Einheit der Kirche?

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3.1.2 Die Einheit in der Vielzahl

Die Orthodoxie umfasst gegenwärtig sechzehn orthodoxe Kirchen. Sie verstehen sich in Glaubensfragen als orthodoxe Einheit und stehen untereinander in voller kirchlicher und sakraler Gemeinschaft. Hinsichtlich der Verwaltung bilden sie allerdings autonome Kirchen. Der Erzbischof von Konstantinopel gilt als der ökumenische Patriarch. Er ist unter den Bischöfen ein primus inter pares (Erster unter Gleichen), dem von der Versammlung der Bischöfe das Recht übertragen wurde, ökumenische Versammlungen einzuberufen, deren Vorsitz zu führen und ökumenische Angelegenheiten der Orthodoxie zu koordinieren. Er wird weder als Papst verstanden, noch hat er dessen Vollmachten.

|30| 3.1.3 Die dreistufige Hierarchie

Die orthodoxen Kirchen haben eine dreistufige priesterliche Hierarchie. Dieser Klerus besteht aus den geweihten Ortsbischöfen als den zentralen Gestalten von Kirche und gottesdienstlichem Leben. In ihrem Auftrag handeln die Priester und die Diakone, die für ihren Dienst vom Bischof geweiht werden. Die Priester können vor ihrer Weihe eine Ehe schließen. Für Bischöfe besteht seit dem 7. Jahrhundert die Pflicht zur Ehelosigkeit.

3.1.4 Die Einheit von Bischof, Kirche und Laien

Die Orthodoxie hat für ihr Kirchenverständnis kein Dogma. Was Kirche ist, das erfährt man, indem man an der göttlichen Liturgie (dem orthodoxen Gottesdienst) teilnimmt, und zwar insbesondere durch die Eucharistie. In der Eucharistie begegnen die Gläubigen dem auferstandenen Christus, hier ereignet sich die Gemeinschaft mit Christus, aus der Kirche lebt. So ist in jeder Ortsgemeinde durch die Eucharistie die Kirche Christi ganz gegenwärtig. Die Eucharistie kann allerdings allein durch den Bischof vollzogen werden oder durch den in seinem Auftrag und in seiner Vollmacht handelnden Priester oder Diakon. So ist der Bischof der tragende Pfeiler der Kirche Christi. Ohne einen konkreten Bischof gibt es demnach keine Kirche.

3.2 Das westliche Modell des römischen Katholizismus
3.2.1 Ausrichtung auf den Papst

Im lateinischen Westen hat sich ein Kirchenmodell entwickelt, das im Bischof von Rom als dem Nachfolger des Apostels Petrus den Stellvertreter Christi auf Erden sieht. Eine feinabgestufte priesterliche Hierarchie ist auf den Papst als die höchste Autorität hingeordnet.

Der Papst besitzt den absoluten jurisdiktionellen Primat (Vollmacht und Vorrang der Rechtsprechung) über alle Nationalkirchen |31| und über alle Christen. Er ist ferner der Inhaber des obersten Lehramts der Kirche und ist dafür mit der Gabe der Unfehlbarkeit und der Irrtumslosigkeit ausgestattet, wenn er in Fragen des Glaubens und der Sitte entscheidet. Kraft seines Amtes als Stellvertreter Christi verfügt er in der Kirche über »höchste, volle, unmittelbare und universale ordentliche Gewalt, die er immer frei ausüben kann« (CIC 331). Seine Entscheidungen sind aus sich, nicht erst durch Zustimmung anderer, unabänderlich. »Gegen ein Urteil oder ein Dekret des Papstes gibt es weder Berufung noch Beschwerde« (CIC 333). Das römisch-katholische Kirchenmodell hat die Struktur einer romzentrierten päpstlichen Universalmonarchie.

3.2.2 Der Bischof

Das Amt des Bischofs ist für das Kirchenverständnis der römisch-katholischen Kirche konstitutiv. Denn auch hier gilt: »Die Eucharistie baut die Kirche« (KKK 1396). »Das ganze liturgische Leben der Kirche kreist um das eucharistische Opfer und um die Sakramente!« (KKK 1113). Die Eucharistie ist »Quelle und Höhepunkt des ganzen kirchlichen Lebens« (LG 11) und sie »enthält das Heilsgut der Kirche in seiner ganzen Fülle, Christus selbst« (PO 5). Der Eucharistiefeier kann nur der Bischof vorstehen oder ein geweihter Priester im Auftrag und in der Vollmacht des Bischofs.

