Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik

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Beim Erklären dagegen muss unter Umständen eine lange Kette von Details aneinander gereiht werden; hat sie Lücken, fällt auch die Erklärung in sich zusammen. Andererseits wiederum kann etwa ein Student des ersten Semesters den Sinn von Rousseaus „Emile“ bereits besser verstanden haben als ein Examenskandidat, obgleich der an Fakten mehr weiß als jener; denn der Sinn geht nicht unbedingt durch ein Vielerlei an Wissen auf: Er ist ein Ganzes, das man als solches erfassen muss.

Hermeneutisches Verstehen ist in erster Linie Sinn-Verstehen. Psychologisches Einfühlen, Sich-hineinversetzen in den anderen macht darum nicht das gesamte hermeneutische Verstehen aus; es kann als ein Sonderfall von Verstehen begriffen werden.25 In jenem empathischen Verstehen kann ein Verzeihen mitschwingen: „Ich verstehe dich, und darum bin ich dir nicht böse“. Zu Dilthey ist anzumerken, dass er ursprünglich tatsächlich darauf aus war, den Verstehensakt psychologisch zu fassen, also als Einfühlen. Doch hiervon ist er später abgerückt und hat sich um eine „Geistes“-wissenschaft im engeren Sinn bemüht (Huwendiek 1977, 54f; Gadamer/Boehm 1976, 35): Dilthey verwies auf die Differenz zwischen Seele und Geist (Hufnagel 1976, 13 f); denn Seele ist das Individuelle, Geist das Überindividuelle. R. Broecken macht auf die Ablehnung Diltheys einer psychologischen „Motivspürerei“ aufmerksam, „weil persönliche Motive oft nicht einmal vom Handelnden selbst mit letzter Deutlichkeit durchschaut werden und für die geschichtliche Wirkung auch belanglos sind; hingegen ist ,das Verhältnis der Setzung von Zwecken, die Auffindung von Mitteln und des Handelns‘ ,rational und durchsichtig‘…; diesen Handlungssinn kann also die Geisteswissenschaft mit einiger Sicherheit identifizieren“ (Broecken 1975, 266).

Neben der Unterscheidung zwischen psychologischem Verstehen und Sinn-Verstehen sollten wir eine weitere beachten, auf die ebenfalls Dilthey aufmerksam gemacht hat: die zwischen elementarem und höherem Verstehen (Dilthey 1961 b, 207–213 – siehe Abb. 3). Der zugrunde liegende Sachverhalt ist uns durch die bisherigen Überlegungen schon vertraut geworden; wir können uns darum kurz fassen. Das elementare Verstehen finden wir in unserem alltäglichen Umgang miteinander vor; 49wir verstehen den anderen durch seine Gesten, seine Anrede an uns; wir verstehen unmittelbar, wenn wir jemand sägen sehen, was er tut; und so ordnen wir die einzelnen Töne einer Melodie zu, ohne jene als Einzelne zu hören. Im elementaren Verstehen erfassen wir das menschliche und darum geistige Geschehen um uns herum als solches, ohne uns bewusst um Verstehen zu bemühen; es geschieht mit einer gewissen Selbstverständlichkeit. So wird ein Lehrer das Lachen eines Kindes unmittelbar als solches und als Ausdruck der Freude wahrnehmen.

Lacht das Kind aber immer wieder und beginnt deswegen dem Lehrer als unnormal aufzufallen, dann wird er möglicherweise den Grund des Lachens erfahren und dessen Sinn verstehen wollen. Hieran könnte sich – in einem extrem gedachten Fall – eine ganze Analyse des Kindes, seiner häuslichen Verhältnisse, seiner Lebensgeschichte entspinnen, sodass jener zunächst unscheinbare und „elementar“ verstandene Vorgang des Lachens in dem gesamten individuellen Lebenszusammenhang des Kindes erscheint; dann läge „höheres“ Verstehen vor. Dieses wird also gefordert, wenn der unmittelbare Verstehensakt irritiert wird, weil eben Verstehen ausbleibt, wenn darum ein größerer Zusammenhang notwendig wird, um verstehen zu können.

