Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik

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Hermeneutisches Interpretieren und Auslegen setzen erst ein, wo größere Zusammenhänge erfragt werden: also beim höheren Verstehen. Unsere Frage lautet darum anders formuliert: Wie kommt höheres Verstehen zustande? Bei der Beantwortung dieser Frage dürfen wir das bisher Erarbeitete voraussetzen, nämlich die allgemeine Struktur des Verstehens, wonach etwas als etwas in seiner Bedeutung erkannt wird, und die Basis des Gemeinsamen, das durch den „objektiven Geist“ gegeben ist.

Verfolgt man nun die Art und Weise, wie höheres Verstehen vor sich geht, so kann man eine wiederkehrende Bewegung erkennen, die sich allerdings in vielfältig umschreibbaren Möglichkeiten zeigt: Es handelt sich um eine Art Kreisbewegung, und man spricht daher vom „hermeneutischen Zirkel“. Um zu sehen, was damit gemeint ist, betrachten wir ein einfaches Beispiel: Eine junge Mutter merkt, dass sie bei der Erziehung ihrer kleinen Tochter nicht mehr zurechtkommt; sie sucht Hilfe in einem Erziehungsbuch. Wir nehmen an, dass die junge Frau bislang nur unreflektiert erzogen hat mit einem vagen Bewusstsein von dem, was Erziehung ist und soll. In dem Buch werde nun ein differenzierter Erziehungsbegriff entwickelt, um von dorther praktische Hinweise geben zu können.

Uns interessiert hier, was im Hinblick auf das Verstehen geschieht, wenn jene Mutter das Buch ernsthaft liest. Wir können voraussetzen, dass sie einen einfachen Erziehungsbegriff bei der Lektüre mit einbringt, den sie vielleicht so formuliert: „Ich möchte, dass aus dem Kind etwas wird.“ Diesen Vorbegriff, dieses Vorverständnis von Erziehung braucht sie, um das Buch überhaupt verstehen zu können; ohne ihn hätte sie nicht einmal danach gegriffen. Sie wird den Text zunächst von ihrem Vorwissen her auslegen; dann wird sie feststellen, dass Erziehung noch anders gesehen werden muss, als sie bisher gemeint hat: Ihr Vorwissen von Erziehung wird korrigiert. Dadurch aber versteht sie das Buch wiederum besser, angemessener. Ihr eigener Erziehungsbegriff wird erweitert 62und vertieft. Im Übrigen sei „Vorverständnis“ hier mehr im Sinne von Vorwissen oder vorwissenschaftlichem Begriff gebraucht und nicht in der Bedeutung eines existenzialen Vor-Entwurfs, obgleich diese Dimension grundsätzlich stets mit zu denken ist. – Brechen wir hier die Entfaltung unseres Beispiels ab. Wer könnte nicht auch aus eigener Erfahrung diesen Vorgang bestätigen? Dass nämlich mithilfe eines Vorverständnisses ein Text verstanden wird und das Textverständnis das Vorverständnis korrigiert usw. Schematisch halten wir dies in Abbildung 9 fest.


Abb. 9: Hermeneutischer Zirkel, I

Es handelt sich hier nur um ein Beispiel eines hermeneutischen Zirkels, das von einem Vorverständnis ausgeht. Dieses wiederum muss differenziert werden im Hinblick auf ein Vorwissen, das durch Informationen und Interpretationen laufend korrigiert wird, und einem grundlegenden Verstehenshorizont. Von diesem her und auf diesen zu verstehen wir; er macht unsere persönliche und kulturell bedingte Weltsicht aus und verändert sich im Laufe eines individuellen Lebens – sofern überhaupt – nur partiell.