Dem Bischof wird von anderen geweihten Bischöfen, die in der apostolischen Sukzession stehen, »durch die Bischofsweihe die Fülle des Weihesakramentes übertragen« (LG 21). Er ist in seiner Diözese Nachfolger und authentischer Vertreter der Apostel. Mit der Weihe durch bischöfliche Handauflegung erhält der Geweihte ein Amtscharisma im Sinne eines unauslöschlichen Prägemales (character indelebilis), das ihn bevollmächtigt, »in der Person des Hauptes Christus« (PO 2) zu handeln. Diese Vollmacht kann er durch Weihe in abgestufter Weise auf Priester und Diakone übertragen.

|32| Die Bischöfe werden vom Papst frei ernannt oder bestätigt. Durch einen Treueeid werden de Bischöfe auf den Primat des Papstes verpflichtet. In der Eidesformel von 1987 heißt es: »Ich … werde … dem Papst … stets treu sein. Der freien Ausübung der primatialen Vollmacht des Papstes werde ich Folge leisten und dafür Sorge tragen, seine Rechte und seine Autorität zu fördern und zu verteidigen.« Die kirchlichen Amtsträger unter dem Bischof werden mit entsprechenden Amtseiden ebenfalls auf den Papst und auf ihren Bischof verpflichtet.

3.2.3 Die Rolle der Theologie

Zum Gehorsam gegenüber dem Papst und den Lehren der Kirche müssen sich auch alle in der Kirche Lehrenden in einem Glaubenseid verpflichten. In dessen Fassung von 1989 heißt es: »Mit festem Glauben bekenne ich auch alles, was von der Kirche … als göttlich geoffenbart zu glauben vorgelegt wird … insbesondere hange ich mit religiösem Willens- und Verstandesgehorsam jenen Lehrstücken an, welche entweder der Papst oder das Bischofskollegium bekanntgeben, wenn sie das authentische Lehramt ausüben, selbst wenn sie diese nicht definitiv als verpflichtend zu verkündigen beabsichtigen.«

3.2.4 Kleriker und Laien

Der geweihte Amtsträger wird durch die Weihe in den Stand des Klerikers erhoben, der unter Christus, aber über den Laien, dem ungeweihten Kirchenvolk, steht. Der Klerus hat in jeweils seinem Amtsbereich kraft seiner heiligen Gewalt das Volk zu bilden und zu leiten. Die Laien werden angewiesen, sich von ihrem Bischof und den Lehren der Kirche leiten zu lassen.

|33| 3.2.5 Die einzige Kirche Christi

Die von Christus gewollte und verfasste Kirche ist voll nur »verwirklicht in der katholischen Kirche, die vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird« (LG 8). Gemeinschaft in den heiligsten Dingen (Sakramentale Gemeinschaft) und gemeinsamer Vollzug gottesdienstlicher Handlungen (Konzelebration) ist nur dort möglich, wo der Primat des Papstes und die Lehren der römisch-katholischen Kirche anerkannt werden. Katholiken ist deshalb die Teilnahme am protestantischen Abendmahl untersagt (Fischer 09, 45–61).

3.3 Das Modell des Protestantismus
3.3.1 Der Urgrund von Kirche

Der Protestantismus sieht die Quelle und den Urgrund von Kirche und Glauben nicht in der Eucharistie, sondern im Wort Gottes. Martin Luther schrieb bereits 1519: »Die Kirche ist ein Geschöpf des Evangeliums«. Das auf der Basis der neutestamentlichen Zeugnisse verkündigte Wort Gottes gründet Kirche und stiftet ihre Identität als Kirche Christi. Kirche hat daher keine von Gott verordnete Gestalt. Sie konstituiert sich in der »Versammlung aller Gläubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente dem Evangelium gemäß gereicht werden« (CA VII).

3.3.2 Die Gestalt von Kirche

Das verkündigte Wort Gottes lehrt nicht abstrakte Wahrheiten über Kirche und Glauben, es stellt vielmehr unser konkretes Leben in das Licht der Botschaft von der Liebe. Was sich daraus ergibt, muss unter den jeweiligen Lebensbedingungen der Gemeinde umgesetzt werden. Protestantische Gemeinden können und müssen daher entsprechend ihren kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Lebensumständen verschiedene |34| Gestalt haben. Das, was als die Botschaft der Liebe von der Gemeinde durch Wort und Tat in die Welt hineingetragen werden soll, muss am Ort des Geschehens von der Gemeinde entschieden, verantwortet und gestaltet werden. Die Gestalt der Kirche Christi liegt daher in der Verantwortung der Gemeinden oder Regionen, und sie muss sich auch nach den Möglichkeiten der gemeindlichen Zusammenschlüsse richten. Da dies alles keine stabilen Faktoren sind, muss die Gestalt der Kirche für notwendige Veränderungen offen und grundsätzlich variabel bleiben. Protestantische Kirchen zeigen sich daher in vielfältigen Formen der Organisationen, der Schwerpunkte und der gottesdienstlichen Versammlungen.

