Einheit der Kirche?

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2.2 Die Anfänge von Gemeinde und Kirche
2.2.1 Der historische Jesus und Kirche

Gemeinde im Sinne einer Versammlung derer, die aus dem Geist Jesu leben, gibt es erst nach Ostern. Es überrascht daher nicht, dass der Begriff ekklesía in der Jesusüberlieferung der Evangelien nicht auftaucht. Die beiden Stellen in Mt 16,18 und 18,17, an denen von ekklesía die Rede ist, gelten in der bibelwissenschaftlichen Forschung seit langem als späte sekundäre Bildungen der palästinensischen Gemeinde. Das Markus- und das Lukasevangelium kennen diese Texte nicht, und auch im Johannesevangelium kommt der Begriff ekklesía nicht vor. Es gibt auch keinen Hinweis darauf, dass Jesus die Absicht hatte, eine Kirche zu gründen, oder das gar getan hätte. Ob und inwiefern eine Kirche aus dem Wirken des irdischen Jesus notwendig hervorging, wird an anderer Stelle zu erörtern sein.

2.2.2 Die Urgemeinde

Historisch kann als gesichert gelten, dass sich schon sehr bald nach dem gewaltsamen Tod Jesu im Jahr 30 christliche Gemeinden bildeten. Eine Schlüsselstellung nahm in der Anfangszeit die Urgemeinde in Jerusalem ein. Hier in Jerusalem, der Mitte und dem Heilsort Israels, hatten sich die maßgeblichen Persönlichkeiten des Jüngerkreises Jesu versammelt, zu denen Petrus mit dem »Kreis der Zwölf« gehörten. Sie waren überzeugt, dass mit der Auferstehung Jesu von den Toten die von Jesus verkündigte Endzeit angebrochen sei. Sie wussten Jesus in ihrer Mitte gegenwärtig und verstanden sich als der |18| Kern des erneuerten Gottesvolkes. Sie nannten sich »die Heiligen«, »das heilige Volk«, »die Auserwählten«, »das auserwählte Geschlecht« und »die königliche Priesterschar«. In der Gewissheit der Gegenwart Christi wussten sie sich zur Predigt und zum Handeln in seinem Namen ermächtigt und stark gemacht.

2.2.3 Erste heidenchristliche Gemeinden

Zur Jerusalemer Urgemeinde gehörten nicht nur Juden. Auch Männer, die aus hellenistischen Kreisen der jüdischen Diaspora stammten, hielten sich zur Urgemeinde. Ihr Sprecher war Stephanus. Hellenistische Judenchristen darf man sich auch als die ersten Missionare vorstellen, die außerhalb Jerusalems Gemeinden um sich sammelten. Das geschah ohne jede zentrale Organisation, rein aus dem Impuls heraus, die von Jesus verkündete Heilsbotschaft auch zu den nichtjüdischen Menschen zu bringen. Als Paulus im Jahr 33, also drei Jahre nach Jesu Tod, seine Heidenmission begann, traf er bereits einige nichtjüdische Christengemeinden an.

Bei einem Treffen mit den Leitern der Urgemeinde (Petrus, Herrenbruder Jakobus und Johannes) im Jahr 48 erwirkte Paulus, dass Nichtjuden, die sich der christlichen Gemeinde anschlossen, keinerlei jüdische Ritualgesetze zu erfüllen hatten. Mit dieser Entscheidung war der christlichen Botschaft der Weg in die religiös so vielfältige hellenistische Welt freigemacht. So entstanden durch private Initiativen (oft durch Händler, die in der Welt herumkamen), vor allem in den Zentren des Römischen Reichs christliche Gemeinden.

2.2.4 Charakter und Gestalt der ersten Gemeinden

Das einigende Band zwischen den Gemeinden war die Christusbotschaft. Die Art und Weise, in der die Gemeinden ihr Gemeinschaftsleben organisierten und ihre Versammlungen gestalteten, hing allerdings von den Gegebenheiten und den |19| Möglichkeiten am Ort ab. Von Beginn an war es entsprechend vielgestaltig.