Anhand des Schemas wird die zirkulierende Bewegung augenscheinlich, gleichzeitig aber auch, dass es sich streng genommen nicht um eine geschlossene Kreisbewegung handelt, sondern eher um eine Spirale. Denn die Momente, zwischen denen des Verstehen hin- und herläuft (Schleiermacher), bleiben ja nicht gleich; vielmehr werden sie korrigiert und erweitert. Es wurde darum vorgeschlagen, nicht von hermeneutischem „Zirkel“, sondern von hermeneutischer „Spirale“ zu sprechen (Diemer 1977, 144ff; Klafki 1970, 150). Wir halten dagegen die Benennung 63„hermeneutischer Zirkel“ für vertretbar; denn logisch gesehen scheint tatsächlich ein Zirkel vorzuliegen; außerdem hat man jenen Sachverhalt seit F. Ast und F. Schleiermacher mit „hermeneutischem Zirkel“ bezeichnet. „Das Zirkelphänomen scheint als erster Fichte aufgezeigt zu haben; expressis verbis spricht als erster Ast und im Anschluss an ihn Schleiermacher vom ,hermeneutischen Zirkel‘ bzw. der Zirkelstruktur des Verstehens‘“ (Diemer 1977, 143). Wichtig ist, dass wir den hermeneutischen Zirkel nicht als circulus vitiosus begreifen, also nicht als logischen Kreis, bei dem das zu Beweisende schon in den Voraussetzungen angesetzt ist. Dennoch wird am hermeneutischen Zirkel eine paradoxe Situation des hermeneutischen Vorgehens sichtbar: Es muss nämlich dasjenige, was verstanden werden soll, schon irgendwie vorweg verstanden sein (Broecken 1975, 222). So war in unserem Beispiel ein Vorverständnis von „Erziehung“ notwendig, damit die Mutter das Buch letztlich verstehen konnte.

Schleiermacher setzt dieses Paradox an den Anfang seiner Vorlesung von 1826; sie soll nämlich über die Theorie der Erziehung handeln und beginnt mit dem lapidaren Satz „Was man im Allgemeinen unter Erziehung versteht, ist als bekannt vorauszusetzen“ (Schleiermacher 1966, 7). Wir erwarten eine Abhandlung über Erziehung; stattdessen wird uns gesagt, dass wir schon wüssten, was dies sei. Freilich entfaltet dann die Vorlesung das Phänomen Erziehung und entwickelt eine bestimmte Theorie darüber, sodass wir am Ende wesentlich mehr wissen als am Anfang; es kann auch sein, dass wir uns unter Erziehung etwas völlig anderes vorgestellt haben als Schleiermacher. Trotzdem muss er in gewisser Weise das voraussetzen, was er uns erst verständlich machen will.

An dem Leser, der die Erziehungstheorie Schleiermachers studiert, können wir noch etwas anderes erkennen, was allerdings mit dem hermeneutischen Zirkel gegeben ist: Der Begriff von Erziehung, wie ihn der Leser zunächst hat, und die Schleiermacher’sche Theorie von der Erziehung klaffen weit auseinander. Der Verstehende und der Text des Autors müssen erst nach und nach, oft mühsam in Übereinstimmung gebracht werden, indem sich der Leser den Sinn des Textes aneignet, also zu verstehen versucht.

Doch zunächst besteht eine hermeneutische Differenz zwischen Verstehendem und dem vom Autor Gesagten, und es bleibt letztlich offen, ob es zu einem endgültigen, kongruenten Verstehen kommt, ja überhaupt kommen kann. Wie oft müssen wir feststellen, dass wir einen Autor immer noch nicht richtig verstanden haben, obwohl wir uns 64womöglich schon ganz sicher waren? Natürlich wird der Abstand zwischen meinem Verstehen und dem vom Autor Gemeinten kleiner, doch die Auflösung der hermeneutischen Differenz scheint eher eine Zielvorstellung als eine realisierbare Möglichkeit zu sein. Die hermeneutische Differenz gehört als Strukturmoment zu jeder hermeneutischen Situation (Ebeling 1959, 246). Wo fraglose Übereinstimmung herrscht, gibt es nichts zu verstehen im Sinne des „höheren Verstehens“. Es gibt jedoch auch den hermeneutischen Anspruch, den Autor „besser zu verstehen“, als er sich verstanden hat (siehe 2.1.4).

Die verschiedenen hermeneutischen Theorien versuchen mit diesem Problem jeweils auf ihre Art fertig zu werden. Bei Schleiermacher soll durch grammatische und psychologische Rekonstruktion die Situation des Autors wiederhergestellt werden; für Dilthey liegt die Möglichkeit des adäquaten Verstehens in der Kongenialität des Verstehenden; und nach Gadamer stellt sich das Problem völlig neu, da der Interpret sogar anders verstehen muss aufgrund seiner besonderen hermeneutischen Situation (siehe 2.2.3). Hermeneutische Differenz entsteht durch die „wesensmäßige“ Subjektivität eines vorgegebenen „Textes“ einerseits und eines Interpreten andererseits; eine Annäherung im Verstehen ist auf dem Hintergrund des „objektiven Geistes“ möglich. In Anlehnung an K. Wuchter1 (1977, 165) lässt sich die hermeneutische Differenz schematisch gemäß Abbildung 10 darstellen.

