Der Wanderer

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„Lass gut sein Alter. Das machen wir das nächste Mal“, winkte Martie ab.

„Aber vergiss bloß nicht drauf“, erwiderte Michael.

„Schon gut“, meinte Martie, der sich an der Tür zu schaffen machte.

Michael kannte den Taxifahrer. Er hatte diesen schon des Öfteren als Fahrer gehabt, allerdings nur nachts.

„Alex“, rief Michael, der den Fahrer auf Anhieb erkannt hatte.

„Ich dachte, du fährst nur nachts.“

„Hallo Michael“, freute sich der Taxifahrer.

„Nein, ich habe die Schichten geändert. Mir war die Nacht zu anstrengend geworden, mit all den Besoffenen und Nutten!“

Erst jetzt merkte er, dass Michael auch nicht mehr zu den Nüchternen gezählt werden konnte.

„Anwesende ausgenommen“, setzte er schnell nach.

„Was haben sie denn mit dir angestellt“, wollte Alex von ihm wissen.

„Mit mir? Warum“, wunderte sich Michael.

„Mir gehts doch gut“, wollte er klargemacht wissen.

„Ja ja, bis auf die Tatsache das man dich kaum versteht und du aussiehst, als hättest du die ganze letzte Woche

durchgemacht!“

„Also, ich weiß nicht, was ihr habt“, gab Michael zu bedenken.

„Ich versteh mich einwandfrei.“

„Also“, sagte Martie.

„Tu mir einen Gefallen und bring ihn mir gut nach Hause. Und pass auf das er dir nicht in den Wagen!“

„Hier hast du einen Hunderter“, womit er Alex einen grünen Schein in die Hand drückte. Ich weiß nicht, ob Mr. Buffalo genügend Geld bei sich hat.“

„Aber ich hab doch … “, fing Michael an.

„Schon gut“, warf Martie ein.

„Wir rechnen schon noch ab. Und jetzt mach einen Abgang hier“, meinte er im Scherz. „Ich muss mich auch noch ein paar Stunden aufs Ohr hauen. Wird heute wieder eine lange Nacht“, gab Martie zu bedenken, wobei er auf dem Weg war, um Michael dabei zu helfen auf die Beine zu

kommen.

„Na komm. Hoch mit dir.“

Zusammen gingen sie zum Ausgang.

„Also dann, schlaf dich aus und lass für die nächsten zwei Tage mal die Finger vom Alkohol“, forderte er von Michael.

„Mach ich. Versprochen Tante Emma!“

Martie sah zu, wie Alex Michael in den Wagen half. Dieser, kaum dass er im Wagen war, fiel auf die Seite.

Martie sah dem Wagen nach, bis dieser um die

Straßenecke verschwunden war.

Er schüttelte den Kopf, sich wundernd und betroffen zugleich.

Er hatte schon den einen oder anderen Absturz Michaels

mitbekommen. Allerdings hatten sich diese Abstürze in den letzten Monaten gehäuft. Waren so häufig, dass er sich die Frage stellen musste, wie lange das noch gut gehen konnte.

Mit gesenktem Kopf ging er zurück in die Bar.

Er nahm sich vor, ihn ein wenig mehr im Auge zu behalten.

Zu oft, hatte er miterleben müssen, wie sich einer seiner Freunde zu Tode gesoffen hatte ohne, dass er etwas dagegen hätte unternehmen können.

Noch einer wäre zu viel.

Außerdem mochte er diesen Buffalo-Mike, wie nur er ihn nennen durfte. Hatte ihn vom ersten Tag an gut leiden können.

Schnell hatte er erkannt, dass hinter der Aufreißer-Fassade, sich ein Mensch befand, der wie so viele nur eines suchte.

Den Sinn im Leben.

Hatte so lange danach gesucht, bis ihm die Lust ausgegangen ist, danach zu suchen, um sich dann, enttäuscht vom langen erfolglosen Suchen, mit zu viel Arbeit und noch mehr Alkohol, abzulenken.

Zweifelhafte Freiheit

In den ersten Tagen nach seinem Rausschmiss schien sich die Welt für Michael im neuen Licht zu präsentieren.

Endlich genügend Zeit, um auszuruhen, durchzuhängen. Sich abends in Schale schmeißen, um all jene Orte zu besuchen für die er, eigener Meinung zufolge, nie genügend Zeit gehabt hatte.

