amüsantes und Informatives ergänzen sich und Kritikwürdiges wird nicht verschwiegen. Das Buch richtet sich an die Besucher und Besucherinnen des Landes, Einheimische, Butenostfreesen und Zugezogene gleichermaßen. Manches dürfte selbst denjenigen neu sein, die meinen Ostfriesland zu kennen.

Ostfriesland sei voll von „Käuzen mit einem Schuss Wahnsinn” und die Bewohner_innen seien „eigensinnig”, schreibt der Begründer des Ostfriesland-Magazins, Detlef Hartlapp (2008, 17). Käuze gibt es überall, auch in Ostfriesland. M.E. aber sind die Ostfriesen_innen eher eigentümlich als eigensinnig. Damit meine ich durchaus auch – wie Hartlapp – wunderlich. „Eigentümlich” aber verweist auf „Eigentum” und hierin liegt m.E. der Schlüssel, um den Charakter des Landes und seiner Bewohner_innen zu verstehen. Die Besetzung des einst freien Ostfrieslands durch das Königshaus Hannover ist noch nicht einmal 200 Jahre her und alles andere als vergessen. Nicht, dass die Ostfriesen_innen Fremden gegenüber abweisend wären; bei Entscheidungen, die andere über Ostfriesland treffen, aber sind sie oft skeptisch und bisweilen starrsinnig.

Das ist auch gut so! Wären sie nicht so starrsinnig, gäbe es heute im Rheiderland ein Atommüllendlager und im Oberledingerland würden Flugzeuge der Bundeswehr zu Übungszwecken Bomben abwerfen. Auch heute noch wird den Ostfriesen_innen von Bundes- und Landesregierung etliches zugemutet. Da werden riesige Kavernen unter Wohngebieten angelegt und in der Ems wird gebaggert, „was das Zeugs hält”. In vielerlei Hinsicht könnten die Ostfriesen_innen ruhig ein wenig widerspenstiger sein. Manches aber zeugt auch davon, dass es in Ostfriesland viele Käuze gibt.

Das Buch ist in 22 kurze Kapitel zu unterschiedlichen Themen unterteilt. Sie hängen zusammen, lassen sich aber auch jedes für sich lesen. Für das Schreiben des Buches habe ich nicht nur das Übliche wie Literatur, Originalquellen und Statistiken herangezogen, sondern über mehr als ein Jahr die größte Lokalzeitigung Ostfrieslands, die Ostfriesen-Zeitung, ausgewertet. In mancher Hinsicht kritisiere ich die Zeitung, viele Artikel aber waren absolut lesenswert. Dank sagen möchte ich insbesondere denjenigen, die Fotos zum Buch beisteuerten und nicht zuletzt all denen, die mich während des Entstehungsprozesses mit Rat und Tat unterstützten.

Helga Ostendorf

1.
„Menschen, die aus Deutschland zu uns kommen”

Ostfriesische Identität

Die Ostfriesen-Zeitung schrieb über den Bundesliga-Fußballer Jan Kirchhoff, er sei „halber Ostfriese” (OZ 9.1.2013). Dabei ist Kirchhoff weder in Ostfriesland geboren, noch dort aufgewachsen. Sein Vater stammt von dort, ist aber schon vor der Geburt des Sohnes ins Hessische verzogen. Der Status „Ostfriese” scheint auf ewig vergeben zu werden und sogar vererblich zu sein. Aber wie lange muss jemand ohne ostfriesische Wurzeln im Land wohnen, um dazu zu gehören? Nach den Erfahrungen des Emder Superintendenten der evangelisch-lutherischen Kirche dauert es fünf bis zehn Jahre. Dies dürfte anderswo genauso sein. In Ostfriesland aber geht es um mehr: Es gilt das Eigene zu bewahren und vor fremden Einflüssen zu schützen. Dabei war Ostfriesland immer schon ein Einwanderungsland und ist es auch heute noch.