Die Überwindung der hermeneutischen Differenz geschieht in der Bewegung des hermeneutischen Zirkels. Dieser kann aber nicht nur an der Annäherung von Vorverständnis und Text-Sinn nachgewiesen wer-den. Auch innerhalb der Interpretation selbst tritt diese Bewegung des Verstehens immer wieder auf. So erschließt sich unter Umständen der Sinn eines einzelnen Wortes erst aus dem gesamten Satz. Andererseits wird der Satz aber erst klarer, wenn alle Worte verstanden sind. Ebenso können einzelne zentrale Begriffe oft nur aufgrund des ganzen Textes verstanden werden, während der Gesamttext das Verstehen dieser Begriffe zur Voraussetzung hat, sich in seinem Gesamtsinn also erst erschließt, wenn die Begriffe inhaltlich gefüllt werden können. Allgemein kann diese Zirkelbewegung gesehen werden zwischen einem Teil und einem Ganzen oder zwischen einem Besonderen und dem Allgemeinen (Dilthey 1961b, VII, 227, 329). Der hermeneutische Zirkel besteht darin, dass der Teil vom Ganzen her verstanden, korrigiert oder erweitert wird und dass umgekehrt das Ganze sich in gleicher Weise vom Teil her bestimmt. Dies ergibt das Schema der Abbildung 11.


Abb. 10: Hermeneutische Differenz

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Abb. 11: Hermeneutischer Zirkel, II

Als Beispiel eines hermeneutischen Zirkels sei noch das Verhältnis von Theorie und Praxis erwähnt, das insbesondere in der Pädagogik eine Rolle spielt. Erziehungsreflexion (Theorie), die von Erziehungswirklichkeit (Praxis) ausgeht, versucht diese zu verstehen; dabei ergeben sich möglicherweise bestimmte Schematisierungen, allgemeine Einsichten. Diese können umgekehrt der Praxis helfen, sich selbst besser zu verstehen. Die so von der Theorie beeinflusste Praxis kann wiederum Gegenstand einer Theorie werden usw. Hier sei etwa an Pestalozzis Gedanken der Wohnstuben-Erziehung erinnert. Diesen Gedanken hat er aus der Familienerziehung gewonnen und in seine Pädagogik aufgenommen, andererseits aber auch in die Schulpraxis. 66Nun ist wiederum eine modifizierte Schultheorie denkbar, die jenen Wohnstuben-Gedanken mit berücksichtigt.

 

In diesem Zusammenhang sei auf den hermeneutischen Zirkel hingewiesen, der zwischen vorwissenschaftlichem Wissen und Wissenschaft besteht. Tatsache ist, dass jeder Wissenschaftler zunächst vom vorwissenschaftlichen Bereich herkommt und diesen in seine Wissenschaft hineinträgt. Dies wird am unumgänglichen Gebrauch der Sprache am deutlichsten sichtbar; selbst eine Symbolsprache muss von einer vorwissenschaftlichen Sprache ausgehen und umgekehrt immer wieder gedeutet und ausgelegt werden, wie jede andere wissenschaftliche Aussage grundsätzlich auch verstehbar sein muss – dies allerdings nicht in einem populärwissenschaftlichen Sinn. Aber sie muss gedeutet, interpretiert, oft auch angewendet werden können. Wenn der Verstehende ein „reiner“ Wissenschaftler sein soll, dann müsste er – bildlich gesprochen – in seinem Denken eine Trennwand errichten: hier vorwissenschaftliches Verstehen, dort wissenschaftliches. Wo müsste dann die Grenze gezogen werden zwischen wissenschaftlichem und vorwissenschaftlichem Bereich? Wo hört der Verstehende auf, „vorwissenschaftlicher Mensch“ zu sein, und wo fängt er an, „Wissenschaftler“ zu sein?