Der gesamte Verstehenshorizont muss ausgeleuchtet werden, um einzelne Worte, einzelne Handlungen verstehen zu können. Wenn die Anwesenden in einem Gerichtssaal sich bei der Urteilsverkündung erheben, so ist dies nur aufgrund des allgemeinmenschlichen, wenn auch historisch und gesellschaftlich bedingten Zusammenhangs verstehbar. Auch hier muss höheres Verstehen einsetzen. Dieses ist gegenüber dem elementaren Verstehen ein komplizierteres, komplexes Verfahren, das unter Umständen sehr mühsam sein kann – denken wir nur an unser Beispiel mit der „Kritik der reinen Vernunft“; es kann Jahre dauern, dieses Werk in seinem innersten Gedanken und in dessen Ausdifferenzierungen zu verstehen. Oder erinnern wir uns an die Vielschichtigkeit des „Hamlet“; auch die ist nicht mit einem Akt des elementaren Verstehens erfassbar.

Höheres Verstehen baut also auf das elementare auf und stellt einen individuellen oder einen allgemeinmenschlichen (Lebens-)Zusammenhang her. Der Verstehensvorgang bleibt aber beim höheren wie beim elementaren Verstehen im Prinzip immer derselbe: Etwas wird als etwas verstanden. Es leuchtet ein, dass im Rahmen einer Hermeneutik das höhere Verstehen im Zentrum stehen wird. Dabei geht es dann nicht um das Verstehen von flüchtigen Zufälligkeiten, sondern um „dauernd fixierte Lebensäußerungen“, wie Dilthey (1961 a, 319) präzisiert; insbesondere 50in schriftlichen Zeugnissen ist diese Voraussetzung gegeben, weshalb Hermeneutik ein wesentliches Feld in der Textinterpretation hat.

Andererseits wird sich das elementare Verstehen beim (unmittelbaren) Erfassen der Erziehungswirklichkeit als grundlegend erweisen; deshalb sollte es gerade in unserem Zusammenhang beachtet werden. Nehmen wir die andere Unterscheidung zwischen psychologischem und Sinn-Verstehen hinzu, so können wir formal nochmals differenzieren zwischen einem elementaren psychologischen Verstehen (Einfühlen) und einem elementaren Sinn-Verstehen (Erfassen einer Geste, Verstehen eines Wortsinns). Im Bereich des höheren Verstehens scheint es problematisch zu sein, im streng hermeneutischen Sinn mit subjektiver Einfühlung zu operieren; denn die Seelenzustände Shakespeares bei der Abfassung des „Hamlet“ oder das mögliche Gefühlsleben der einzelnen Figuren des Schauspiels interessieren im Grunde nicht und sind auch nicht fassbar; verstanden soll auf der Sinnebene ein Allgemeinmenschliches, ein Objektives werden.26

Wir versuchen, diese Differenzierung in einem Schema zusammenzufassen (siehe unten). Dabei muss uns klar sein, dass es sich nur um Schwerpunkte handeln kann; es gehen die Bereiche „Alltag“ und „Wissenschaft“ ineinander über; auch die in Klammern angeführten Beispiele sind austauschbar und stellen nur Akzente dar.


psychologisches VerstehenSinn- Verstehen
elementares VerstehenAlltag (Lachen)Alltag (Geste, Sprache)
Wissenschaft (Sprache)
höheres VerstehenAlltag (Motive eines einzelnen Handelnden)Alltag (Gebrauchsanleitung)
Wissenschaft Texte, historische Gegebenheiten)

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Für den hermeneutischen Verstehensbegriff halten wir zunächst fest:

Verstehen richtet sich immer auf Menschliches (Geistiges) und zwar auf Handlungen, sprachliche Gebilde und nichtsprachliche Gebilde. Im Verstehen wird ein sinnlich Gegebenes als ein Menschliches und dieses in seinem Sinn erkannt. Sinn-Verstehen hat für eine Hermeneutik größere Bedeutung als psychologisches Verstehen, ebenso höheres Verstehen als elementares.

2.1.2 Die Verbindlichkeit des Verstehens

Wir haben bisher die formale Struktur des Verstehens beachtet. Diese zeigte sich vor allem in ihrem Als-Charakter. Hierbei stießen wir mit unseren Beispielen auf ein wiederkehrendes, inhaltliches Problem. Es besteht darin, inwieweit Verstehen verbindlich ist. Anders ausgedrückt: Wie ist es überhaupt möglich, dass jemand das versteht, was ein anderer hervorgebracht hat?