Bars, Klubs und andere Orte, an denen es Wodka, Caipirinhas, und Tequila bis zum Abwinken gab. Ohne andauernd den Plagegeist im Hinterkopf hören zu müssen, der ihn ständig dran erinnerte, dass er es übertrieb. Das am nächsten Tag ein Job auf ihn wartete. Einen Job, den er zwar hasste, den er zum Teufel wünschte und dessen Sinnhaftigkeit er ohnehin schon lange infrage gestellt hatte.

All diese Dinge waren nun nicht mehr wichtig.

Freiheit hieß jetzt das magische Wort, dass so viel versprach, dass sich so gut anfühlte, als wäre es soeben erst geboren worden.

„So muss es sich anfühlen, wenn man neugeboren wird“, dachte er sich.

In den ersten Tagen, die auf seinen einsamen Absturz in Marties Bar folgten, hatte er sich – etwas das ihn selbst erstaunte - in seine vier Wände zurückgezogen. Lief in Shorts, barfüßig und frei von belastenden Gedanken in der Wohnung und dem kleinen Garten herum. Betrachtete die Nachbarin des Reihenhauses, die zwei Häuser weiter wohnte, befand, dass sie doch kein würdiges Opfer seiner sexuellen Lust sein sollte.

„Wer mit so einem Arsch herumrennt, ist es nicht wert von mir gebumst zu werden.“

Doch da war etwas.

Dieses drückende Gefühl, dass sich gnädiger Weise im Hintergrund hielt, aber dennoch immer da war und dass sich, so sehr es auch zu verdrängen versuchte, sich in seinem Kopf, festgekrallt hatte.

Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er dasaß, vor sich hinstarrte und versuchte etwas in diesem Raum zu erkennen, dass nur er sehen konnte.

Etwas, wovon er wusste, dass es ihn begleiten würde, bis er ihm Beachtung schenkte.

Da half nur eines.

Auf in die alten angestammten Jagdgebiete!

Zu Marties oder in einer der anderen Bars, in denen die Willigen zu Dutzenden an der Bar standen. Nur darauf wartend in seinem Bett zu landen oder auf dem Küchentisch.

Inmitten seines wiederaufgenommenen Lebensstils, der sich ohne Job umso vieles leichter leben ließ, machte er eine Entdeckung.

Eines Tages, er kam gerade aus der Dusche, besah er sich während des Abtrocknens im Spiegel.

„Mann, du siehst ja wirklich scheiße aus! Wann ist denn das passiert“, wunderte er sich über den Körper, den er im Spiegel sah. (Das Gesicht ließ er wohlweislich aus dem Spiel).

Konnte nicht glauben, dass dieses dünne Etwas, das ihm

da entgegensah, wirklich er war. Die Rippen waren deutlich zu sehen. Der einstige Sixpack, den er sich trotz der endlos langen Arbeitstage antrainiert hatte, war fast zur Gänze verschwunden. Seine Muskelmasse hatte sich in eine weiche Schlaffheit verwandelt.

Das was er da sah, schien nicht ihm zu gehören. Konnte es nicht!

So sehr ihn auch schockierte, was er da im Spiegel sah, so sehr er sich auch vornahm, dies zu ändern, so sehr wusste er, dass es ihm nicht gelingen würde.

Versuche, an seinem Aussehen etwas zu ändern, wie das

Auftragen einer Antifalten-Creme, die er sich in einem

seiner seltenen eitlen Anfälle besorgt hatte oder der Besuch im Sonnenstudio, hatten sich schon in der Vergangenheit, als zu stressig erwiesen.

Der Versuch etwas anderes zu trinken, dass weniger als 18 % Alkohol hatte, scheiterte an der Wirkungslosigkeit dieser Getränke.

Als Alex ihn von Marties nach Hause gebracht hatte, nahm er sich vor den Rest des Tages, wenn möglich die darauffolgende Nacht durchzuschlafen.

Kaum zuhause angekommen, streifte er die Schuhe ab, zog das Sakko aus, um es auf den Couchsessel fallen zu lassen, entledigte sich seines Hemdes, zog die Socken aus, die er dort liegen ließ, wo es ihm gelungen war, sie abzustreifen.

Es war ein schöner Tag. Es war warm und seine Terrasse lag in angenehmen Schatten.