Ein Missverständnis sollten wir vermeiden: Der hermeneutische Zirkel stellt keine Addition dar. K. Wuchterl (1977, 165) legt dies allerdings nahe, wenn er sagt: „Verstehen geschieht daher stets in einem Zirkel: echtes Verstehen kann sich nur durch Kenntnis aller Umstände einstellen; diese Kenntnis muß aber durch Einzelerfahrungen vermittelt werden, die erst das Ganze aufbauen können.“ Der hermeneutische Zirkel besteht nicht darin, dass beispielsweise innerhalb eines Textes eine Wortbedeutung nach der anderen geklärt und den anderen hinzugefügt wird, dass man dann noch den Textzusammenhang mit dazu nimmt und dann womöglich noch den historischen Kontext. In der Interpretationspraxis wird man selbstverständlich immer wieder auch schrittweise vorgehen und Erkenntnisse zusammenfügen. Dies meint aber der hermeneutische Zirkel nicht, sondern vielmehr jenes gegenseitige Sicherhellen von Wort und Satz, Satz und Wort, Satz und Gesamttext, Gesamttext und Satz etc. Er ist ein Hin- und Herspielen.

Obgleich wir hauptsächlich auf Beispiele aus der Textinterpretation zurückgegriffen haben, sollten wir auch festhalten, dass der hermeneutische Zirkel nicht nur dort vorliegt. Der Hinweis auf das Theorie-Praxis-Verhältnis hat das angedeutet. Ein interessanter Fall eines hermeneutischen Zirkels könnte etwa ebenso zwischen archäologischen Funden und tradierten Erzählungen gesehen werden, auch wenn Letztere 67schriftlich vorliegen. Man denke hierbei an die Ausgrabungen von Troja und Mykene, wobei Schliemann sich an die Ilias und an die Odyssee gehalten hat; durch die Ausgrabungen ergab sich ein neues Verständnis Homers.

Zusammenfassung: Höheres Verstehen verläuft nicht geradlinig von einer Erkenntnis zur nächsten fortschreitend, sondern kreisförmig, wobei das Eine das Andere und dieses das Eine erhellt. Diese Bewegung des Verstehens wird als hermeneutischer Zirkel bezeichnet. Unter dem Gesichtspunkt des methodischen Vorgehens ist es wichtig, sich die Zirkelstruktur vor Augen zu halten. Denn es kann bei der Interpretation notwendig sein, dass man unter Umständen etwas halb oder gar nicht Verstandenes zunächst stehen lässt, um seine Aufhellung von etwas anderem her zu versuchen. Grundlegendes zum hermeneutischen Zirkel findet sich bei J. C. Maraldo (1974).

2.1.4 Hermeneutische Regeln

Mit dem hermeneutischen Zirkel haben wir einen zentralen Aspekt der Hermeneutik kennen gelernt; unsere Frage war, wie denn höheres Verstehen möglich ist und vor sich geht. Hierauf ist der Verweis auf den hermeneutischen Zirkel nur eine Teilantwort. Aber immerhin gibt er Anhaltspunkte für Regeln, die beim höheren Verstehen, bei der Interpretation also, zu beachten sind, und es entsteht die Forderung nach mehr und anderen Regeln, die sich nicht aus der Tatsache des hermeneutischen Zirkels allein ergeben. Der Wunsch nach Regeln ist verständlich, denn so meint man: Hat man klar formulierte Regeln zur Hand, dann kann man diese hermeneutische Methode auch benutzen. Nun lassen sich Regeln zwar leicht „schwarz auf weiß nach Hause tragen“, aber wir sollten nicht übersehen, dass sie – zumindest für sich allein genommen – uns nicht weiterhelfen. Denn sie hängen mit den systematischen Überlegungen, die wir bisher angestellt haben, aufs Engste zusammen: mit dem „Verstehen“, dem „objektiven Geist“ und mit dem „hermeneutischen Zirkel“.

Ohne diesen sachlichen Hintergrund und ohne das damit Gemeinte nachvollzogen zu haben, sind sie nutzlos. Darüber hinaus lässt sich etwa das Gemeinsame, das mit „objektivem Geist“ gemeint ist, nicht methodisch über Regeln herstellen; damit der Interpret daran partizipieren 68kann, sind „Sozialisation“, Erziehung, unter Umständen ein langes Studium, lebenslanges Einleben notwendig. Regeln können dann nur Ausdruck einer anderen Seite des bereits Gesagten sein; sie können oft nur bewusst machen, was ohnehin geschieht, wenn wir „verstehen“. Insofern haben sie ihre Berechtigung und können Hilfestellung für den Verstehensprozess geben. Aber sie können nicht als methodische Instrumente technisch eingesetzt werden, um zu garantierten Ergebnissen zu kommen.