Genau besehen haben wir implizit die Antwort auf diese Frage schon gegeben. Es war notwendigerweise immer die Rede von einer „Sinn-Ebene“, auf die Verstehen abzielt und auf der es sich abspielt. Wir erinnern uns auch, dass Dilthey sagt, Verstehen sei das Erkennen eines Inneren an dem Äußeren eines Zeichens. Auf dieses „Innere“ kommt es an. Das „Innere“ und die „Sinn-Ebene“ verweisen auf das, was Dilthey als objektiven Geist bezeichnet.27 Wir müssen zugeben, dass wir heute mit einem solchen Begriff im Allgemeinen nur noch wenig anfangen können. Dennoch scheint es hilfreich zu sein, sich mit der Sache auseinander zu setzen, die mit dem „objektiven Geist“ gemeint ist. Von dieser Sache her wird es uns möglich sein, näher auf die Frage einzugehen, wie Verstehen überhaupt möglich sei und wie es Verbindlichkeit erreichen könne.

Ein häufiges Missverständnis liegt darin, dem Wort „objektiv“ die Bedeutung von „absolut“ unterzuschieben. „Absolut“ wird dann in den Zusammenhang von ewiger und allgemein gültiger Wahrheit oder Ähnlichem gebracht. Es muss aber die so genannte absolute Wahrheit von einer objektiven Gegebenheit unterschieden werden. Das „Objektive“ ist nämlich in dem Sinne zu verstehen, dass es dem „Subjektiven“ gegenübersteht. So steht etwa dem subjektiven Verhalten eines Autofahrers die objektive Vorschrift der Verkehrsregeln gegenüber; das bedeutet nicht, dass die in einem bestimmten Land und zu einer bestimmten 52Zeit geltenden Verkehrsvorschriften absolute Gültigkeit besitzen, also immer und überall gelten müssen. Es schließt aber auch nicht aus, dass in unserem Beispiel die objektive Gegebenheit der Verkehrsregeln in Verbindung gebracht wird zu absoluten Maßstäben, etwa insofern, dass man sich auch im Verkehr so zu verhalten hat, dass niemand verletzt und getötet wird. Also: Das „Objektive“ kann in einen „absoluten“ Bereich hineinreichen, ohne mit ihm identisch zu sein. Schematisch können wir uns die Abgrenzung dieser Begriffe in Abbildung 7 verdeutlichen.


Abb. 7: Subjektives – Objektives

 

Mit „objektivem Geist“ ist darum nicht unbedingt eine metaphysische Größe oder ein Absolutes gemeint. Nach dieser Vorklärung stellen wir fest: Hermeneutisches Verstehen ist nur möglich aufgrund des „objektiven Geistes“. Weshalb? Er stellt ein Gemeinsames dar, ein verbindendes Drittes, an dem die einzelnen Subjekte, die konkreten Menschen also, Anteil haben. Dilthey umschreibt dies folgendermaßen: „Jedes Wort, jeder Satz, jede Gebärde oder Höflichkeitsformel, jedes Kunstwerk und jede historische Tat sind nur verständlich, weil eine Gemeinsamkeit den sich in ihnen Äußernden mit dem Verstehenden verbindet; der Einzelne erlebt, denkt und handelt stets in einer Sphäre von Gemeinsamkeit , und nur in einer solchen versteht er.

Alles Verstandene trägt gleichsam die Marke des Bekanntseins aus solcher Gemeinsamkeit an sich. Wir leben in dieser Atmosphäre, sie umgibt uns beständig. Wir sind eingetaucht in sie. Wir sind in dieser geschichtlichen und verstandenen Welt überall zu Hause, wir verstehen Sinn und Bedeutung von dem allen, wir selbst sind verwebt in diese Gemeinsamkeiten“ (Dilthey 1961 b, 146f). Jene „Sphäre der Gemeinsamkeiten“ ist eine Umschreibung für den „objektiven Geist“. Hieran hat jeder von uns Anteil, ohne aber in dieser Gemeinsamkeit ganz aufzugehen. Dennoch stellt dieser „objektive Geist“ etwas Verbindliches für uns dar, da wir nicht beliebig darüber verfügen können; er ist uns 53vorgegeben; wir sind gewissermaßen in diese „Sphäre der Gemeinsamkeiten“ hineingeboren. Sofern wir als Subjekte (= S) Anteil haben am „objektiven Geist“, können wir uns dies an Abbildung 8 veranschaulichen.