Rechtlich oder kultisch geregelte Ämter gab es in den frühen Gemeinden nicht. Jesus hat nirgends Amtsträger eingesetzt. Er rief Menschen in seine Nachfolge. Damit berief er sie in eine Art Dienstgemeinschaft, die den Auftrag hatte, zur Umkehr zu rufen und die anbrechende Herrschaft Gottes auszurufen. Die Begriffe apóstolos, epískopos und diákonos bezeichneten Funktionen, die aber weder mit einer besonderen Stellung noch einem Rechtsstatus noch einer hohen Würde einhergingen. Diese inoffizielle offene Form einer Glaubens- und Dienstgemeinschaft dürfte der Normalfall von Gemeinde in den beiden ersten Generationen gewesen sein.

2.2.5 »Die Zwölf«

Die synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus,. Lukas) berichten, dass Jesus zwölf Apostel berufen hat, deren Namen – mit kleinen Abweichungen – auch genannt werden. Der älteste dieser Texte liegt in Mk 3,13–19 vor: »Und er steigt auf den Berg und ruft zu sich, die er um sich haben wollte; und sie traten zu ihm hin. Und er bestimmte zwölf, die er auch Apostel nannte, die mit ihm sein sollten und die er aussenden wollte, zu verkündigen und mit Vollmacht die Dämonen auszutreiben. Und er bestimmte die Zwölf: Simon, dem er den Beinamen Petrus gab, und Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und Johannes, den Bruder des Jakobus, denen er den Beinamen Boanerges gab, das heißt ‹Donnersöhne›, und Andreas und Philippus und Bartolomäus und Matthäus und Thomas und Jakobus, den Sohn des Alfäus, und Thaddeus und Simon Kananäus, und Judas Iskariot, der ihn dann auslieferte.«

Umstritten ist, ob dieser Text einen historischen Vorgang wiedergibt. Plausibel ist die Einsetzung der »Zwölf« hingegen als Zeichenhandlung, mit der zum Ausdruck gebracht wird, |20| dass Jesu Verkündigung darauf zielt, ganz Israel (repräsentiert durch die zwölf Stämme) als das endzeitliche Volk Gottes zu sammeln. Historisch hatte dieser Zwölferkreis wohl keine langfristige Bedeutung. Als Paulus nach seinem Damaskuserlebnis Jerusalem etwa im Jahre 35 erstmals besuchte, verhandelte er nach Gal 1,18f mit den »Aposteln« Petrus und Jakobus, dem Bruder Jesu, der aber nicht zu dem Zwölferkreis gehörte. Der Zwölferkreis verlor bald nach Jesu Tod seine Bedeutung, schon deshalb, weil mit der Heidenmission die Christusbotschaft über Israel hinausdrängte.

2.2.6 Der Charakter der Jerusalemer Urgemeinde

In der Urgemeinde in Jerusalem war eine besondere Organisation zunächst nicht erforderlich, weil sie sich noch im Verband der Synagoge befand. Einer konkreten Struktur bedurfte sie erst dann, als sie sich vom Tempel und der Synagoge löste und als eigenständige Gemeinschaft formierte. In Anlehnung an den jüdischen Ältestenrat bildete man wohl ebenfalls einen Leiterkreis, dessen Sprecher Petrus war. Ob der Kreis der Zwölf dabei noch eine Rolle spielte, ist nicht mehr zu ermitteln. Da sich Petrus wegen seiner Missionstätigkeit unter Juden nur noch selten in Jerusalem aufhielt, übernahm der Herrenbruder Jakobus die Leitung der Gemeinde. Unter seinem Einfluss erhielten die jüdischen Traditionen wieder größeres Gewicht, und das Ältestenamt nahm deutlichere Gestalt als Hüteramt hinsichtlich der Tradition an.