3.3.3 Die Ämter

Das verkündigte Wort Gottes, das Ursprung und Grund der Kirche ist, ruft alle dazu auf, die empfangene Botschaft des Heils mit ihren Kräften in der eigenen Lebenswelt zu leben und bekanntzumachen. Das drückt der Protestantismus in der Kurzformel vom »allgemeinen Priestertum aller Glaubenden« aus. Damit wird auch gesagt, dass es zwischen Mensch und Gott keiner priesterlichen Vermittlung bedarf, sondern jeder Glaubende Botschafter Gottes sein kann und sein soll.

Die protestantischen Kirchen kennen grundsätzlich nur ein kirchliches Amt. Es ist das Amt, mit dem die Gemeinde geeignete und qualifizierte Mitglieder beauftragt, öffentlich zu wirken: als Prediger, als Seelsorger, als Lehrende, in der Öffentlichkeitsarbeit, als Verwalter, als Leiter. Die Bezeichnungen für diese öffentlichen Funktionen bis hin zu den Leitungsämtern sind nicht festgelegt. Die Beauftragung und Bevollmächtigung zum öffentlichen Dienst findet in einer Ordination in einem Gemeindegottesdienst statt. Dadurch wird der Ordinierte weder in einen höheren Stand erhoben noch mit besonderen Geistesgaben ausgestattet. Der Ordinierte verpflichtet sich, aus dem Geist der Heiligen Schrift zu leben |35| und zu handeln. Die Gemeinde bittet um Gottes Geist und Beistand für den Ordinierten.

 

3.3.4 Die Rolle der Theologie

Der Protestantismus kennt keine festgeschriebenen kirchlichen Dogmen. Das protestantische Prinzip besteht in dem bleibenden Bemühen, Glauben und kirchliches Leben an der Christusbotschaft zu orientieren, wie diese in den neutestamentlichen Texten bezeugt ist. Die Bekenntnisschriften gelten als die historisch bedingten Dokumente dieses Bemühens um das rechte Verständnis der Botschaft Christi. Den Kern und die konkreten Impulse für die jeweilige Gegenwart zu finden, ist nicht einem kirchlichen Lehramt überlassen, sondern bleibt die ständige Aufgabe der offenen christlichen Dialog-Gemeinschaft. Die Theologie hat dabei die Aufgabe, dieser Dialog-Gemeinschaft alle verfügbaren wissenschaftlichen Hilfen bereitzustellen, mit denen die Christusbotschaft erschlossen und für die Gegenwart auch sprachlich präzisiert werden kann. Die Theologie ist dabei der wissenschaftlichen Wahrheit und keinem ihr übergeordnetem Lehramt und auch keiner vorgeordneten Lehre verpflichtet. Ihre Aufgabe besteht auch darin, Glauben und kirchliches Leben mit dem Maßstab der Bibel kritisch zu begleiten. Selbstkritik und Selbstprüfung gehören zum Wesen des protestantischen Kirchenmodells. Es bleibt der Auftrag der Dialog-Gemeinschaft aller Glaubenden, diese Selbstkritik gegenüber allen Beharrungstendenzen einzufordern und auch selbst zu leisten.

|36| 4 Das Gewicht der Heiligen Schrift für das Verständnis von Kirche
4.1 Die Berufung auf Christus und auf die Heilige Schrift

Alle christlichen Kirchen führen ihre Existenz und ihre konkrete Gestalt auf Jesus Christus zurück. Sie tun das freilich auf verschiedene Weise. Dabei berufen sich alle auf das Zeugnis der Heiligen Schrift. Wie aber ist es zu erklären, dass sich aus dem recht eindeutigen Schweigen der Evangelien zum Thema Kirche so unterschiedliche Kirchen und Kirchenverständnisse herleiten und begründen lassen? Als Teil einer Antwort soll im vorliegenden Kapitel geklärt werden, welches Gewicht die Heilige Schrift in den drei Kirchenmodellen hat und nach welchen Prinzipien die Schrift ausgelegt wird.