Abb. 8: „Objektiver Geist“

Hierfür nochmals ein Beispiel: Wenn Herbert das Wort „BAUM“ ausspricht, dann meint er damit die Sache „Baum“ und nichts anderes, und deshalb kann Kurt ihn verstehen. Beide stehen in der Gemeinsamkeit ihrer Sprache; wir können auch sagen: im Geist ihrer gemeinsamen Sprache. Die von Dilthey herangezogene „Gemeinsamkeit“ erschöpft sich nämlich nicht darin, dass die einzelnen Worte, Gebärden etc. funktionale Zeichen im Sinne einer Informationstheorie wären (Bock 1978, 30 ff); sondern die Worte und Gebärden verweisen auf einen größeren Zusammenhang. So ist „BAUM“ nicht nur ein Signal für die Sache „Baum“, sondern es schwingt beispielsweise mit, welches Verhältnis zur Natur der Sprechende und der Hörende sowie ihre Gesellschaft und ihre Zeit haben. Jede Sprache ist zwar Ausdruck eines bestimmten „objektiven Geistes“, dieser aber geht nicht in Sprache auf. Zum „objektiven Geist“ gehört die Gemeinsamkeit aller Lebensbezüge, die Dilthey mit Wort, Satz, Gebärde, Höflichkeitsformel, Kunstwerk und historischer Tat andeutet, also nicht nur die Sprache.

Gibt es nun die eine Gemeinsamkeit, innerhalb derer sich möglicherweise alle Menschen gleichermaßen verständigen können? Eine Barriere stellen offensichtlich bereits die verschiedenen Sprachen dar. Aber kann man die nicht jeweils übersetzen?

Machen wir ein kleines Experiment und übersetzen das harmlose Wort „Brot“ ins Französische. Der Fall scheint klar zu sein: Es heißt le pain. Bei einem Besuch in Frankreich stellen wir jedoch fest: Le pain ist 54ein Weißbrot und nicht das gewohnte Schwarzbrot; es wird zu den Mahlzeiten gegessen, und man macht keine belegten Brote damit wie bei uns. Wir sehen: Mit pain verbinden sich ganz andere Essgewohnheiten; es verweist auf einen anderen Lebenszusammenhang als den, auf den im Deutschen mit Brot verwiesen wird. Die Worte pain und Brot gehören also nicht einfach austauschbaren „Informationssystemen“ an; sie verweisen vielmehr auf unterschiedliche Kulturräume: auf unterschiedliche Formen des „objektiven Geistes“. Dieser ist also „nur“ der Ausdruck einer bestimmten Kultur und einer bestimmten Zeit; aber umgekehrt müssen wir sehen: Der „objektive Geist“ ist das die Kultur Bestimmende. Denn dass das Wort „BAUM“ die Sache „Baum“ bedeutet und nichts anderes, liegt nicht im Belieben der Einzelnen; dies und alle weiteren Lebensbezüge sind ihnen vorgegeben. Innerhalb dieses Vorgegebenen und Gemeinsamen ist ihnen dann Verstehen möglich.

Bei der Frage nach einer durchgehenden Gemeinsamkeit als Verstehensgrundlage stoßen wir auf eine weitere, fundamentale Schwierigkeit: Der „objektive Geist“ als diese Gemeinsamkeit ist nicht nur kulturbedingt, sondern auch historisch bedingt. „Objektiver Geist“ ist geschichtlich. Wir sahen, dass Dilthey im Hinblick auf das höhere Verstehen von „dauernd fixierten Lebensäußerungen“ sprach. Solche sind Schriftzeugnisse, archäologische Funde, Schulsysteme, die interpretiert und verstanden werden, und sie sind immer etwas geschichtlich Gewordenes . „Alles Geistesleben ist historisch … Jede frühere Gegenwart hat in dem ihr zugemessenen schmalen Spielraum Entscheidungen getroffen, die nicht voraussagbar waren. Dies alles ist nicht mehr umkehrbar (reversibel). Obwohl Strukturgesetze und Entwicklungsgesetze abstrakt herauslösbar sind, hat im historischen alles seine einzigartige Individualität: Menschen, Ereignisse, Gebilde, Institutionen“ (Spranger 1973, 162).

„Leben“ hat sich in den dauernd fixierten Lebensäußerungen, wie Dilthey (1961b, 146) sagt, objektiviert, manifestiert. Alles ist bei den „Objektivationen des Lebens“ „durch geistiges Tun entstanden und trägt daher den Charakter der Historizität. In die Sinnenwelt selbst ist es verwoben als Produkt der Geschichte. Von der Verteilung der Bäume in einem Park, der Anordnung der Häuser in einer Straße, dem zweckmäßigen Werkzeug des Handwerkers bis zu dem Strafurteil im Gerichtsgebäude ist um uns stündlich geschichtlich Gewordenes. Was der Geist heute hineinverlegt von seinem Charakter in seine Lebensäußerung, ist morgen, wenn es dasteht, Geschichte“ (Dilthey 1961 b, 147).