Schließlich ging er in die Küche, um den Kaffeevollautomaten erneut wegen seines Höllenlärms zu verfluchen, und ließ sich von diesem einen großen schwarzen Kaffee machen.

Damit bewaffnet ging er mit auf die Terrasse.

Der Kaffee schmeckte schal.

Trotzdem, so viel wusste er, musste er runterkommen.

Zwei Schritte geradeaus zu gehen oder die Tasse mit dem Kaffee darin auf die Terrasse zu bringen, ohne auszuschütten, erwiesen sich als nicht zu bewältigende Challenge.

Als der Kaffee weit genug runtergekühlt war, trank er diesen auf einmal aus.

Seltsamerweise blieb der Wodka in ihm drin. Trotz des

Kaffees, der ihm in der Vergangenheit zu dem einen oder

anderen, rettenden Erbrechen verholfen hatte, wenn es wieder einmal darum ging, schnell und effektiv nüchtern zu werden.

Zumindest so nüchtern, dass man ihm nicht ansah, dass er vor Kurzem noch stockbesoffen gewesen war.

An diesem Tag auf der Terrasse schien dieses altbewährte Mittel nicht zu helfen.

„Na was solls“, fragte er sich.

„Wozu das Ganze?“

In den folgenden Wochen konzentrierte er sich darauf, sein Leben auf das für ihn, Wesentliche zu beschränken. Morgens, nachdem er das Schlimmste des

Hangovers bezwungen hatte, das erste Glas des Tages ebenso, genoss er die Zeit, die er plötzlich zur Verfügung hatte. Dabei hatte er herausgefunden, dass die Terrasse auch wirklich als solche benützbar war.

War sie früher nur ein räumliches Anhängsel, das sich nett ausmachte, ertappte er sich zunehmend dabei, dass er immer öfters auf dieser abhing.

Hier war er ungestört, allein.

Und wie gut ihm dieses Allein-Sein tat!

Die Welt, wie er sie kannte, hatte hier keinen Zutritt.

Dann und wann, erinnerte sich eine Hausfrau daran, dass es einen Staubsauger gab oder dass der Rasen, den ihr überforderter Ehemann zu mähen vergessen hatte, es wieder einmal nötig hatte.

Die einzigen störenden Hindernisse, die er gelten ließ.

Der Blick, den er von seiner Terrasse aus hatte, ließ ihn die angrenzenden Felder und Äcker sehen.

 

Erst jetzt, zu einem Zeitpunkt, als er bereits fünf Jahre hier wohnte, wurde er sich zum ersten Mal bewusst, das sich keine zweihundert Meter von seinem Zuhause einem Maisfeld befand.

Von den Windrädern, ganz zu schweigen.

Und dennoch, trotz all der Annehmlichkeiten, die er vor Augen hatte, konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, dass etwas fehlte.

Bis er sich der wachsenden Unruhe, die all diese ungewohnten Emotionen in ihm wachriefen, nicht mehr erwehren konnte.

Die Frage nach der Bedeutung, dieses und jenen, war zu mühsam, um weiterverfolgt zu werden.

Das Denken verschlang zu viel seiner Energie, ließ ihn unrund werden.

Also trank er. Trank, was ihm in die Hände fiel. Anfänglich darauf bedacht, nicht schon am Vormittag mit harten Sachen anzufangen, versuchte er es mit Bier.

Ein Vorhaben, das er schnell wieder bleiben ließ, da die milde Wirkung desselben, die ständig wiederkehrenden Gedanken nach dem Warum und Wieso, nicht abzutöten imstande war.

„Einfach nur dasitzen und Sein!“

Ein Satz den er, einem Mantra gleich, immer wieder vor sich hinsagte. Nicht wissend, warum er es tat.

Es tat ihm gut und das reichte.

Dieses Wiederholen des immer gleichen Satzes hatte etwas Beruhigendes. Es war, als würde er sich damit Balsam auf die Seele streichen.

„Hat Gefühl denn etwas mit Seele zu tun", fragte er sich. Fragen wie diese, die plötzlich von irgendwoher aufgetaucht waren, begleiteten ihn durch den Tag.

Je mehr er trank, umso drängender wurden diese.

