Musste Jesus für uns sterben?

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|15| Der Hohe Rat braucht gerichtsverwertbare Anklagepunkte

Was war für die römische Justiz, welche die Rechtshoheit besaß, in einem Prozess gegen Jesus verwertbar und was nicht? Unbrauchbar war jedenfalls alles, was innerjüdische Konflikte betraf, z. B. Verstöße gegen Regeln oder Ordnungen der jüdischen Religion, Kritik am Tempel, der Vorwurf falscher Prophetie oder der Gotteslästerung. In solche innerjüdische Angelegenheiten mischten sich die Römer nicht ein.

Jesus musste also so dargestellt werden, dass er aus der Sicht der römischen Behörde als politischer Unruhestifter und Aufrührer und damit als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung erschien. Der Hohe Rat wollte vor allem die für ihn bedrohliche Tempelkritik Jesu unterbinden. Diese konnte von den Römern so interpretiert werden, dass sie als Ruhestörung der öffentlichen Ordnung erschien. Und wenn Jesus von der anbrechenden Königsherrschaft und vom Reich Gottes öffentlich sprach, so sprach er zwar von dem Leben, das da entsteht, wo nicht Regeln und Gesetze, sondern Gottes Geist der Liebe die Herzen der Menschen erfüllt und ihr Handeln leitet. Aber die Stichwörter »Herrschaft«, »Reich« und »König« konnten den Römern leicht als politischer Anspruch und als politisches Umsturzprogramm und damit als ihren Zuständigkeitsbereich vermittelt werden.

Die römische Justiz handelt

Im Sinne dieser politischen Anklagen scheint dann auch der Prozess Jesu abgelaufen zu sein, nämlich im Stil einer dringenden römischen Polizeimaßnahme gegen einen gefährlichen |16| Aufrührer. Für einen ordentlichen römischen Strafprozess waren eine schriftliche Vorladung, ein Verteidiger und ein Protokollant erforderlich. Davon hören wir aber nichts. Es war also ein »kurzer Prozess«, wie er für kurzfristig zu klärende Notfälle vorgesehen war. Die Tafel, die über dem Kreuz Jesu angebracht wurde (der Titulus), verkündete das offiziell festgestellte strafwürdige Delikt. Es lautete: »Jesus Nazarenus Rex Judeorum« – »Jesus von Nazaret, König der Juden«. Wer unerlaubterweise den Königstitel führte, beging nach römischem Recht ein Majestätsverbrechen, das mit dem Tode bestraft wurde. Für Rom war dieser ganze Vorgang eine Routinebagatelle, mit der sich der Prokurator eines vermeintlichen politischen Aufrührers entledigte. Für die jüdische Priesterschaft war es nach Lage der Dinge die beste Lösung. Für die Jünger war es eine Katastrophe.

Hat Jesus seinen Tod erwartet?

Angesichts der Zwangsläufigkeit, mit der das Wirken Jesu und die Reaktionen der jüdischen Priesteraristokratie sowie der römischen Justiz zu Jesu Tod führten, kann man die Frage stellen, ob Jesus diesen Tod bewusst herbeizwingen wollte. Dafür gibt es aber keinerlei Anhaltspunkte.

Erwägenswert ist allerdings die Frage, ob Jesus mit seinem Tod rechnen konnte. Die Haltung der Tempelpriesterschaft konnte ihm ja nicht verborgen geblieben sein. Beim letzten Abendmahl sagte er nach dem Wort über Brot und Kelch: »Ich werde von der Frucht des Weinstocks nicht mehr trinken bis zu dem Tag, da ich aufs Neue davon trinken werde im Reich Gottes.« (Mk 14,25) Danach jedenfalls |17| scheint er seine Situation realistisch eingeschätzt zu haben.