In der Geschichte der Hermeneutik gibt es immer wieder Versuche, feste Regeln der Interpretation aufzustellen; der Zweck von fachbezogenen Hermeneutiken wie in Theologie oder Philologie bestand häufig vorwiegend in der Formulierung solcher Regeln. So stützte man sich beispielsweise im Judentum auf die sieben Regeln Hillels, sprach man im christlichen Raum von regulae oder claves (Schlüsseln) der Auslegung; Schleiermacher formulierte „grammatische“ und „psychologische Kanones“ (Ebeling ,1959 243ff.; Diemer 1977, 59, 120, 162ff; Wuchterl 1977, 174; Betti 1972).

Nach diesem Hinweis auf die Problematik von hermeneutischen Regeln versuchen wir, einige Anhaltspunkte für einen Interpreten zu formulieren. Wir gehen dabei so vor, dass wir einigen Feststellungen, die sich aus unserer bisherigen systematischen Darstellung ergeben, Fragen anschließen, die sich ein Interpret stellen sollte. Diese dienen dem Gesichtspunkt, hermeneutische Objektivität (im Sinne Bollnows – siehe 2.1.2) anzustreben. Die so als Fragen formulierten „Regeln“ wollen nicht auf Textinterpretation eingeschränkt werden:

Verstehen ist Erkennen von etwas als etwas Menschliches und von dessen Bedeutung. – Was bedeutet das zu Verstehende; was meint sein Urheber damit? In welchem größeren Bedeutungs-, Sinn-Zusammenhang steht es? Zu welchem Anlass und Zweck wurde es geschaffen; welche Zielsetzung hat es? (Broecken 1975, 261).

Hermeneutisches Verstehen ist von „Erklären“ zu unterscheiden. –Soll etwas in seinem Sinn, in seiner Bedeutung erfasst werden, oder soll es zurückgeführt werden auf seine Ursachen oder Gründe? Soll etwa nur eine Warum-Frage beantwortet werden?

Psychologisches und Sinn-Verstehen sind zu unterscheiden. – Lasse ich mich bei dem Versuch zu verstehen von meinen Gefühlen leiten, oder orientiere ich mich an der Sache? Will ich überhaupt verstehen, oder habe ich Aversionen gegen das zu Verstehende?

Verstehen ist möglich aufgrund eines Gemeinsamen, aufgrund des „objektiven Geistes“. – Wird der Sinn aus dem zu Verstehenden herausgeholt, 69oder trage ich nur etwas hinein, was von mir, aber nicht von der Sache stammt? Betti (1972, 14f) verweist auf den Kanon der hermeneutischen Autonomie des Objekts: „Sensus non est inferendus sed efferendus.“

„Objektiver Geist“ ist kulturell bedingt. – In welchem kulturellen Kontext steht das zu Verstehende? Welche kulturellen Erscheinungen können helfen, es zu erhellen? Beispielsweise: In welchen ökonomischen Verhältnissen lebte ein Künstler des 17. Jahrhunderts? Inwieweit war Shakespeare politisch abhängig?

„Objektiver Geist“ ist geschichtlich bedingt. – Welchen historischen Kontext hat das zu Verstehende? Wie ist es geworden?

Das Verstehen selbst ist geschichtlich. – Was legen wir aufgrund unserer heutigen Situation in das zu Verstehende hinein? Wie verstehen wir heute patriotische Äußerungen, die vom Anfang dieses Jahrhunderts stammen, nachdem der Missbrauch des Patriotismus im Dritten Reich unser Verhältnis zu ihm beeinflusst hat?

Hermeneutisches Verstehen kann zwar nicht dem Ideal der „Allgemeingültigkeit“ gerecht werden; es kommt jedoch der Forderung nach Objektivität nach. – Gebe ich etwa wegen des Ideals der Allgemeingültigkeit den eigentlichen Sinn einer Sache auf? Wie verstehen Andere außer mir das zu Verstehende? Welche sachlichen Argumente haben sie? Was könnte ein anderer gegen meine Auffassung von einem zu Verstehenden einwenden? Bin ich offen für Gegenargumente? „Offenheit für den anderen schließt … die Anerkennung ein, daß ich in mir etwas gegen mich geltend mache“ (Gadamer 1975, 343).