Es überraschte ihn, dass er sich plötzlich, mit Fragen dieser Art beschäftigte. Fragen die von irgendwoher auftauchten, sich in seinem Kopf manifestierten und sein Innerstes in Anspruch nahmen.

Er wusste nicht, ob er versuchen sollte, sie zu beantworten?

Er ertappte sich dabei, wie er versuchte herauszufinden, ob und von welcher Bedeutung es wäre, würde er auch nur eine dieser Fragen beantworten können.

Jedes Mal ohne Ergebnis.

Anfangs versuchte er die Wichtigkeit dieser, seiner Gedanken zu leugnen, doch merkte er schnell, dass diese eine Art eigene Existenz angenommen hatten.

Es füllte seinen Kopf mit Dingen, die ihn allesamt nur für eine kurze Zeit beschäftigten. Hauptsache er musste sich nicht mit jenen Fragen beschäftigen, die so unnachgiebig nach oben drangen.

„Was würde es schon bringen, eine Antwort auf jene Fragen zu bekommen, an denen sich schon andere, weisere Männer wie er, die Zähne ausgebissen hatten?“

Dennoch – er konnte es nicht leugnen - war es ihm zu einer lieb gewordenen Gewohnheit geworden, einfach nur dazusitzen und über Dinge nachzudenken. Ein Widerspruch in sich, wie er fand, dem er aber trotzdem Raum gab.

Er fragte sich ob es an seinem Charakter lag oder einfach an der Art wie er, bis vor Kurzem noch, gewohnt war zu denken, dass ihn plötzlich dazu trieb, sich mit diesen Widersprüchen auseinanderzusetzen.

Hatte er sich tatsächlich begonnen sich zu verändern? Er wusste es nicht.

Oft gelang es ihm nicht, einen Gedanken längere Zeit zu halten. Immer wieder sprinteten diese, seine Gedanken davon. Fand sie nicht wieder. Um dann den Nächsten aufzugreifen.

Immer dabei, ein Glas mit bernsteinfarbenen, weißen oder gold-gelben Inhalt darin.

Eines Abends, war er am Boden liegend aufgewacht. Es hatte ihn zu frösteln begonnen.

Seine rechte Seite, auf der er zu liegen gekommen war, schmerzte.

Um ihn herum, war es dunkel und schnell wurde ihm klar, dass er schon seit geraumer Zeit hier liegen musste. Sachte, ganz langsam hob er den Kopf an. Irgendetwas schien ihn am Boden festzuhalten. Er tastete seinen Kopf ab, bemerkte eine feuchte, verkrustete Stelle an seiner Schläfe. Als er die Finger wieder vom Kopf nahm, sah er etwas Klebriges daran.

Im Dunkeln konnte er nicht ausmachen, was es war und so beschloss er aufzustehen.

„Hast du Idiot dir den Schädel aufgehauen", fragte er sich.

Sein Kopf hämmerte derart, sodass es ihm fast unmöglich war, sich aufzurichten.

Langsam, sehr langsam gelang es ihm, sich aufzurichten, um sich auf den Stuhl zu setzen.

Erschrocken sah er, dass jemand auf dem zweiten Stuhl, der in etwa zwei Metern Entfernung stand, saß.

„Na endlich aus dem Koma aufgewacht?“

Es war Martie.

„Was machst du denn hier?“

Ein Satz, den er nur mit Mühe aus sich herausbekommen hatte.

Wieder tastete er nach seiner schmerzenden Schläfe. Das Gefühl sich übergeben zu müssen wurde zunehmend stärker.

Martie stand auf, ging zur Wand, wo der Schalter für die Terrassenbeleuchtung war und betätigte diesen. Michael zuckte zusammen.

Das Licht schoss wie ein Blitz in seinen Kopf. Als er den Schock überwunden hatte, öffnete er langsam die Augen. Er sah etwas dunkles Rotes auf seinen Fingern.

„Scheiße, was ist denn passiert?“

Mit einem Blick, der seine ganze Unfassbarkeit ausdrückte, sah er Martie fragend an.

„Was denkst du, was passiert ist“, fragte Martie ihn.

„Nach dem Szenario zu urteilen, das ich hier sehe, würde ich sagen, du hast dir derart die Kante gegeben, dass du einfach umgekippt bist.“

Auf dem Tisch standen mehrere Flaschen. Die meisten davon leer. Daneben ein Karton, in dem der Rest einer angebissenen Pizza lag.