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Aber Geschichte dürfen wir hier nicht so verstehen, dass sie Vergangenes darstellt, das uns heute nichts mehr angeht oder das wir nach Belieben als Kuriosum betrachten können; vielmehr wird Vergangenes im „objektiven Geist“ Gegenwart (Dilthey 1961 b, 151). Im „objektiven Geist“ ist Geschichte gegenwärtig. Wenn wir also unser heutiges Schulsystem in der Bundesrepublik Deutschland verstehen wollen, so muss eine reine Bestandsaufnahme durchdrungen sein von dem Bewusstsein der Herkunft dieser Institutionen; wir werden verwiesen auf die Schulreformen im 19. Jahrhundert, auf die Ansätze des Beginns unseres Jahrhunderts, auf Bestrebungen nach dem Zweiten Weltkrieg usw. All diese Strömungen sind heute wirksam; mit ihnen müssen wir uns auseinander setzen, wenn wir uns entscheiden, ob wir das Schulsystem verändern oder beibehalten wollen. In diesem Sinn spricht G. Picht davon, dass wir für unsere Geschichte verantwortlich sind, zwar nicht im Sinne einer Kollektivschuld, sondern in Form einer Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit, weil diese nicht einfach vorbei ist, sondern bis heute hereinwirkt (Picht 1969).

Im Hinblick auf das Verstehen müssen wir darum festhalten: Es ist Verstehen von Geschichtlichem; denn jenes Gemeinsame, das Verstehen erst ermöglicht, stellt ein geschichtlich Gewordenes dar. Verstehen ist „Einrücken in den Überlieferungszusammenhang“ (Wuchterl 1977, 175). Dilthey interpretierend formuliert Gadamer (1975, 221): Das historische Bewusstsein weiß sich „zu sich selbst und zu der Tradition, in der es steht, in einem reflektierten Verhältnis. Es versteht sich selber aus seiner Geschichte. Historisches Bewußtsein ist eine Weise der Selbsterkenntnis. “

Freilich ist uns dies nicht immer bewusst; aber es gilt auch für elementare Verstehensakte im Alltag wie im wissenschaftlichen Zusammenhang. An der Sprache wird dieser Sachverhalt wiederum am deutlichsten sichtbar. Es gibt ein Althochdeutsch, ein Mittelhochdeutsch, eine Sprache des 19. Jahrhunderts usw. Unsere heutige Sprache kann bei aller Uminterpretation von Bedeutungen und bei allem Wandel des Sprachgeistes davon nicht losgelöst werden. Sie stellt ebenfalls ein geschichtlich Gewordenes dar. Wenn wir darum sprechen und verstehen, bewegen wir uns in diesem geschichtlichen Raum.

Nun ist es für den hermeneutischen Ansatz typisch, dass gesagt wird, Menschliches könne nur vom Menschen, Geistiges nur vom selben Geist verstanden werden. Dilthey kann darum konsequenterweise sagen: „Die erste Bedingung für die Möglichkeit der Geschichtswissenschaft liegt darin, daß ich selbst ein geschichtliches Wesen bin, daß der, 56welcher die Geschichte erforscht, derselbe ist, der die Geschichte macht.“ Diese Bedingung wird erfüllt; denn: „Die Sprache, in der ich denke, ist in der Zeit entstanden, meine Begriffe sind in ihr herangewachsen. Ich bin so bis in nicht mehr erforschbare Tiefen meines Selbst ein historisches Wesen“ (Dilthey 1961b, 278; 151, 261, 277f).

Geschichte kann also nur von einem geschichtlichen Wesen verstanden werden. Dieser Satz beschränkt sich nicht auf die Geschichtswissenschaft, sondern muss auf alles Geschichtliche bezogen werden. „Objektiver Geist“, der geschichtlich ist, wird verstanden, weil der Verstehende ein historisches Wesen ist; wir können sagen: Das Verstehen selbst ist geschichtlich (Ebeling 1959, 244). Aus diesem Grund wird die Hermeneutik auch oft als die „historische Methode“ oder als die „geschichtlich-verstehende“ bezeichnet. Der Gedanke, dass Verstehen geschichtlich ist, wird wohl am konsequentesten von H. G. Gadamer ausgeführt; darauf kommen wir später ausführlicher zurück (2.2.2).28

Es zeigt sich: Hermeneutik muss den jeweiligen Verstehens-Horizont im Hinblick auf den Kulturraum und die geschichtliche Situation erhellen. Um etwa den „Emile“ richtig zu interpretieren, muss ich unter anderem sehen, dass Rousseau ihn gegen die Aufklärung – ohne ihr selbst entkommen zu können – geschrieben hat; dass zu seiner Zeit die Frau mit Selbstverständlichkeit noch eine untergeordnete Rolle spielte; oder dass 27 Jahre nach Erscheinen des „Emile“ die Französische Revolution begann usw.