Von einer Besonderheit der Jerusalemer Urgemeinde berichtet Apg 6,1–6. Danach wurde ein Kreis von sieben Personen eingerichtet, der sich der Belange und der sozialen Probleme jener hellenistischen Judenchristen annahm, die in Jerusalem wohnten. Diese Griechisch sprechenden Judenchristen, die nicht am synagogalen und kultischen Leben des Tempels teilnahmen und auch die jüdischen Ritualgesetze nicht einhielten, bildeten wohl schon sehr früh eine eigenständige Gruppe |21| innerhalb der Urgemeinde. Ihr Sprecher, Stephanus, wurde wegen seiner Christusbotschaft und seiner gesetzeskritischen öffentlichen Äußerungen vor der Stadt gesteinigt. In der Apostelgeschichte heißt es dazu: »Und die Zeugen legten ihre Kleider ab, zu Füßen eines jungen Mannes namens Saulus. … Saulus war einverstanden mit dieser Hinrichtung« (Apg 7,58 und 8,1). Daraus ist zu schließen, dass Stephanus unter den Augen des Saulus/Paulus zwischen 30 und 33 wegen seines Christuszeugnisses als der erste Märtyrer der Christenheit zu Tode gebracht wurde.

2.2.7 Die judenchristlichen Gemeinden im syrisch-palästinensischem Raum

Das Zentrum des hellenistischen Judenchristentums der ersten Zeit lag in Antiochia in Syrien, der damals drittgrößten Stadt im Römischen Reich nach Rom und Alexandria. Die Gemeinden in und um Antiochia waren bereits zu Beginn der 30er Jahre von wandernden Charismatikern gegründet worden. In den ländlichen Gemeinden dieser Gegend gab es bis in das 2. Jahrhundert keine erkennbaren Organisationsstrukturen und wohl auch keine örtlichen Leitungsgremien. Das Matthäusevangelium, das zwischen 80 und 100 im syrischen Raum entstanden ist, kennt weder Älteste noch Episkopen, und selbst von Aposteln ist (sieht man von der Berufung der Zwölf ab) nicht die Rede. Auch das Johannesevangelium (zwischen 100 und 125), das ebenfalls aus Syrien stammt, erwähnt diese Bezeichnungen nicht. Ortsfeste Strukturen für bestimmte Dienste beginnen sich zuerst in städtischen Gemeinden herauszubilden.

2.2.8 Gemeinden im Einflussbereich des Paulus

Paulus wusste sich von seiner Christusvision von Damaskus im Jahr 33 zum »Apostel des Herrn« berufen und dadurch auserwählt und ausgesandt, seinen Namen und seine Botschaft unter den Völkern zu verbreiten. An die Galater schrieb er, dass |22| es Gott »gefiel, mir seinen Sohn zu offenbaren, dass ich ihn unter den Völkern verkündige« (Gal 1,15). Paulus verstand seine Berufung so, wie es Jesus seinen Jüngern gegenüber ausgedrückt hatte: »Wer unter euch groß sein will, sei euer Diener, und wer unter euch der Erste sein will, sei der Knecht aller. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele« (Mk 10,43–45).

Von diesem Verständnis seiner Berufung zum Zeugendienst her hat es Paulus auch als die Aufgabe der Gemeinde und eines jeden Christen betrachtet, die Christusbotschaft durch das eigene Leben vor aller Welt zu bezeugen und in die Welt hinauszutragen. Dieser Dienst erledigt sich nicht spontan und von allein, sondern er muss geordnet geschehen, und zwar sowohl innerhalb der Gemeinde als auch im Wirken nach außen. Dabei geht es nicht darum, Ämter zu verteilen, sondern die Geistesgaben (Charismen) der Einzelnen so einzusetzen, das sie dem Aufbau der Gemeinde und deren Zeugnis vor der Welt dienen.

 

Was mit »Charisma« gemeint ist, deutet Paulus in 1Kor 12,8–10 an. Er nennt Weisheitsrede, Erkenntnisrede, prophetische Rede, Zungenrede und die Fähigkeit, diese zu übersetzen, sowie Unterscheidung der Geister und Gabe der Heilung. Jeder Getaufte hat danach eine Gabe, die er für das Leben und das Zeugnis in die Gemeinde einbringen kann. Insofern ist jeder seiner Gabe gemäß zum Zeugen- oder Aposteldienst berufen. Es geht dabei nicht um Selbstdarstellung, nicht um Macht und nicht um Ansehen. Denn: »Die uns zugeteilten Gaben sind verschieden, der Geist jedoch ist derselbe. Die Dienste sind verschieden, der Herr aber ist derselbe. Das Wirken der Kraft ist verschieden, Gott jedoch ist derselbe, der alles in allen wirkt. Jedem wird die Offenbarung des Geistes so zuteil, dass es allen zugutekommt« (1Kor 12,4–7).