„Wie bist du denn hier reingekommen und warum hast du mir nicht aufgeholfen, verdammt noch mal“, beschwerte sich Michael.

„Schon vergessen", fragte dieser ihn.

„Du hast mir vor ein paar Monaten einen Schlüssel gegeben, damit ich nach dem Rechten schauen kann, wenn du, aus welchen Gründen auch immer, nicht auftauchen solltest.“

„Was an und für sich eine weise Entscheidung war. In Anbetracht der Tatsache das du die größten Psychoschlampen dieses Universums abschleppst und dir seit geraumer Zeit danach ist, dich zu Tode zu saufen.“

„Jaja, schon gut“, erwiderte Michael.

Was er im Moment am wenigsten brauchen konnte, war eine Moralpredigt.

„Und warum lässt du mich einfach so am Boden liegen?“ Es war ihm tatsächlich gelungen einen vorwurfsvollen Ton zustande zu bringen.

„Ich bin erst seit einer viertel Stunde hier“, sagte Martie.

„Ich dachte mir, dass es eine gute Idee wäre, mal bei dir vorbeizuschauen, nachdem ich seit über einer Woche nichts mehr von dir gehört hatte.“

„Seit über einer Woche“, fragte Michael ihn ungläubig. „Ja, mein Lieber. Seit über einer Woche.“

„Das erklärt aber noch immer nicht, warum du mich am Boden hast liegen lassen“, wollte er erneut von ihm wissen.

„Ich hätte mir eine Lungenentzündung holen können!“

„Oh, mach dir keine Sorgen“, begann Martie.

„Die Chancen, dass du an einer Lungenentzündung anstatt einer Leberzirrhose stirbst, stehen sehr gering!“

Michael war es mittlerweile gelungen, sich hinzusetzen. Betroffen sah er auf das halb geronnene Blut an seinen Fingern.

„Ich dachte schon, dass du den Löffel abgegeben hast“, ließ Martie ihn ohne besondere Regung wissen.

„Dann hab´ ich aber deine Leichen hier gesehen.“

Er deutete auf die leeren Flaschen.

„Ich hab' nachgesehen, ob du noch atmest, und versucht, dich wach zu bekommen.“

„Kein Chance! Du hast mich regelrecht von dir

weggestoßen. Also dachte ich mir, ich lass´ dich einfach so daliegen, bis dir dein mickriger Arsch abfriert.“

„Das erklärt natürlich alles“, versuchte Michael einen

Scherz.

„Mann, du siehst wirklich scheiße aus“, hörte Michael ihn sagen.

Michael sah sich seine Hand an, mit der er wieder seine Stirn berührt hatte.

„Ich muss ins Badezimmer“, sagte er und machte sich daran aufzustehen. Beim Versuch, sich auf seine Beine zu stellen, wurde ihm schwindelig.

„Uff“, war das Einzige, das er sagen konnte, bevor er wieder in den Stuhl sank.

„Komm´ ich helf´ dir."

Martie war aufgestanden, um ihm aufzuhelfen.

Während er noch versuchte, das Schwindelgefühl zu

unterdrücken, stöhnte er etwas, dass Martie nicht verstand.

„Na los, wir gehen mal ins Bad. Dort sehen wir, dass wir dich sauber bekommen, und dann marschierst du ab ins Bett!“

Im Badezimmerspiegel sah er die ganze Misere, die sein

Gesicht ausmachte.

„Bei Licht sieht das auch nicht besser aus“, meinte Martie.

„Du solltest eine Dusche nehmen“, schlug Martie vor.

„Du stinkst, als hättest du das letzte Mal vor einer Woche geduscht."

Michael hielt sich am Rand des Waschbeckens an und starrte in das, worauf er einmal stolz gewesen war.

„Was ist nur los mit dir", hörte er Martie fragen.

Michael antwortete nicht.

Er warf einen Blick auf das Spiegelbild seines Freundes, der ihn ungläubig betrachtete.

„Was weiß ich“, gab dieser zur Antwort.

Er unternahm den Versuch, den Kopf zu schütteln, unterließ es aber sogleich wieder.

„Was es auch ist, es tut dir nicht gut", sagte Martie schließlich.

Beide standen da, sahen sich das an, was einst ein erfolgreicher Mann Mitte Dreißig gewesen war.