„Minsken, de ut Düütskland bi uns komen, sünd för uns doch ok totrucken Lüü” (OZ 10.5.2012),

meint Cornelia Nath in einer plattdeutschsprachigen Kolumne (Menschen, die aus Deutschland zu uns kommen, sind für uns doch auch Zugezogene). Diese Abgrenzung hat historische Gründe: Das Königreich Hannover nahm 1815 das Land in Besitz und beraubte es seines jahrhundertealten Rechts auf Selbstverwaltung. Im Folgenden berichte ich von der Herkunft der Ostfriesen_innen und der Geschichte des einst so stolzen Landes. Mir scheint, dass die Abgrenzung zu „Düütskland” in jüngerer Zeit wieder zunimmt.

Die Herkunft der Ostfriesen_innen

Ostfriesen_innen hätten ein bestimmtes Gen, meinte Thilo Sarrazin, ehedem Berliner Senator und Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank.[1] Zudem sei der Intelligenzquotient einiger Völker höher als der anderer. Seine Äußerungen wurden vom Ausschuss zur Beseitigung rassistischer Diskriminierung der Vereinten Nationen verurteilt. Doch Sarrazin scheint auch schlecht informiert zu sein. Untersuchte man die Gene der Ostfriesen_innen käme heraus, dass es sich um eine bunte Mischung handelt.

Ursprünglich siedelten westlich der Ems Friesen_innen und östlich Chauken_innen. Später wanderten Sachsen/Sächsinnen ein. (Die Chauken_innen scheinen irgendwie verschwunden zu sein.). Friesen_innen besiedelten vor allem die Marschgebiete östlich der Ems und die Niedersachsen/Niedersächsinnen die Geest. Seither gab es verschiedene Einwanderungswellen. Im 16. Jahrhundert fand in Ostfriesland eine größere Zahl calvinistischer Flüchtlinge aus den vom katholischen Spanien besetzten Niederlanden eine neue Heimat. Etliche davon kamen aus dem französischsprachigen Wallonien. Französische Familiennamen findet man deshalb häufig. Auch gab es bis 1940 zahlreiche Juden und Jüdinnen. Schon im 14. Jahrhundert sollen aus Italien Menschen jüdischen Glaubens ins Land geholt worden sein. Die erste Synagoge datiert von 1577[2] und in so manchem Stammbaum heutiger Ostfriesen_innen tauchen jüdische Namen auf. Auch aus dem Münsterland wanderten Menschen zu, u. a. nach Westrhauderfehn, Burlage, Flachsmeer und Diele, wodurch der katholische Glaube an Einfluss gewann (Bielefeld 1924, 215). Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen dann die Flüchtlinge aus den Ostgebieten, vor allem aus Schlesien. 1959 stellten sie 10,8% der Bevölkerung (Kurowski 1987, 394). In den 1960er und 1970er Jahren folgten die Arbeiter_innen aus den Anwerbeländern, anschließend die Spätaussiedler_innen aus Osteuropa und einige Asylsuchende aus der ganzen Welt. Auch von den Boat-People aus Vietnam, die zunächst Aufnahme in Norddeich fanden, sind einige geblieben. In den 1980er Jahren wurde Ostfriesland für Senioren_innen aus dem Ruhrgebiet attraktiv, und in den 2000er Jahren siedelten sich wegen der vergleichsweise niedrigen Immobilienpreise viele Niederländer_innen an. 42% der im Landkreis Leer wohnenden Ausländer_inen kommen von dort (OZ 12.6.2013). Der Anteil der Ausländer_innen ist in Ostfriesland dennoch gering: Emden 6,7%, Landkreis Aurich 3,0%, Landkreis Leer 4,3% und Landkreis Wittmund 3,3%. Ostfriesland liegt damit deutlich unterhalb des Bundesdurchschnitts von 9,1% (Regionalstatistik 2011, Tab. 173-41-4).