Innerhalb dieser verschiedenen Dienstfunktionen gibt es |23| keine verschiedenen Grade der Würde. »Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, die Glieder aber nicht alle dieselbe Aufgabe erfüllen, so sind wir, die vielen, in Christus ein Leib, im Verhältnis zueinander aber Glieder« (Röm 12,4f). Prophetisch reden, lehren, trösten, heilen, einfache Hilfsdienste leisten, Almosen geben, leiten u. a. sind gleich wichtig und gleich wertvoll. Weder jeder noch einer allein muss alles beherrschen und tun. Bei Paulus ist noch keinerlei Tendenz zu festen Gemeindeämtern erkennbar. Als nicht geschichtlich kann die Notiz in Apg 14,23 gelten, wonach Paulus in jeder seiner Gemeinden Älteste eingesetzt hat.

2.2.9 Die kirchlichen Ämter

Bezeichnungen wie »Lehrer«, »Älteste«, »Diakone«, »Bischöfe« werden im heutigen Sprachgebrauch der Kirchen als theologisch und rechtlich geordnete Ämter verstanden, die nur in offiziellem Auftrag wahrgenommen werden dürfen. Derartige Ämter gab es in den beiden ersten Christengenerationen nicht.

In den von Charismatikern gegründeten Gemeinden lagen feste Ämter außerhalb des Denkbaren. In den paulinischen Gemeinden kannte man Evangelisten, Hirten, Apostel, Propheten und andere Charismen. Man bezeichnete damit Funktionen, die in ihren Schwerpunkten zunächst noch nicht festgelegt waren, sondern nach den örtlichen Gegebenheiten mit konkreten Aufgaben verbunden wurden. In den palästinensischen Gemeinden nahm zuerst die Funktion der Ältesten (Presbyter) als Leitungsgremium der Gemeinde deutlichere Konturen an. In jenen vier Textstellen, die im Neuen Testament von Bischöfen sprechen, werden diese in ihrer Funktion als Aufsichtführende mit den Presbytern gleichgesetzt oder ihnen zugeordnet.

Bemerkenswert ist, dass die christlichen Gemeinden für ihre Funktionsbezeichnungen auf keinen der sakralen Titel der jüdischen oder hellenistischen Umwelt zurückgegriffen |24| haben, sondern an die säkularen Wortbedeutungen anknüpften. Das wird noch auszuführen sein.

2.3 Der Umbruch um die Jahrhundertwende
2.3.1 Örtliche Improvisation der beiden ersten Generationen

In den von Paulus gegründeten Gemeinden begannen sich je nach den örtlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten ab Mitte der 50er Jahre Ansätze für Ämter im Sinne von festen Zuständigkeiten herauszubilden. Den Episkopen (Aufsehern) wurde die Aufgabe übertragen, die Mahlfeiern zu ordnen und zu leiten, erforderliche Verwaltungsarbeiten auszuführen, auf Disziplin zu achten und seelsorgerliche Funktionen zu übernehmen. Diakone erhielten die Aufgabe, über die Dienste bei der Mahlfeier hinaus sich der Armen und Kranken in der Gemeinde anzunehmen und das karitativ Notwendige zu tun oder zu organisieren.

Die anstehenden Aufgaben erwuchsen der Gemeinde aus den Impulsen des Evangeliums. Eine Langzeitperspektive war damit nicht verbunden, denn noch lebte man in der Erwartung des nahen Endes. Es erwies sich als sinnvoll, Zuständigkeiten im Sinne einer Arbeitsteilung zu ordnen und zu bündeln. Der Gedanke an herausgehobene Ämter hat dabei noch keine Rolle gespielt. An besondere Amtsvollmachten war ebenfalls noch nicht gedacht. Angesichts des nahen Endes blieb es bei der Improvisation.