Verstehen von anderen Menschen und ihren Produkten wird ermöglicht durch den „objektiven Geist“. Dieser aber hängt ab von der betreffenden Kultur und Zeit. Wenn wir also zunächst meinen konnten, durch den „objektiven Geist“ sei eine verbindliche Basis für das Verstehen gegeben, so erweist sich diese wiederum als relativ, weil sie zeit- und kulturbedingt ist. Wir stehen vor der Frage, ob denn ein allgemein gültiges Verstehen möglich ist. Darauf gibt es die klare Antwort: nein. Liegt es dann aber nicht nahe, die Hermeneutik als die verstehende Methode zu den Akten zu legen und uns nach Zuverlässigerem umzusehen? Denn müssen wir für eine Wissenschaft, auch für die Pädagogik, nicht Allgemeingültigkeit fordern? Verlieren wir uns sonst nicht in Subjektivität und bloßen Meinungen? Dies werfen allerdings die Kritiker der Hermeneutik vor. Wir stehen vor dem Kernproblem der Hermeneutik und damit der Geisteswissenschaften.

An dieser Stelle wäre es notwendig, eine Erkenntnistheorie und Logik der Hermeneutik zu entwickeln.29 Wir können jedoch dieses Problem hier nicht lösen und müssen uns mit einigen allgemeinen Hinweisen 57begnügen. So viel kann vorweg gesagt werden: Die Verbindlichkeit des hermeneutischen Verstehens liegt zwischen den Extremen einer (absoluten) Allgemeingültigkeit und einer bloßen Subjektivität. Bedenken wir, dass es gerade die Pädagogik mit konkreten Menschen zu tun hat; auch die Erziehungsreflexion geht von der konkreten Situation aus und ist letztlich für diese da. Der Mensch in seiner Konkretheit kann also nicht übergangen werden. Es fragt sich, ob man dieser anders als durch Verstehen gerecht werden kann. Man könnte fordern, dass wegen des Wissenschaftsideals „Allgemeingültigkeit“ auf Verstehen verzichtet werden muss. Ergebnis könnte allerdings sein, dass der Mensch und die Erziehung auf allgemein gültige Daten reduziert würden, dass es am Ende nicht mehr um lebendige Menschen ginge, sondern um ein Gerippe, das sich aus „allgemein gültigen“ Daten zusammensetzt. Wäre das der Sinn der Pädagogik?

Aber was ist genauer unter Allgemeingültigkeit zu verstehen? Sie ist nach O.F. Bollnow gekennzeichnet durch „ihre Unabhängigkeit von den Besonderheiten des erkennenden Menschen, d. h. ihre Zugänglichkeit und Verbindlichkeit für jedes erkennende Wesen schlechthin“ (Bollnow 1966, 57f). Das schließt ein, dass die Vorgänge oder Dinge, über die Allgemeingültiges ausgesagt ist, wiederholbar sind und zwar völlig identisch; sie sind von jedem jederzeit überprüfbar; dies wiederum setzt voraus, dass sie einer Gesetzesstruktur gehorchen. Physikalische Gegebenheiten etwa können darum allgemein gültig formuliert werden. Wer über den Menschen allgemein gültige Aussagen erhalten will, muss auch bei ihm etwa im Sinne der Physik vorgehen. Doch versuchen wir dann umgekehrt, die so erlangten Gesetzmäßigkeiten auf das Individuum anzuwenden, dann stellen wir fest, dass sich der konkrete Einzelne einer solchen Definition entzieht.

 

Darum noch einmal: Erziehung hat es mit konkreten Menschen zu tun, über die im letzten keine allgemein gültigen Aussagen möglich sind; dieses bestimmte Kind soll erzogen werden, nicht ein „Typ“. Allgemeingültigkeit stellt ein Wissenschaftsideal dar; in letzter Konsequenz wäre zu fragen, ob diesem Ideal der Mensch aufgeopfert werden soll. G. Misch weist „darauf hin, daß der Begriff der Allgemeingültigkeit nicht von vornherein notwendig zum Wesen der Wissenschaft gehöre, sondern aus der besonderen Entwicklung einer besonderen Wissenschaft, nämlich der modernen Naturwissenschaft, entstanden sei und auch in seiner Übertragung auf die Geisteswissenschaft an diesen seinen Ursprung aus dem Wissenschaftsideal der Naturwissenschaft gebunden bleibe. Wo Dilthey daher von Allgemeingültigkeit spreche, 58mache er sich des Rückfalls in eine Position schuldig, die er in Wirklichkeit bereits … überwunden habe“ (Bollnow 1966, 57).