 

Beharren auf Eigenständigkeit: Der nie verwundene Verrat

„Allen Neuerungen gegenüber ist er [der Ostfriese, H.O.] misstrauisch und vorsichtig, wie er sich auch dem hochdeutsch sprechenden Fremden gegenüber, den er den ‚Düütsken’ nennt, der ‚baben to’t Land herut is’ oder ‚ut’t Fürsteenenland kamen is’, sehr zurückhaltend und abwartend verhält. So neigen die Bewohner Ostfrieslands in dem erst spät dem Verkehre erschlossenen Ländchen zu einem durchaus geographisch bedingten Partikularismus, der sich durch den gesteigerten Verkehr der letzten Jahrzehnte erst langsam zu verwischen beginnt (Bielefeld 1924, 202).”

Diese fast 90 Jahre alte Einschätzung ist durchaus nicht überholt. Zugewanderte aus Nordrhein-Westfalen sind nicht etwa Rheinländer_innen oder Westfalen/Westfälinnen, sondern vorrangig „Düütske”. Eine solche Abgrenzung ist häufiger anzutreffen. Z.B. heißt es auf der Website eines Maschinenbaubetriebes zum Generationswechsel in der Geschäftsführung:

„Wie sein Vorgänger ist er gebürtiger Ostfriese, sodass auch in dieser Hinsicht der Staffelstab weitergereicht wird: Die Leeraner Maschinenbauer bleiben ein bodenständiges, unabhängiges Unternehmen”.[3]

Warum ist es einer Firma, die bundesweit tätig ist, wichtig zu erwähnen, dass der Nachfolger gebürtiger Ostfriese ist? M.E. ging es um mehr als lediglich um Vertrauensbildung: Ein Verkauf eines alteingesessenen Familienunternehmens an einen Fremden, insbesondere an einen „Düütsken” oder gar an einen anonymen Konzern, wäre als Verrat an Ostfriesland empfunden worden. Selbst zu den unmittelbaren Nachbarn gab es noch bis in die jüngste Zeit klare Abgrenzungen. So berichtet die Ostfriesen-Zeitung aus einer Rede von Wilhelm Leeling, Geschäftsführer eines international tätigen Emder Logistikunternehmens und Mitglied des Vorstands der Unternehmensvereinigung „Ems-Achse” (OZ 13.4.2012):

„Vor einiger Zeit sei es für ihn noch undenkbar gewesen, einen Emsländer mit dem Transport von Papier zu betrauen (…). ‚Jetzt arbeiten wir viel mit denen zusammen – alte Tabus gibt es nicht mehr’”,

Eine Firma aus Emden, einer Stadt mit einer langen Tradition im Welthandel, hielt es bis hinein ins dritte Jahrtausend für „undenkbar” mit Unternehmen aus dem benachbarten Emsland zusammenzuarbeiten! Um 1600 soll der Emder Hafen sogar der größte Seehafen Nordeuropas gewesen sein. Nach wie vor ist der Emder Hafen bedeutend und Leer ist (nach Hamburg) sogar der zweitgrößte Reedereistandort Deutschlands. Ostfriesische Unternehmen arbeiten immer schon mit ausländischen Unternehmen zusammen. Von den unmittelbaren Nachbarn aber grenzt(e) man sich ab: vom oldenburgischen Ammerland und dem Cloppenburger Land ebenso wie vom Emsland und selbst von Friesland, das seit 1575 zu Oldenburg gehört. Ostfriesland ist anscheinend tatsächlich eine „besondere Welt” wie Danielzyk/Krüger/Schäfer in ihrem 1995 erschienenen Buch behaupten.

U.a. auf der Grundlage von Interviews in Ardorf, Leer und Holterfehn stellen die Autoren eine „verbreitete Disposition (…) zum Rückzug in eine alltagsweltliche Geborgenheit” fest (S. 279). Das ostfriesische Ethos setze sich aus Selbstbehauptungswillen, Selbstgenügsamkeit und Selbstbewusstsein zusammen. Die Autoren gingen den Entstehungsgründen nach.