4.2 Der Kanon der Heiligen Schriften

Die Jesusbotschaft ist nach Jesu Tod im Jahr 30 zunächst mündlich überliefert worden. Wir haben Hinweise auf Sammlungen von Worten und Wundern Jesu und der Passionsgeschichte, die ab 40 entstanden sind, besitzen dafür aber keine schriftlichen Dokumente. Die ersten verfügbaren schriftlichen Dokumente sind die sieben authentischen Briefe des Apostels Paulus (1Thess, Gal, Phil, Phlm, 1 und 2Kor und Röm), geschrieben zwischen 51 und 56. Das Markusevangelium wurde kurz nach dem Jahr 70, der Zerstörung Jerusalems und des jüdischen Tempels durch die Römer, verfasst. Die Evangelien des Matthäus und des Lukas wurden zwischen 80 und 100, das Johannesevangelium wurde zwischen 100 und 125 geschrieben. Diese Texte wurden dort, wo sie bekannt waren, in den Gottesdiensten verlesen. Sie traten neben die Verlesung alttestamentlicher Texte. Zu einer Sammlung christlicher Texte |37| kam es ab der Mitte des 2. Jahrhunderts, als die Frage zu beantworten war, was für die Gemeinden und gegenüber fremden Lehren als christlich zu gelten hatte.

Die Gemeinden in Kleinasien und Rom einigten sich zwischen 140 und 180 auf jene Schriften, denen man apostolischen Ursprung zusprach. Da es zu jener Zeit noch keine überregionalen Synoden und erst recht noch keine zentrale Entscheidungsinstanz gab, kam die Einigung über die Auswahl der Schriften im Dialog der Gemeinden ohne Zwang zustande. Nach G. Theissen haben sich zwei inhaltliche Kriterien durchgesetzt: die »Einheit Gottes und die Realität der Inkarnation« (Theissen, 120). Einige Schriften blieben noch bis ins 5. Jahrhundert umstritten. Man verstand den Bibelkanon weder als christliches Gesetzbuch noch als dogmatisches System noch als historisches Archiv, sondern als eine Sammlung frühchristlicher authentischer Zeugnisse von den Begegnungen mit dem in Jesus erschienenen lebendigen Gott. Die neutestamentlichen Schriften sind in allen Kirchen als die »Ur-Kunden« göttlichen Wirkens und als Quelle göttlicher Offenbarung unumstritten. Unterschiedlich wird hingegen die Frage beantwortet, ob sie als die alleinige Quelle christlichen Glaubens zu gelten haben.

4.3 Das Schriftverständnis der Orthodoxie

Die orthodoxen Kirchen verstehen das Neue Testament als »ein lebendiges Zeugnis, das uns zum Heil und zur Wahrheit führt« (Larentzakis 00, 128). Die Heilige Schrift wird als »Urtradition« verstanden und mit der kirchlichen Tradition zur Einheit verbunden. Zu dieser kirchlichen Tradition werden neben der Heiligen Schrift auch die Entscheidungen der sieben ökumenischen Konzilien und die Schriften der Kirchenväter aus den ersten acht Jahrhunderten (bis Johannes von Damaskus, † 754) gezählt. In einem weiteren Sinn werden auch die |38| Liturgien, Ordnungen und geistlichen Ausdrucksformen jener ersten Jahrhunderte dazugerechnet. In diesen Texten sieht die Orthodoxie die sachgemäße und authentische Auslegung der biblischen Texte niedergelegt. Schrift und altkirchliche Tradition bilden eine unauflösbare Einheit, der nichts Neues mehr hinzuzufügen ist.

4.4 Das Schriftverständnis der römisch-katholischen Kirche
4.4.1 Das Konzil von Trient

Die römisch-katholische Kirche sieht die enge Verbindung von Heiliger Schrift und kirchlicher Tradition bereits dadurch gegeben, dass die Christusbotschaft zunächst mündlich überliefert wurde und die Schriften schließlich von den christlichen Gemeinden zum Kanon (Richtschnur, Norm des Glaubens) zusammengefügt wurden. Was hier noch als historischer Vorgang erscheint, wurde 1546 auf dem Konzil von Trient als theologische Aussage festgeschrieben. Das Konzil erklärte, dass die Wahrheit und die Lehre in »geschriebenen Büchern und ungeschriebenen Überlieferungen« enthalten sind (D 1501), die beide »mit dem gleichen Gefühl der Dankbarkeit und der gleichen Ehrfurcht« (D 1501) zu verehren sind.