O.F. Bollnow schlägt angesichts dieser Situation vor, den Begriff „Allgemeingültigkeit“ im Rahmen der Geisteswissenschaften fallen zu lassen und im Anschluss an G. Misch die „Objektivität“ als Kriterium der Verbindlichkeit anzuerkennen (Bollnow 1966, 57f). Bollnow versteht dann unter Objektivität „die Wahrheit im Sinn der Angemessenheit einer Erkenntnis an ihren Gegenstand. Wir heben diesen in der Natur der Wahrheit enthaltenen Zug als besonderen Begriff heraus, um in ihm die methodische Seite, das höchste erreichbare Maß an wissenschaftlicher Sicherheit zu betonen“ (Bollnow 1966, 59). Kriterium für die Verbindlichkeit ist hier also nicht die Zugänglichkeit für jeden und zu jeder Zeit, sondern die „Angemessenheit der Erkenntnis an ihren Gegenstand“; von „Objektivität“ kann insofern gesprochen werden, als die Verbindlichkeit des Verstehens nicht vom Subjekt, sondern vom Objekt her bestimmt wird. Freilich kann man nun einwenden: Wer entscheidet darüber, ob das Verstehen angemessen ist oder nicht? Dann aber legt man wiederum den Maßstab der Allgemeingültigkeit an. Aus diesem Dilemma gibt es vermutlich keinen logischen Ausweg. Mit Bollnow kann man nur nochmals auf das Festmachen des Verstehens an der Objektseite verweisen: „Die Objektivität der Erkenntnis … bewährt sich … daran, daß sie auf den Widerstand der Sache selbst stößt, dem sie standhält und der umgekehrt ihr Halt gibt“ (Bollnow 1966, 63).

Wir sahen, dass das Gemeinsame, über das Verstehen erst möglich wird, bezogen ist auf Kultur und Zeit; dadurch wird Verstehen relativiert. Eine weitere Relativierung kann in der Tatsache gesehen werden, dass das Subjekt immer an einer Erkenntnis beteiligt ist; umgekehrt muss jedoch anerkannt werden, dass Verstehen nur möglich ist aufgrund der Subjektivität des Verstehenden. Bollnow (1966, 63–65) sieht darin keine Beeinträchtigung der Objektivität. Aber er unterscheidet zwischen einer „wesensmäßigen“ und einer „vermeidbaren, schlechten“ Subjektivität. Letztere „ist die Subjektivität im Sinne schrankenloser Beliebigkeit und bloßer Befangenheit in sich selbst und die gar nicht zur echten Berührung mit der Sache selbst vordringt.“ Die andere Subjektivität, die „notwendig zum unzerreißbaren Wesen der Erkenntnis gehört, weil es diese allererst ermöglichen hilft“ charakterisiert Bollnow folgendermaßen: Sie ist ein „inneres persönliches Beteiligtsein“, ein „Interessiertsein des Menschen am Gehalt der zu erkennenden Wahrheit“; außerdem müssen, „um die Wahrheit zu ergreifen“, „bestimmte Vorbedingungen auf Seiten des Subjekts erfüllt sein“; und schließlich geht 59„die ganze Einmaligkeit des Subjekts mit in die Erkenntnis“ ein. „Dies ist der Fall …, wo innerste Tiefe des Subjekts nicht nur als auslösende Bedingung, sondern als konstitutiver Bestandteil mit in die Erkenntnis eingeht.“

Wir erinnern uns, dass schon in der Einführung die Erkenntnis als „Akt der Gesamtperson“ bezeichnet worden ist. Außerdem wird die Beteiligung des Subjekts am Verstehen aus der Struktur des Verstehens ersichtlich, da ja diese gerade darin besteht, dass etwas als Menschliches von einem Menschen verstanden wird (siehe Abb. 4). Der menschliche Erfahrungshintergrund des Subjekts geht in das Verstehen mit ein; anders ist Verstehen nicht möglich. Dies bedeutet aber nicht Willkür. Vielmehr führt nach Dilthey das Verstehen aus der Subjektivität heraus in das Allgemeine, wir können auch sagen: in die Intersubjektivität oder in das Überindividuelle. „Das Verstehen erst hebt die Beschränkung des Individualerlebens auf, wie es andererseits dann wieder den persönlichen Erlebnissen den Charakter von Lebenserfahrung verleiht. Wie es sich auf mehrere Menschen, geistige Schöpfungen und Gemeinschaften erstreckt, erweitert es den Horizont des Einzellebens und macht in den Geisteswissenschaften die Bahn frei, die durch das Gemeinsame zum Allgemeinen führt“ (Dilthey 1961 b, 141).