Die „Selbstgenügsamkeit” (ebd., 286) sei ein „gemeinsames Band an Alltagserfahrungen”. Die Geestbauern/-bäuerinnen konnten zwar eine bescheidene Autarkie erreichen, waren den Bauern und Bäuerinnen in der Marsch aber unterlegen. Unterhalb der „bäuerlichen Selbstachtung” waren die Moorkolonisten_innen angesiedelt und als weitere benachteiligte Gruppe kamen die Landarbeiter_innen hinzu. Selbstgenügsamkeit sei daher tief in das Ethos sehr breiter Schichten der heutigen Bevölkerung Ostfrieslands eingeschrieben.

Den Selbstbehauptungswillen leiten die Autoren aus der Friesischen Freiheit ab, wobei es im ostfriesischen Parlament (der „Landschaft”, s.u.) historisch weniger um ein – im heutigen Sinne – demokratisches Aushandeln von Interessen ging, als um die Abwehr von Herrschaftsansprüchen des seit dem 14. Jahrhundert aufkommenden Adels. „Freiheit” bedeute für die Ostfriesen_innen daher nicht demokratische Teilhabe, sondern gründe „auf eigenen Besitz und dem freien Umgang mit ihm” (ebd., 282). Die Friesische Freiheit verwandelte sich in einen Selbstbehauptungswillen, der sich nicht in einer nach außen getragenen Widerständigkeit äußerte. Zum Widerstand gegen fremde Mächte war Ostfriesland allein schon wegen des Patts zwischen den Herrschaftsansprüchen des 1464 inthronisierten Grafen von Ostfriesland und der Ostfriesischen Landschaft nicht in der Lage. Ostfriesland fiel in „Ohnmacht” (van Lengen 1987, 56).

Die dritte Komponente, Selbstbewusstsein und Stolz, machen Danielzyk u.a. sowohl bei wohlhabenden Marschbauern und -bäuerinnen als auch bei den Menschen auf den Fehnen aus. Marschbauern/-bäuerinnen hätten einen Hang zur Autonomie, aber auch „Züge des Besonders-Seins” (ebd. 287): Sie grenzten sich von den Landarbeiter_innen und von den Bewohner_innen der Sielorte ab. Selbstbewusstsein und Stolz finden sich ebenso bei den Nachkommen der Moorkolonisten_innen. Deren Herkunft ist nicht eindeutig geklärt. Eilert Ommen (1992, 216) geht davon aus, dass es sich um nicht-erbberechtigte Kinder von Bauern/Bäuerinnen und um Nachkommen von Inhabern_innen kleiner Landstellen handelte. In den Mooren gelang ihnen als Bauern/Bäuerinnen, Torfschiffer_innen, Werftunternehmer_innen und in der Seeschifffahrt ein bescheidener Aufstieg; es sei „das Selbstbewusstsein der einmal zu kurz Gekommenen” (Ommen 1992, 51). Auch wenn die Fehne ebenso wie die Siedlungen der Landarbeiter_innen heute zu Arbeiterdörfern geworden sind, bleibt der Rückbezug zum Besitz: Die „Entfaltungsmöglichkeiten individueller Lebensinteressen auf eigenem Land führen dazu, dass viele Menschen in Ostfriesland Haus und Garten (inkl. Basteln und Heimwerken) zum lebenslangen Hobby erkoren haben” (Danielzyk u.a 1995, 282). „Haus und Garten sind entscheidende Prestigeobjekte” (Ommen 1992, 219).

Auch heute gibt es keine Stimmen oder gar Bewegungen, die dafür plädieren, dass Ostfriesland ein eigener Staat werden solle, aber eine Abgrenzung gegenüber dem, was aus „Düütskland” oder „von oben” kommt, besteht nach wie vor und die „Friesische Freiheit” im politischen Sinne wird durchaus wach gehalten. So veranstaltet die Ostfriesische Landschaft am Pfingstdienstag – dem Tag, an dem das Parlament der „Freien Friesen” tagte – regelmäßig Tagungen oder Ähnliches. Auch an den Tag, an dem die Grafschaft Ostfrieslands ihre jährliche Landesrechnungsversammlung abhielt, wird alljährlich erinnert (10. Mai). Endgültig genommen wurde den Ostfriesen_innen die politische Freiheit 1815, als das Königshaus Hannover das Land besetzte. Abgrenzungen gegen „oben” und dem „Fürstenland” richten sich noch heute vorrangig gegen Entscheidungen aus „Hannover”.