Deutlich ist schließlich, dass er in den Verhören durch den jüdischen Hohen Rat und durch Pilatus offenbar nichts getan hat, um die Anklage, er sei ein politischer Revolutionär, zu entkräften. Als er von Pilatus gefragt wurde: »Bist du der König der Juden?«, d. h. erhebst du den Anspruch, König der Juden zu sein (was Pilatus im politischen Sinne meinte), da sagte er unumwunden »Ja« und verstand das in seinem Sinne der Königsherrschaft Gottes, die er ja stets verkündet hatte. Er äußerte sich auch zu den anderen Anklagen nicht, die gegen ihn vorgebracht wurden. Wir wissen nicht, wie historisch zuverlässig diese Verhörszenen dargestellt sind. Sie entsprechen aber sehr genau der Haltung eines aus dem Geiste Gottes Handelnden, die Paulus mit dem weisheitlichen Satz umschreibt: »Lass dich vom Bösen (in der Gestalt des Verfolgers) nicht besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute.« (Röm 12,21), nämlich mit jenem Geist der Liebe, die auch den Feind einschließt.

Die Kreuzigung

Das Todesurteil sollte unverzüglich vollstreckt werden, und zwar durch Kreuzigung, jene besonders abschreckende und entehrende Todesart, bei der der Todeskampf oft mehrere Tage dauern konnte, bis schließlich Lähmungserscheinungen und Herzversagen der Qual ein Ende bereiteten.

Geißelung und Verspottung gehörten zum Ritual der Kreuzigung. Der Leichnam blieb am Kreuz hängen. Er war |18| selbst in seiner Qual den Menschen zu Spott und Verachtung und den Vögeln zum Fraß freigegeben.

Die Hinrichtungsstätte Golgota lag nordwestlich außerhalb der Jerusalemer Stadtmauern auf einer Felskuppe. Jesus wurde hier um die Mittagszeit gekreuzigt. Er verstarb ungewöhnlich rasch bereits nach drei Stunden mit einem lauten Schrei (Mk 15,37). Jünger, die »letzte Worte« hätten hören können, waren nicht anwesend. Einige galiläische Frauen (unter ihnen Maria von Magdala) standen in der Nähe. Nicht mehr zu klären ist, ob die Geschichte, nach der Josef von Arimatäa den Leichnam von Pilatus erwarb und ihn noch am Abend in seinem eigenen neuen Felsengrab bestattete (Mk 15,42–45), einen historischen Kern hat.

Die Schuldfrage

Die Frage nach der Schuld am Tod Jesu, die in der Geschichte zwischen Juden und Christen eine so verhängnisvolle Rolle gespielt hat, lässt sich sinnvoll gar nicht stellen und noch weniger beantworten. Feststellbar ist lediglich, dass Jesu Botschaft und Verhalten beim Volk, bei den jüdischen Religionsführern und bei der römischen Justiz Reaktionen auslösten, die unter den damaligen Gegebenheiten mit einer nachvollziehbaren Handlungslogik aller Beteiligten zu dem bekannten Ende geführt haben. Auf keinen Fall kann und durfte jemals aus den Reaktionen des damaligen jüdischen Rates eine Kollektivschuld des jüdischen Volks am Tod Jesu hergeleitet und als Vorwand für judenfeindliche Aktionen missbraucht werden. Die Frage nach den Schuldanteilen an Jesu Tod hat allerdings bereits die biblischen Texte beschäftigt und geprägt. Erkennbar ist |19| dort eine zunehmende Tendenz, die Verantwortung für den Tod Jesu von der römischen Besatzungsmacht auf den Hohen Rat der Juden zu verlagern.

Sagen uns die neutestamentlichen Texte nicht viel mehr?

Wer die bisherigen Ausführungen mit dem vergleicht, was in den Evangelien über die Vorgänge um Jesu Tod zu lesen ist, der wird sich wundern, wie viel davon noch nicht zur Sprache gekommen ist. Die Rede war bisher nur von dem, was als historisch gesichert oder als wahrscheinlich gelten kann. Die Passionsgeschichten der Evangelien sind keine historischen Protokolle, sondern Christuszeugnisse aus der Sicht der nachösterlichen Gemeinde.