Jetzt wird auch deutlich, weswegen es legitim etwa unterschiedliche Wiedergaben der „Kleinen Nachtmusik“ geben kann; das Spielen ist ein interpretierendes Verstehen, und jeder Dirigent hat seine Auffassung, die nicht psychologisch willkürlich sein muss, sondern durchaus sachlich begründet sein kann. Und der „Hamlet“ oder der Pestalozzi-Text machen uns deshalb Schwierigkeiten im Verstehen, sodass wir nicht sicher sind, ob wir sie ganz und richtig verstanden haben, weil sie nicht zuletzt aus anderen geschichtlichen Zusammenhängen stammen. Auch Gadamer (1975, 276) unterstreicht, dass es beim Verstehen nicht um ein subjektives Sichhineinversetzen in den Autor im Sinne Schleiermachers geht: „Was Schleiermacher als subjektive Interpretation entwickelt hat, darf wohl ganz beiseite gesetzt werden. Wenn wir einen Text zu verstehen suchen, versetzen wir uns nicht in die seelische Verfassung des Autors, sondern wenn man schon von Sichversetzen sprechen will, so versetzen wir uns in die Perspektive, unter der der andere seine Meinung gewonnen hat. Das heißt nichts anderes, als daß wir das sachliche Recht dessen, was der andere sagt, gelten zu lassen suchen … Es ist die Aufgabe der Hermeneutik, dies Wunder des Verstehens aufzuklären, das nicht eine geheimnisvolle Kommunion der Seelen, sondern eine Teilhabe am gemeinsamen Sinn ist.“

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Zusammenfassung: Verstehen ist Verstehen des „objektiven Geistes“. Dieser stellt das Gemeinsame eines historisch bedingten Kulturraums dar, an dem jedes Subjekt Anteil hat. Der „objektive Geist“ ist die Summe der Gemeinsamkeiten von Sinngebungen, aufgrund derer gegenseitiges sinnhaftes Verstehen möglich ist; jene Sinngebungen sind zwar uns als Individuen vorgegeben, aber doch historisch und soziokulturell bedingt, also nicht von vornherein etwas „Absolutes“. Die Verbindlichkeit des hermeneutischen Verstehens ist zwischen zwei Extremen zu sehen: zwischen der (vermeidbaren) Subjektivität einerseits, die durch willkürliche Beliebigkeit und bloßer Befangenheit bestimmt und auf der rein psychologischen Ebene zu sehen ist, und der Allgemeingültigkeit andererseits, die als einseitiges Wissenschaftsideal jede Aussage jedem jederzeit zugänglich sehen möchte. Beide Möglichkeiten scheiden für die Hermeneutik aus. Die Objektivität (im Bollnow’schen Sinn) hingegen erlangt ihre Verbindlichkeit am Widerstand der Sache und durch ihre Orientierung auf der Sinnebene; sie basiert auf der Gemeinsamkeit des „objektiven Geistes“, der geschichtlich und kulturell bedingt ist, und auf der „wesensmäßigen“ Subjektivität.

Daraus ergibt sich folgende Übersicht:


2.1.3 Der hermeneutische Zirkel

Hermeneutik wird als „Kunst der Auslegung“ verstanden. Doch was wir hiervon bisher kennen gelernt haben, sind erst die wichtigsten Grundgedanken. Zum einen zeigte sich das Verstehen in seiner Struktur 61und in verschiedenen Formen; zum anderen erwies sich die Verbindlichkeit des Verstehens gebunden an den Rahmen des „objektiven Geistes“. Mit einer „Kunst der Auslegung“ hat das noch nicht viel zu tun. Die Frage lautet: Worin zeigt sich diese? Es dürfte unmittelbar einleuchten, dass das elementare Verstehen den hermeneutischen Vorgang des Interpretierens nicht ausmacht. Denn im elementaren Verstehensakt wird etwas unmittelbar verstanden, missverstanden oder gar nicht verstanden; mehr Möglichkeiten gibt es auf dieser Stufe nicht; hier gibt es nichts auszulegen.