4.4.2 Das Erste Vatikanische Konzil

Auf dem Vatikanum I (1870) wurde das Verhältnis von Schrift und Tradition bereits deutlich zugunsten der kirchlichen Tradition verschoben. In der Dogmatischen Konstitution Dei Filius über den katholischen Glauben heißt es: »In Fragen des Glaubens und der Sitten … ist jener als der wahre Sinn der Heiligen Schriften anzusehen, den die heilige Mutter Kirche festgehalten hat und festhält, deren Aufgabe es ist, über den wahren Sinn und die Auslegung der heiligen Schriften zu urteilen; und deshalb ist es niemandem erlaubt, die Heilige |39| Schrift gegen diesen Sinn oder auch gegen die einmütige Übereinstimmung der Väter auszulegen« (D 3007). Dieses Prinzip des Auslegungsmonopols der Kirche wurde auf dem Vatikanum I mit dem Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes in Fragen des Glaubens und der Sitte noch zugespitzt, denn in diesem Dogma wird im Entscheidungsfall das Auslegungsmonopol der Kirche zum Auslegungsmonopol des Papstes. So tritt neben Schrift und Tradition nun noch als dritte normsetzende Instanz das kirchliche Lehramt in der Person des Papstes.

Das wurde in der Enzyklika »Humani generis« (1950) durch Papst Pius XII. ausdrücklich hervorgehoben. Er stellte fest, dass Schrift und Tradition »allein dem Lehramt der Kirche« zur authentischen Auslegung anvertraut sind (D 3886). Die Theologie wurde auf die Aufgabe begrenzt, »zu zeigen, auf welche Weise sich das, was vom lebendigen Lehramt gelehrt wird, in der heiligen Schrift und in der göttlichen Überlieferung … findet« (ebd.).

4.4.3 Das Zweite Vatikanische Konzil

Das Vatikanum II (1962–1965) betont noch einmal, dass allein das kirchliche Lehramt die Vollmacht hat, diese beiden Quellen gültig auszulegen. In der Dogmatischen Konstitution Dei Verbum von 1965 heißt es: »Die Aufgabe aber, das geschriebene und überlieferte Wort Gottes authentisch auszulegen, ist allein dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut, dessen Vollmacht im Namen Jesu Christi ausgeübt wird« (DV 10) Das päpstliche Lehramt ist damit jeglicher Kontrolle und Kritik entzogen. Die Bibel ist als kritisches Gegenüber zur Kirche ausgeschaltet. Abgesichert wurde das durch die Rolle, auf die man die Theologie beschränkte. Sie soll die göttlichen Schriften »unter Aufsicht des kirchlichen Lehramtes« im Sinne der Kirche erforschen (DV 23). Gegen diese Bestimmung des Verhältnisses von Heiliger Schrift, kirchlicher |40| Tradition und kirchlichem Lehramt wurde und wird innerhalb der katholischen Kirche seit dem Mittelalter Protest erhoben, der freilich an den geltenden Regeln bisher nichts zu ändern vermochte.

Das gesamte Konstrukt der zwei aufeinander bezogenen Quellen (Schrift und Tradition) und der authentischen Auslegung durch das Lehramt beruht auf der Vorstellung, dass der göttliche Geist die biblischen Schreiber und die Schöpfer der Tradition inspiriert hat und auch den Papst leitet. Die verbürgte Gegenwart des Heiligen Geistes in Kirche und Lehramt beruht auf der Theorie der apostolischen Sukzession (siehe 6.3.1). Danach hat Christus den Aposteln den Heiligen Geist gespendet, den diese an ihre Nachfolger, die ordnungsgemäß geweihten Bischöfe, weitergeben.

4.5 Das Schriftverständnis des Protestantismus
4.5.1 Das Verhältnis von Schrift und Tradition

Den Reformatoren war bewusst, dass die Überlieferung der Christusbotschaft von Beginn an eine tragende Rolle spielte. Die reformatorische Theologie verneint nicht die Tradition, wohl aber jenes Traditionsprinzip, wonach die Tradition als die zeitlos normative Auslegung der Schrift zu gelten hat. Gegen dieses Traditionsprinzip setzt sie das Schriftprinzip. Sie reklamiert damit den Vorrang der Heiligen Schrift gegenüber kirchlicher Tradition und lehramtlicher Schriftauslegung. Dieses protestantische Schriftprinzip ist in der Kurzformel sola scriptura (allein die Schrift) ausgedrückt worden, eine Formel, die auch in den protestantischen Kirchen auf mancherlei Weise missdeutet und ad absurdum geführt worden ist.

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