Die Passionstexte sind wohl die ältesten zusammenhängenden Erzählüberlieferungen der jungen Christenheit. Sie bilden auch den Kernbestand des ältesten Evangeliums, das des Markus, das um 70 entstanden ist, also etwa vierzig Jahre nach Jesu Tod. Der Theologe Martin Kähler hat daher das Markusevangelium als eine »Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung« charakterisiert. Die Passionsgeschichte bezieht sich zwar auf Jesu Weg hin zum Tod, sie hat dennoch keinen zusammenhängenden Erzählfaden, sondern ist aus Einzeltraditionen zusammengesetzt, die von Markus und von den Verfassern der anderen Evangelien bearbeitet und ergänzt worden sind. Dabei ging es nicht um die Ergänzung der spärlichen historischen Fakten, sondern um Deutungen der Geschehnisse, um Einbindung der Passionsereignisse in den Christusglauben, um Bekenntnisse, die sich seit Ostern zu artikulieren beginnen. Diese Bekenntnisse, Deutungen und Predigten können selbst |20| wieder in der Form von Erzählungen gestaltet sein. Das ist für die Erzählweise der Alten Welt ganz normal und bis heute in der erzählenden Literatur üblich. (Wenn Ricarda Huch in ihrer Geschichte des Dreissigjährigen Kriegs Dialoge der handelnden Personen wiedergibt, so hat sie gewiss nicht an den Türen gelauscht. Sie hat diese Personen, deren Denken, deren Motive des Handelns und deren Charakter in diesen Dialogen zum Ausdruck gebracht und zugleich auch ihr Verhältnis zu diesen Personen.) Über den Charakter der biblischen Texte wird im Zusammenhang mit den Deutungen des Todes Jesu noch ausführlicher zu sprechen sein. An dieser Stelle genügt die Feststellung, dass wir die Texte der Passionsgeschichte nicht als historische Berichterstattung, sondern als Ausdruck des nachösterlichen Jesusverständnisses zu lesen haben.

|21| Wie erging es den Jüngern nach Jesu Tod?
Die hoffnungslose Lage der Jünger

Bleiben wir zunächst wieder bei dem historisch Greifbaren. Jesu schmachvoller Tod war für seine Jünger das Ende aller Erwartungen und Hoffnungen, das Aus für einen neuen Lebensentwurf, auf den sie alles gesetzt hatten. Die zwei Jünger, die sich nach Emmaus absetzten, fassten ihre Enttäuschung resigniert in dem Satz zusammen: »Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde.« (Lk 24,21)

Historisch betrachtet, ist Jesus mit seinem Aufbruch in eine neue Zeit gescheitert. Am Karfreitag war das auch die Einschätzung seiner Jünger. Keiner der Anhänger konnte in dieser Situation den Gedanken haben, dass Jesus diesen Tod ihnen zugute erlitten haben sollte. Jesus war gottverlassen gestorben, und die Jünger sahen sich ebenfalls von Gott verlassen.

Ein nicht fassbares Ereignis
Ostern

Der nächste historisch gesicherte Tatbestand – zwei Tage später – ist sehr überraschend. Dieselben Personen, die am Karfreitag angstvoll und entsetzt auseinandergelaufen waren und niedergeschlagen an ihr früheres Leben anzuknüpfen suchten, finden wir am Tag nach dem Sabbat (an unserem Sonntag) in einem unerwartet anderen Zustand. Das Neue Testament spricht von elf Jüngern, die Jesus in Galiläa sahen (Mt 28,16). Nach dem Lukasevangelium |22| hatten sich die elf Jünger und ein weiterer Kreis von Anhängern in Jerusalem versammelt, als Jesus in ihre Mitte trat. Er führte sie nach Betanien und entschwand dort ihren Blicken. Sie aber kehrten mit großer Freude nach Jerusalem zurück (Lk 24,50–53). Auch im Markusevangelium (16,14) heißt es: »Zuletzt zeigte er sich den elfen, als sie bei Tisch sassen.« Alle vier Evangelien berichten, Jesus habe die Versammelten dazu aufgefordert, ja sie ermächtigt, seine Botschaft in die Welt hinauszutragen. Nach dem Markusevangelium werden die Gläubigen mit der Kraft ausgestattet, in Jesu Namen Dämonen auszutreiben und selbst gegen tödliche Angriffe gefeit zu sein. Das Johannesevangelium fasst das in dem Satz zusammen: »Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.« ( Joh 20,21) In diesen Texten schlägt sich nieder, wie die Jünger am Tag nach dem Sabbat sich, ihre Situation und ihre Zukunft verstehen. Sie haben die Gewissheit, im Auftrag und in der Vollmacht Jesu ausgesandt zu sein, und sie haben den Mut und die Kraft, mit der Botschaft Jesu in die Welt aufzubrechen und vor Menschen hinzutreten. In dieser Verfassung haben die Jünger sich selbst erlebt, und so wurden sie auch von ihren Zeitgenossen wahrgenommen.