Die Friesische Freiheit

Im Gegensatz zu den übrigen Regionen Europas (mit Ausnahme einiger Gebiete der Schweiz) gab es in Ostfriesland nie eine Feudalherrschaft. Die Friesen organisierten sich in autonomen Landgemeinden. Deren gewählten Vertreter kamen alljährlich am Pfingstdienstag am Upstalsboom in Rahe (nahe Aurich) zusammen, sprachen Recht und schlichteten Streit unter den 27 Provinzen der Frieslande, die in der Blütezeit um 1300 von der Rheinmündung bis zum Land Wursten reichten. Die Entstehung der „Friesische Freiheit” ist nicht eindeutig geklärt. Heute wird sie Karl dem Dicken zugeschrieben, der sie den Ostfriesen_innen 885 als Dank für die Vertreibung der Normannen zugesprochen haben soll. Schon der Einfall der Wikinger hatte um 800 dazu geführt, dass die Friesen zwar verpflichtet wurden, ihr Gebiet zu verteidigen, dafür aber vom Militärdienst auf fremden Territorien freigestellt waren. Eine wesentliche Rolle spielte auch das Erfordernis des Deichbaus. „Wer nich will dieken, mut wieken”, heißt ein alter Spruch. (Wer sich nicht an der Eindeichung beteiligt, muss gehen.) Pest und Sturmflutkatastrophen ließen dieses Ständesystem verfallen und reiche Familien („Häuptlinge”) gewannen die Oberhand. Sie etablierten zwar ein Gefolgschaftssystem, leibeigen aber waren die Menschen in Ostfriesland nie.[4]

Upstalsboom – das Zentrum der Freien Frieslande

Bild: Onno Gabriel

http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ostfriesland_um_1300.png

Die Häuptlinge waren Bauern, die zu Wohlstand gekommen waren. Ihr äußeres Zeichen: Sie konnten sich Häuser aus Steinen anstelle von Lehmziegeln leisten. Noch heute künden „Steinhäuser” von dieser Zeit. Diesen Häuptlingen wurde häufig die Rechtssprechung übertragen. 1430 jedoch kam es zum Widerstand verschiedener Landgemeinden. Sie forderten, auch die Häuptlinge sollten nichts anderes als „gemeine Friesen” sein. Ihr Führer wurde zunächst Enno Cirksena und später sein Sohn Edzard und es kam zu teils kriegerischen Auseinandersetzungen mit anderen Häuptlingen. Vor allem fehlte den Cirksena ein Adelstitel, um z.B. Herrschaftsansprüchen des Bischofs von Münster entgegentreten zu können. Einer der Nachfolger, Ulrich Cirksena, trug Ostfriesland dem Reich als Lehen an und wurde daraufhin 1454 zum Reichsgrafen ernannt – wobei die Urkunde aber nie gefunden wurde und Ulrich Cirksena auch nie vom Titel Gebrauch gemacht hat. Überfälle des Grafen von Oldenburg

„zeigten (…) Ulrich mehr denn je, dass er so rasch wie möglich einen neuen Besitztitel brauchte, der ihn vor solchen Überfällen sicherte. Und der einzig sichere und haltbare, den es gab, war der kaiserliche Lehnsbrief” (Kurowski 1987, 117).

Kaiser Friedrich III ernannte Ulrich Cirksena 1464 (erneut?) zum Grafen. Das Besondere an diesem Lehnbrief war, dass die „Friesische Freiheit” bestätigt wurde:

„’Die freyheitten und gerechtigkeiten die euch von keyser Karl dem Großen, auch anderen Romischen keysern und kunigen geben’ sollten nicht gemindert werden” (Kurowski 1987, 119).