2.3.2 Die christlichen Gemeinden lösen sich vom Judentum

Ein Wandel im Verständnis der Ämter vollzog sich erst in der dritten Generation, und zwar um die Wende zum 2. Jahrhundert als Antwort auf die großen Veränderungen innerhalb und im Umfeld der Gemeinden. Hier seien nur die drei wesentlichen angedeutet.

Erste Veränderung: Die christlichen Gemeinden hatten sich |25| um die Jahrhundertwende überall und endgültig vom Judentum gelöst und zu eigenständigen sozialen Gruppen entwickelt, die sich als solche organisieren und auch nach außen darstellen mussten.

2.3.3 Die Naherwartung erlischt

Zweite Veränderung: Der Kern der Botschaft Jesu ist in dem Satz enthalten: »Nahe gekommen ist das Reich Gottes« (Mk 1,15). Mit seiner jüdischen Religion lebte Jesus in der Erwartung, dass das Ende dieser Welt und das Anbrechen der Herrschaft Gottes unmittelbar bevorstehe. Das Jesuswort »Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen« (Lk 10,18) lässt erkennen, dass Jesus in seinem Wirken die Herrschaft Gottes bereits anbrechen sah. In Lk 11,20 heißt es anschaulich: »Wenn ich jedoch durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist das Reich Gottes zu euch gelangt.« Die Macht des Bösen ist bereits gebrochen. Nach Mk 9,1 scheint es, als habe Jesus den sichtbaren Anbruch der Endzeit (das Reich Gottes) in naher Zukunft, und zwar noch während der Lebenszeit seiner Zeitgenossen erwartet: »Einige von denen, die hier stehen, werden den Tod nicht schmecken, bevor sie das Reich Gottes sehen, wenn es gekommen ist mit Macht.« Dieser Überzeugung waren auch Paulus und mit ihm die Gemeinden seiner Generation, wie aus 1Thess 4,15 (geschrieben 50 oder 51) zu entnehmen ist.

Im letzten Viertel des ersten Jahrhunderts begannen die Gemeinden zu erkennen, dass mit dem sichtbaren Ende dieser Welt und der weltweiten Herrschaft Gottes in unmittelbarer Zukunft nicht zu rechnen sein würde. Sie fingen daher an, sich als Inseln des Reiches Gottes in dieser Welt zu verstehen und sich in einer Art Zwischenphase einzurichten, in der es nun galt, die Christusbotschaft vom Reich Gottes vor und in dieser Welt zu bezeugen. Wer sich auf längere Dauer einrichtet, der muss sich organisieren, um zu überleben. Die Erwartung |26| des Endes dieser Welt und der Gottesherrschaft blieb erhalten, sie wurde aber in eine nicht bekannte Zukunft verschoben.

2.3.4 Die häretischen Strömungen nötigen zu Klärungen

Dritte Veränderung: Der Apostel Paulus musste sich in seinen Briefen, die (mit Ausnahme des Briefs an die Römer) Gelegenheitsschriften sind, immer wieder mit Gegnern auseinandersetzen, die seiner Christusbotschaft widersprachen und ihr andere Inhalte zu unterstellen suchten. Er nennt diese Gegner »falsche Brüder«, weil sie unter dem Vorwand, Christus zu verkündigen, sein Evangelium grob verfälschten (Gal 2,4 u. ö.). Die einen wollten den christlichen Glauben in den Rahmen des jüdischen Denkens zurückholen, andere wiederum forderten aus philosophischer Sicht unbehinderte moralische Freiheiten oder strenge Askese. Diese Probleme wuchsen für die Gemeinden in dem Maße, in welchem sie sich in der hellenistischen Welt ausbreiteten und sich mit den dort vorhandenen Religionen, Kulten und philosophischen Strömungen auseinanderzusetzen hatten. Einige dieser Strömungen versuchten, den christlichen Glauben zu vereinnahmen und in ihr System zu integrieren, so z. B. die Gnosis, eine religionsphilosophische Bewegung, die den Glauben durch Erkenntnis zu ersetzen suchte.