Wesensmäßige Subjektivität beeinträchtigt nicht die Objektivität der Interpretation; sie ist von der vermeidbaren Subjektivität zu unterscheiden. – Welches Vorverständnis und welches Vorwissen bringe ich in den Verstehensprozess ein? Wie verstehe ich den Sachverhalt – möglicherweise im Gegensatz zum Autor? Hindert mich mein Vorverständnis am Verstehen? Verurteile ich etwas oder jemanden aufgrund eines Vorurteils? Versuche ich redlich zu verstehen (Diemer 1977, 239)? Kann ich mein Urteil „Ich verstehe es so“ sachlich begründen?

Höheres Verstehen verläuft in einer Zirkelbewegung. – Wie kann der Teil aus dem Ganzen, das Ganze vom Teil her verstanden werden? Welchen Sinn erhält eine Einzelheit vom Gesamtsinn her; welcher Sinn ergibt sich für das Allgemeine, wenn ein Einzelnes in bestimmter Weise verstanden werden muss? (Gadamer 1975, 186).

Aus dem Abstand zwischen Interpreten und zu Verstehendem ergibt sich eine hermeneutische Differenz. – Liegt ein entdeckter Widerspruch 70in dem zu Verstehenden selbst, oder ergibt er sich aus meinem ungenügenden Verstehen? Lehne ich möglicherweise einen Autor als „dumm“ ab, nur weil ich ihn nicht verstehe? Kann ich Unverstandenes und auch Widersprüche zunächst bestehen lassen und vom Ganzen her aufzulösen versuchen?

Die hier formulierten Fragen wollen nicht mehr und nicht weniger, als einem Interpreten Anhaltspunkte geben, wie er der zu verstehenden Sache so weit wie nur irgendwie möglich gerecht werden kann. Wir sollten dabei nicht verkennen, dass die aufgeführten Fragen nicht vollständig sind und dass sie sich überschneiden und gegenseitig bedingen. Wir erheben darum keineswegs den Anspruch auf eine geschlossene Regel-Lehre.

Eine Zusammenfassung von hermeneutischen Regeln finden wir in den vier Kanones, die E. Betti (1972, 14ff, 19f, 53f) formuliert hat:

1. „Kanon der hermeneutischen Autonomie des Objekts“,

2. „Kanon der Totalität und des sinnhaften Zusammenhangs“,

3. „Kanon der Aktualität des Verstehens“ und

4. „Kanon der hermeneutischen Sinnentsprechung (Sinnadäquanz des Verstehens)“.

Die Hermeneutik Bettis ist stark an Schleiermacher und Dilthey orientiert und daher umstritten (Gadamer 1975, 482 ff; Broecken 1975, 232). Bettis Regeln zeigen, dass auch heute versucht wird, allgemeine Regeln der Interpretation aufzustellen. Wir lassen es bei diesem Hinweis bewenden und heben unabhängig davon nochmals hervor, wie schwierig und fragwürdig es ist, sich auf hermeneutische Regeln allein zu stützen; Hermeneutik ist keine technische Methode. Im Zusammenhang mit der Textinterpretation im Rahmen der Pädagogik kommen wir nochmals auf die Regel-Frage zurück, indem wir Regeln der Textinterpretation zusammenstellen (siehe 2.3.1).

Zum Abschluss sei auf einen Anspruch verschiedener Hermeneutiker hingewiesen, der zunächst als Kuriosität empfunden werden mag. Er lautet nämlich: Ein Autor soll besser verstanden werden, als er sich selbst verstanden hat (Bollnow 1949, 7–33; Coreth 1969, 136). Angesichts der Frage, ob denn ein Autor überhaupt angemessen, ganz oder gar kongruent verstanden werden könne, klingt die Forderung nach dem Besser-Verstehen in der Tat erstaunlich. „Ist es nicht selbstverständlich, daß jeder sich selbst am besten versteht? Jeder hat doch seine eigene Verständniswelt, in die sich kein anderer vollkommen ,hineinversetzen‘ kann, die aber auch kein anderer vollkommen thematisch einholen kann. 71Trotzdem hat die Forderung, den anderen besser zu verstehen, als er selbst sich verstanden hat, einen nachvollziehbaren Sinn. Gerade die Distanz macht es möglich und notwendig, auf die geschichtlichen Bedingungen zu reflektieren, das Mitgemeinte, aber Ungesagte ausdrücklich zu machen, was dem Verfasser so selbstverständlich war, daß er es gar nicht ausgesprochen hat, daß es ihm vielleicht gar nicht zum Bewußtsein kam, aber unreflektiert in sein Denken eingegangen ist … Wenn wir die Bedingungen ausdrücklich machen, die den unthematischen Hintergrund der Aussagen bestimmen, wenn wir überdies die Einzelaussagen in ihrem Zusammenhang lesen und verstehen, einzelne Worte in ihrem Bedeutungswandel und ihren Bedeutungsnuancen im Sprachgebrauch des Verfassers verfolgen, denn verstehen wir ihn in diesem Sinn besser, als er sich selbst verstanden hat“ (Coreth 1969, 136 f. – Broecken 1975, 225; Linke 1966, 1338, 169 ff; Gadamer 1975, 180, 184).