Die Vertretung der Stände Ostfrieslands, die „Ostfriesische Landschaft”, wurde unter napoleonischer Herrschaft aufgelöst. Letztlich hat sie 1815 mit der Inbesitznahme Ostfrieslands durch das Königreich Hannover ihre Funktion als Parlament der (Ost-)Friesen_innen verloren. Als Organisation besteht sie nach wie vor. Heute aber ist sie nach eigenem Selbstverständnis Hüterin der friesischen Überlieferung und nimmt als solche regionale Aufgaben in den Bereichen Kultur, Wissenschaft und Bildung wahr.

Die Entrechtung der Ostfriesen_innen

Als die männliche Linie der Cirksena 1744 ausstarb, machte Friedrich II von Preußen sein Erbrecht geltend, beachtete jedoch die „Friesische Freiheit”. Geholt worden waren die Preußen vor allem von den Ständen der Stadt Emden, die die Vorherrschaft des Fürstentums ablehnten und ihren Hafen wieder zu einem der führenden Europas gemacht wissen wollten. Friedrich II, ließ sich sein Kommen „fürstlich” vergüten, verlangte Geld für die Unterhaltung des Landes und für die Freistellung der Ostfriesen vom Militärdienst. Es gibt sogar die These, dass der Bau des Potsdamer Schlosses Sanssouci mit Geldern aus Ostfriesland bezahlt wurde: Friedrich II hatte den Bau schon seit langem geplant; das Erbe Cirksena gab ihm unverhofft die finanziellen Möglichkeiten dazu.[5] In Ostfriesland setzte mit der Übernahme durch die Preußen ein wirtschaftlicher Aufschwung ein; u.a. wurden Moore urbar gemacht und Land durch Eindeichungen gewonnen. Nicht zuletzt wurde auch der Emder Hafen ausgebaut. Während der Napoleonischen Feldzüge geriet Ostfriesland dann unter französische Besatzung, wurde Holland zugeschlagen und mit der Eingliederung Hollands in das französische Kaiserreich 1810 wurde Ostfriesland französisch. Auch die Ostfriesen wurden nunmehr verpflichtet, in Napoleons Truppen zu dienen. Sie sollen sich aber heftig gewehrt und vielfach ins Ausland abgesetzt haben. Nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft kamen 1813 erneut die Preußen. Nunmehr aber war Ostfriesland den Preußen nicht mehr wichtig. Sie verschacherten es und in Aurich zog eine Hannoveraner „Besitznahmekommission” ein:

 

„Was Ostfriesland seit längerer Zeit gefürchtet hatte, das trat schließlich im Jahre 1815 ein. Der König von Preußen schloß mit dem König von England und Hannover am 29. Mai 1815 einen Ablösungsvertrag. Neben einigen Städten Niedersachsens wurde darin ganz Ostfriesland zu Hannover geschlagen. Dieser Abtretungsvertrag wurde durch alle am Wiener Kongreß beteiligten Mächte anerkannt und in die Wiener Schlussakte vom 9. Juni 1815 aufgenommen” (Kurowski 1987, 380).

„Alle Steuergelder, die früher für das Land mitverwandt wurden, flossen nunmehr in die Generalkasse Hannovers und waren damit verloren. Die ostfriesischen Stände wurden aller Mitspracherechte beraubt” (ebd., 381).

Diese Entmachtung der Stände widersprach der Schlussakte des Wiener Kongresses. Durchsetzen konnte die Landschaft nach langjährigen Verhandlungen aber nur ein Mitspracherecht bei Gesetzen, die ausschließlich Ostfriesland betrafen.