 

Historisch fassbar und belegt ist also die Tatsache, dass die noch am Karfreitag verschüchterten Jünger an vielen Orten die Gewissheit hatten, dass Jesus nicht im Tode geblieben ist, sondern sich in ihnen als lebendig erwies. Dieser historisch fassbare Tatbestand ist das eine. Ein anderes ist es, wie sich die solchermaßen Verwandelten und zum Handeln ermutigten Jünger diesen Umbruch und Aufbruch erklärten, der ihnen widerfahren war.

|23| Erklärungsversuche

Erklärungen für Neues und Unbekanntes suchen wir zunächst immer innerhalb unserer bisherigen Erfahrungswelt und im Rahmen der uns vertrauten Denkmöglichkeiten. Die einfache Logik legt ja nahe, dass jemand, der tot war und sich nach seinem leiblichen Tod als lebendig erweist, nicht im Tod geblieben sein kann. Saulus, der fanatische Christenverfolger, berichtet, wie er auf dem Weg nach Damaskus, wo er Christen aufspüren wollte, in einer Lichterscheinung, die ihn niederwarf, und durch eine Stimme vom Christenverfolger zum Christusverkündiger verwandelt wurde. Auch von Petrus und Jakobus werden solche Widerfahrnisse berichtet. Sie werden unterschiedlich beschrieben, weil sie sich offenbar jeder angemessenen menschlichen Beschreibung entziehen. Man mag diese Widerfahrnisse als Visionen, als Auditionen (Hörerlebnisse) oder als Erscheinungen Jesu bezeichnen. Das Gemeinsame und Entscheidende liegt nicht in den physischen Vorgängen und Erlebnissen, die geschildert werden (wie immer man sie interpretieren mag). Das Gemeinsame und Entscheidende liegt in dem, wie Menschen daraus hervorgegangen sind, nämlich mit der Gewissheit, dass Jesus lebt, dass sie von seinem Geist erfüllt sind und dass sie aus der Kraft dieses Geistes leben und Zeugen jener Liebe Gottes sein können, die ihnen in Jesus begegnet ist.

Ihre neue Lebenswirklichkeit haben diese ersten Christen in vielfältigen Formen zum Ausdruck gebracht: als Auferstehung Jesu von den Toten, als seine Erhöhung in die himmlische Welt (im Christuslied Phil 2) oder in einer Art Entrückung, wie sie im Judentum von Henoch, Mose und Elija erzählt wurde und in der Antike von Menelaos, |24| Herakles und Alexander bekannt war. Ein Auferstehungsvorgang wird aber bezeichnenderweise nirgendwo im Sinne eines historischen Faktums gegenständlich beschrieben. Die unterschiedlichen Aussagen sind eben nicht der Inhalt der neu geschenkten Lebenswirklichkeit und damit des Glaubens, sondern lediglich ein Ausdruck dafür und die Form, davon zu sprechen. Die Vielfalt dieser Ausdrucksformen macht deutlich, dass die persönliche Osterwirklichkeit, die uns ein Leben aus dem Geist der Liebe eröffnet, in den Analogien unserer Erfahrungswelt nicht eindeutig zu beschreiben ist. Aber alle diese Ausdrucksformen, auch die unterschiedlichen Geschichten vom leeren Grab, können als Hinweisversuche auf jene Lebenswirklichkeit gelesen werden, die sich dort eröffnet, wo sich Menschen von dem Geist Jesu erfüllen und führen lassen.

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