 

Gemeint ist also, dass wir die geschichtliche und persönliche Situation eines Autors aus unserer Warte überschauen können, was ihm selbst nicht möglich war, und dass unser Verstehen seine Bedingtheiten mit einbeziehen kann. Allerdings muss gegen diesen Anspruch kritisch eingewendet werden, dass damit ja behauptet wird, man selbst stände souverän über der Geschichte. Zugegebenermaßen ist unsere heutige Situation nicht mehr dieselbe wie die eines Autors aus früherer Zeit. Aber können wir damit schon rechtfertigen, dass wir uns selbst in diesem Sinne erhaben und unbefangen wähnen? Stehen nicht auch wir selbst, als Interpreten, in einer bestimmten geschichtlichen und persönlichen Situation, die wir möglicherweise gar nicht voll durchschauen können?

H.-G. Gadamer (1975, 280) sagt hingegen, dass wir in Wahrheit nicht besser verstehen, „weder im Sinne der grundsätzlichen Überlegenheit, die das Bewußte über das Unbewußte der Produktion besitzt. Es genügt zu sagen, daß man anders versteht, wenn man überhaupt versteht.“ Mit dem „Besser-Verstehen“ bietet sich zwar so etwas wie eine „Krönung“ der Hermeneutik an; doch scheint die Möglichkeit des „Anders-Verstehens“ die realistischere zu sein.

Auch der Anspruch der „Ideologiekritik“ behauptet letztlich ein Besserverstehen, weil ja die ideologische Situation des Autors aufgedeckt werden soll; aber wie steht es auch hier mit der Ideologie des Entlarvenden? (Klafki 1970, 152f; Apel 1971; Broecken 1975, 234ff).

Die voranstehenden systematischen Überlegungen sollten deutlich machen, welche Grundgedanken die Hermetik bestimmen.

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Wir fassen die einzelnen Gedankenschritte zusammen:

Hermeneutik als die „Kunst der Auslegung“ beschränkt sich nicht auf Textinterpretation; ihr Gegenstand ist vielmehr das Menschliche insgesamt, insbesondere sofern es als „dauernd fixierte Lebensäußerungen“ vorliegt.

Zentraler Begriff der Hermeneutik ist das Verstehen. Als terminus technicus meint es das Erfassen (1.) von etwas (2.) als etwas Menschliches und (3.) von dessen Bedeutung. In diesem Sinn unterscheidet es sich vom Erklären, unter dem ein Zurückführen eines Dinges oder Vorgangs auf Ursachen oder Gründe begriffen wird (Abb. 3 und 4).

Nach Dilthey meint Verstehen das Erkennen eines Inneren an dem Äußeren eines Zeichens (Abb. 5 und 6).

Vom psychologischen Verstehen im Sinne des Einfühlens muss das Sinn-Verstehen unterschieden werden, das die eigentliche Bedeutung für die Hermeneutik hat. Die Sinn-Ebene meint einen Verweisungszusammenhang und ein Ganzes.

Außerdem sind elementares und höheres Verstehen voneinander zu unterscheiden, wobei Ersteres das unmittelbare Verstehen von einfachen geistigen Gegebenheiten meint; höheres Verstehen bedeutet das Erfassen komplexer Zusammenhänge; es stellt individuelle und allgemeinmenschliche Zusammenhänge her und macht den eigentlichen Gegenstand der Hermeneutik aus (Abb. 3).

Bei der Frage, wie Verstehen möglich sei, wurden wir auf den „objektiven Geist“ verwiesen, der ein Gemeinsames darstellt, an dem die einzelnen Subjekte teilhaben (Abb. 8).

Dieses Gemeinsame des „objektiven Geistes“ muss in seiner kulturellen und historischen Bedingtheit gesehen werden; auch das Verstehen selbst ist geschichtlich, und es richtet sich auf ein Geschichtliches, da der „objektive Geist“ ein geschichtlich Gewordenes ist.