Mit der Annexion Hannovers durch Preußen 1866 wurde Ostfriesland wieder preußisch. In Ostfriesland stieß dies „auf Begeisterung”.[6] Aus der Hannoverschen Landdrostei wurde der Regierungsbezirk Aurich. Mit der Reichsgründung 1871 setzte sich alsbald die kulturelle Verbindung mit Deutschland durch. U.a. wurde in den Schulen nun Hochdeutsch anstelle von Platt oder Niederländisch gesprochen. Seine Selbstständigkeit erhielt Ostfriesland jedoch nicht zurück; es blieb Teil des Landes Hannover, das jetzt eine preußische Provinz war.

Anfang der 1930er Jahre scheint den Ostfriesen_innen der Freiheitswille abhanden gekommen zu sein. Sie ließen sich bereitwillig gleichschalten. 1932 wählten im Regierungsbezirk Aurich 44,2% NSDAP und 1933 im Landkreis Wittmund sogar 71%. Früher als anderswo wurden jüdische Geschäfte boykottiert und die ostfriesischen Städte und Gemeinden meldeten bereits im April 1940, dass sie „judenfrei” seien.[7] Warum nationalsozialistisches Gedankengut gerade bei den Ostfriesen_innen auf so starke Zustimmung stieß, ist wenig erforscht. Möglicherweise erhofften sich einige die Befreiung von der Vormundschaft Hannovers.

Ostfriesland verschwindet von der politischen Landkarte

Auch die Gründung der Bundesrepublik Deutschland brachte die Friesische Freiheit nicht zurück. Ostfriesland wurde 1945 Teil der britischen Besatzungszone und 1946 gründeten die Briten das „Land Hannover”. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes orientierten sich hieran und Ostfriesland wurde Teil Niedersachsens. Im Gegensatz z.B. zu den Nachbarn_innen in der früheren Grafschaft Oldenburg wurden die Ostfriesen_innen nicht nach ihrer Zustimmung gefragt.

1978 verlor Ostfriesland sogar noch die bis dahin eigenständige Verwaltung. Der Regierungsbezirk Aurich wurde mit den Regierungsbezirken Osnabrück und Oldenburg zum Regierungsbezirk Weser-Ems zusammengelegt; 2005 löste Niedersachsen die Regierungsbezirke gänzlich auf. Als sozio-politische Einheit ist Ostfriesland seit 1978 von der Landkarte verschwunden. Die 462.548 Einwohner_innen Ostfrieslands (2010) stellen nur 5,8% der Bevölkerung Niedersachsens. In den letzten Jahren jedoch ist eine (wieder) zunehmende Ablehnung dessen, was aus dem „Fürstenland Hannover” kommt, festzustellen. Dazu bei trägt insbesondere die Umweltpolitik, beispielsweise die Zerstörung der Ems und der rücksichtslose Bau von Gaskavernen. Auch der Umgang mit der ostfriesischen Wirtschaft, die fehlende Bereitstellung von Infrastruktur etc., wird vielfach kritisiert.

Rückbesinnung auf die eigene Kraft?

2007 wurde die Partei „Die Friesen” gegründet. Obwohl sie nur ein paar Dutzend Mitglieder hatte, erreichte sie bei der Landtagswahl ein halbes Jahr nach ihrer Gründung bereits 10.000 Stimmen. Niedersachsenweit waren dies 0,3% und die Partei verfehlte den Einzug in den Landtag deutlich.[8] Im Leeraner Kreistag sowie in den Samtgemeinden Brookmerland und Hesel und der Gemeinde Rhauderfehn konnte sie jedoch je einen Sitz erringen und im Wahlbezirk Leer/Borkum war ihr Stimmenanteil bei der Landtagswahl immerhin 4,5%. Die Bewerbung um einen Sitz im Landtag war von vornherein chancenlos. Dazu hätten selbst sämtliche Wähler_innenstimmen Ostfrieslands nicht gereicht. 10.000 Stimmen, davon die meisten aus Ostfriesland, scheinen mir jedoch Ausdruck gezielten Protests gegen den Umgang der etablierten Landtagsparteien mit ostfriesischen Belangen zu sein. Im Forderungskatalog der Friesenpartei steht an erster Stelle (in etwas ostfriesisch-verquerer Sprache): „Selbstbestimmung unser Tätigkeitsgebiet”. Bei den konkreten Forderungen ist das Reizwort unisono „Hannover”, wobei die Partei explizit auf die Entrechtung Ostfrieslands durch das damalige Königreich Bezug nimmt. Momentan ist es um die Partei eher still geworden. Möglicherweise scheitert sie, weil sie mangels Mitgliedern in sie gesetzte Erwartungen nicht erfüllen kann. Zur Landtagswahl 2013 trat sie nicht an.