Angesichts dieser Herausforderungen und der Gefahr, sich in einem anderen religiösen Konzept aufzulösen, waren die Gemeinden genötigt, sich auf ihre Wurzeln, auf ihre Glaubensinhalte, auf ihren Auftrag und auf ihr geistiges Profil zu besinnen und dies auch klar zu artikulieren. Dazu mussten auch Strategien für innergemeindliche Klärungsprozesse entwickelt und autorisierte Sprecher eingesetzt werden, die gemeindliche Aktivitäten koordinierten, vermittelten und Auskunft darüber geben konnten, was als christlich galt und was nicht. Damit war ein Entwicklungsprozess in Gang gesetzt, |27| der grundsätzlich nie zu einem Ende kommen, und der ebenso grundsätzlich nicht einsträngig verlaufen kann, da für dasselbe Problem oft mehrere Lösungen denkbar und möglich sind.

|28| 3 Die Kirche heute

Von Beginn an haben die christlichen Gemeinden in ihrer Welt je ihren Weg suchen müssen. Die biblischen Schriften zeigen, dass sie dafür ihr Gemeindeleben im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf jene Bedingungen abstimmten, in denen sie lebten. Von ihren verschiedenartigen Ausgangsbedingungen her haben Gemeinden und Kirchen in unterschiedlichen Kulturen, religiösen Umfeldern, Sprachwelten und politischen Begebenheiten in verschiedener Weise Gestalt angenommen und sich entwickelt. Blicken wir nach 2000 Jahren Kirchengeschichte auf die Kirchen, die sich |29| der Christusbotschaft verdanken, so zeichnen sich drei Kirchenmodelle ab, in die sich alle bestehenden Kirchen einordnen lassen:

 das im byzantinischen Raum entstandene Modell der Orthodoxie,

 das im lateinischen Westen ausgeformte Modell des römischen Katholizismus,

 das in der Reformation der Westkirche entstandene Modell des Protestantismus.

Was ist in 2000 Jahren aus den Impulsen geworden, die von dem Galiläer Jesus ausgegangen sind? Wir beschränken uns in diesem Kapitel darauf, die genannten drei Kirchenmodelle mit einigen historischen Hilfen so zu beschreiben, wie sie sich dem aufmerksamen Beobachter heute zeigen.

3.1 Das byzantinische Modell der Orthodoxie
3.1.1 Der historische Hintergrund

Als die Christusbotschaft in die Welt trat, gehörten alle Landschaften um das Mittelmeer zum römischen Weltreich, das sich von Spanien bis Mesopotamien und von Nordafrika bis nach Britannien erstreckte. Galiläa, der geographische Ausgangspunkt der Christusbotschaft, lag am östlichen Ende des Römischen Reichs. In den ersten Jahrhunderten seiner Geschichte entfaltete sich das Christentum vor allem in der Osthälfte des Römischen Reichs, um die Zentren Jerusalem, Antiochia und Alexandria und später auch Byzanz/Konstantinopel.

Obwohl es in der Reichshauptstadt Rom bereits wenige Jahre nach Jesu Tod eine christliche Gemeinde gab, wurden der christliche Glaube und das Selbstverständnis der christlichen Kirche zunächst im Osten des Reiches ausgeformt, und zwar im Medium der griechischen Sprache und der griechisch-hellenistischen Kultur. Diese war von den Nachklängen der griechischen Philosophie, von alten Naturkulten und von Mysterienkulten geprägt. Konstantinopel stieg im 4. Jahrhundert zur Hauptstadt der östlichen Reichshälfte auf. Hier wurde 380 die christliche Kirche zur alleinigen Religion erhoben. Die Kaiser drängten nicht nur auf Einigkeit im Glauben, sondern auch auf Einigkeit im Selbstverständnis von Kirche. Unter diesen geistig-politischen Bedingungen hat die Orthodoxie ihr Kircheverständnis ausgebildet.