Hermeneutisches Verstehen kann dem Anspruch einer „Allgemeingültigkeit“ nicht gerecht werden, sofern darunter ein von jedem jederzeit Überprüfbares verstanden wird. Verstehen bleibt jedoch auch nicht bei einer willkürlichen Subjektivität stehen. Vielmehr wird hermeneutische Objektivität durch die „Angemessenheit einer Erkenntnis an ihren Gegenstand“ (Bollnow) erreicht. Dabei spielt eine als wesensmäßig zu verstehende Subjektivität als Vorbedingung des Verstehens eine Rolle.

Höheres Verstehen wird durch die Bewegung des hermeneutischen Zirkels gekennzeichnet. Dieser bedeutet, dass unter anderem Teil und Ganzes, Vorverständnis und zu Verstehendes, Theorie und Praxis sich gegenseitig erhellen. Der hermeneutische Zirkel ist weder ein circulus vitiosus noch eine Addition verschiedener Elemente (Abb. 9 und 11).

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Am hermeneutischen Zirkel wird die hermeneutische Differenz sichtbar, die zwischen Verstehendem und dem zu Verstehenden besteht; diese gilt es annäherungsweise zu überwinden (Abb. 10).

Hermeneutische Regeln zielen im Wesentlichen darauf ab, dem Interpreten Hilfestellung zu geben. Sie sind von der jeweiligen hermeneutischen Theorie abhängig; sie dürfen zu keiner Technologie verleiten.

Der Anspruch des Besser-Verstehens wird sinnvollerweise auf ein Anders-Verstehen reduziert.

Zur Ergänzung und Vertiefung verweisen wir auf folgende Literatur:

J. Grondin (1991): Einführung in die philosophische Hermeneutik. G. de Haan/T. Rülcker (2002): Hermeneutik und geisteswissenschaftliche Pädagogik [Texte]. Chr. Rittelmeyer (2003): Was kennzeichnet hermeneutische Forschung? Am Beispiel einer historischen Untersuchung.

2.2 Zwei Textauszüge und zwei hermeneutische Modelle

Nach unseren allgemeinen Überlegungen zur Struktur, zum Gemeinsamen und zur Zirkelbewegung des Verstehens und schließlich zu hermeneutischen Regeln sollten wir uns noch zwei besondere Aspekte der Hermeneutik näher ansehen. Wir greifen dazu je einen Grundgedanken Diltheys und Gadamers heraus und stellen sie in Form der Originaltexte vor und schließen jeweils eine kurze Erläuterung an. Dabei geht es uns darum zu zeigen, welch grundverschiedene Ansätze die hermeneutischen Theorien der beiden Autoren haben. Während Dilthey die Möglichkeit des Verstehens in der Kongenialität des Interpreten begründet sieht, liegt sie für Gadamer in der hermeneutischen Situation. Diese unterschiedlichen Ansätze haben nicht zuletzt für die Pädagogik Bedeutung; sie könnten sich beispielsweise in folgenden Fragen ausdrücken: Müssen wir uns in Pestalozzis Welt, Gedanken, Probleme hineinversetzen, um ihn richtig zu verstehen, oder begreifen wir ihn nur dann angemessen, wenn wir fragen, was er uns heute zu sagen hat?

Um wenigstens in groben Umrissen den historischen Zusammenhang herzustellen, charakterisieren wir zuvor kurz die Hermeneutik-Konzeption F. Schleiermachers (1768–1834). Auf ihn hat sich Dilthey stark bezogen, und von beiden setzt sich Gadamer ab. Schleiermacher30 sieht an dem, was zu verstehen ist, zwei verschiedene Seiten: Die eine macht die Sprache aus, die andere die Individualität des Autors. Verstehen 74muss daher in zwei unterschiedlichen Formen geschehen: Das grammatische Verstehen geht auf die unmittelbare (sprachliche) Gegebenheit als solche, und das psychologische Verstehen richtet sich auf das Individuum, um das zu Verstehende aus dessen Lebenszusammenhang zu erfassen; denn durch ihn ist es bedingt (Diemer 1977, 58). Neben die sprachliche Interpretation muss also die psychologische treten. Dabei muss uns bewusst sein, dass „psychologisch“ für Schleiermacher noch mehr und anderes bedeutet als ein moderner Psychologie-Begriff.

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