Auf ein wieder erstarktes Regionalbewusstsein deuten aber auch andere Entwicklungen hin. 2010 schlossen sich die drei ostfriesischen Landkreise und die Stadt Emden zu einem „Regionalrat Ostfriesland” zusammen. Ziel dieses Regionalrats ist die Förderung und Verstärkung der Zusammenarbeit der Gebietskörperschaften. Vor allem geht es um die „Außenpolitik”:

„Nach außen möchten die beteiligten Kommunen einheitlich als Region auftreten.”[9]

Mit von der Partie sind neben den Gebietskörperschaften für die Region zuständige Abgeordnete des Bundes- und des Landtages sowie ein Mitglied des Europäischen Parlaments. Das Gremium hat bisher zwar mehrere Resolutionen verabschiedet, kann aber wenig bewirken. Zum einen sind interne Rücksichtnahmen auf unterschiedliche Interessen sowohl der politischen Parteien als auch der Gebietskörperschaften unumgänglich, zum anderen mangelt es dem Gremium an Durchsetzungsmacht gegenüber den lokalen „Herrschern_innen”. So wird kolportiert, dass der Leeraner Landrat noch nie an den Sitzungen teilgenommen habe. Geplant war von Anfang an, dass der Regionalrat alsbald von der Bevölkerung direkt gewählt werden solle. Als das Thema „Direktwahl” Mitte 2012 erneut auf der Tagesordnung stand, stellte die CDU-Fraktion – berechtigterweise – die Frage, ob hierzu nicht Beschlüsse der Kreistage notwendig seien. Man kann diese Frage auch noch weiter fassen: Im politischen System der Bundesrepublik ist ein solch zusätzliches Parlament nicht vorgesehen, womit sich sowohl die Frage nach dessen Zulässigkeit als auch nach der Zukunft der Kreistage stellt. Mittlerweile lehnen sowohl die SPD als auch die CDU eine Direktwahl ab. Rückenwind erhält die Perspektive eines „Ostfriesischen Parlaments” aber von anderer Seite.

2010/12 hat das Internationale Institut für Staats- und Europawissenschaften unter Leitung von Prof. Dr. Joachim Jens Hesse ein Gutachten zu den Kommunalstrukturen in Niedersachsen erstellt: Emden solle aufgrund akuter Finanzierungsprobleme und der demographischen Entwicklung seine Kreisfreiheit „überdenken”, der Kreis Wittmund sei wegen seiner geringen Einwohnerzahl kaum überlebensfähig, und die Kreise Aurich und Leer sollten mit Emden zu einem „Ostfriesischen Kernland” zusammenwachsen.[10] Allerdings opponierten die Landräte und der Oberbürgermeister Emdens umgehend. Was auch sollte sie und die Kreistage sowie den Rat der Stadt Emden veranlassen, sich selbst abzuschaffen? Die Geschichte des Föderalismus in Deutschland lehrt: Die Verwaltung wusste immer schon ihre Posten zu sichern. Ich bin daher skeptisch, dass Ostfriesland es schafft, nach 200 Jahren wieder eine eigene Regierung (wenngleich immer noch unter der Oberherrschaft von „Hannover”) zu Stande zu bringen. Ostfriesland wird weiterhin innerhalb Niedersachsens nur eine schwache Position haben. Die Selbstabgrenzung von „Düütskland” bleibt einstweilen ein Zeichen von Hilflosigkeit.