„Ich bin ja kein Psychiater", begann Martie.

„Aber irgendwie sieht das nach einem astreinen Burn-out aus. Oder du bist einfach nur zu einem Alkoholiker verkommen, der die Finger nicht von der Flasche lassen kann."

„Danke“, sagte Michael darauf.

„Na komm schon“, sagte Martie.

„Sieh dich einfach mal an“, forderte er ihn auf.

„Du siehst furchtbar aus.“

„Als ich dich kennengelernt habe, warst du einer der

bestaussehenden Typen in meinem Laden! Heute würde

dich der Türsteher nicht mal bei der Tür reinlassen!“

Michael wusste, dass das, was sein Freund sagte,

stimmte. Das da im Spiegel war nicht er.

„Ich hab´s einfach nicht mehr im Griff“, gab Michael zu.

„Die ganze Scheiße hängt mir schon seit Langem zum Hals

raus.“

„Du meinst den Job“, fragte ihn Martie, der sich auf den Rand der Badewanne gesetzt hatte.

„Den auch. Tagein, tagaus, jede verdammte Woche, jeden Monat, das ganze Jahr über immer den gleichen Scheiß!“ „Immer der gleiche Stress, die immer gleichen kaputten Typen, mit denen du dich herumärgern musst. Keine einzige Scheiß-Woche, in der du weniger als 80 Stunden runterzubiegen hast“, antwortete Michael

„Jeden Abend eine andere abgefuckte Tusse im Bett, die du noch nicht mal leiden kannst. Und wofür?“

Abscheu stand in seinem Gesicht geschrieben.

„Eigentlich dachte ich mir, du liebst den ganzen Scheiß“, sagte Martie.

Michael hatte das kalte Wasser aufgedreht, begann

seine schmutzigen Finger zu waschen, um sich danach

vorsichtig mit beiden Händen über sein Gesicht zu fahren.

„Aaahh“, stöhnte er dabei, besah sich seiner Schläfe und sah das er sich schlimmer verletzt hatte, als er es wahrhaben wollte.

„Vielleicht sollten wir das ansehen lassen“, schlug

Martie vor.

„Ach was“, wandte Michael ein.

„Ein bisschen Schlaf und Ruhe und ich bin wieder wie neu."

„Ich glaube nicht das es mit ein bisschen Schlaf getan sein wird“, sagte Martie.

„Ich glaube, dass du eine größere Pause brauchst. Ich wollte es dir gegenüber zuerst nicht erwähnen, aber du hast dich in den letzten Monaten ziemlich verändert.“

„Was heißt ich habe mich verändert“, wunderte sich Michael, während er sich weiter um seine Schläfe kümmerte.

„Na ja, im Feiern und Saufen warst du schon immer eine

Koryphäe, aber das, was du in den letzten Monaten abgeliefert hast, war nicht mehr normal.“

Michael betastete noch einmal seine Schläfe und kam zu dem Entschluss es sein zu lassen.

Schließlich nahm er ein Handtuch, tupfte sich damit sein Gesicht trocken und setzte sich neben Martie auf den Rand der Badewanne.

„Ich dachte mir, du wirst schon wissen, was du tust“, fuhr Martie fort.

„Du bist immerhin ein erwachsener Mann.“

„Aber …“, warf Michael ein.

Michael unterbrach ihn.

„Stimmt schon“, erwiderte Michael.

„Was, stimmt schon“, fragte Martie ihn verwundert.

„Ich hab´s übertrieben", gab Michael zur Antwort.

„Und…, wenn du es weißt, warum lässt du es dann nicht sein“, wollte Martie von ihm wissen.

 

„Weil es mir scheißegal war! Außerdem hats Spaß gemacht!“

Martie sah Michael erstaunt von der Seite an.

Die Pause, die jetzt eingetreten war, war länger als die vorhergegangene.

„Ich glaube, du solltest Hilfe in Anspruch nehmen“, schlug Martie ihm vor.

„Und was soll ich machen“, fragte ihn Michael.

„Runterkommen vom Alkohol, wäre ein guter Anfang!“

„Du meinst eine Entziehungskur“, fragte Michael und sah zum ersten Mal seit Beginn der Unterhaltung seinen Freund direkt ins Gesicht.

„Ich denke, dass das die beste Entscheidung wäre, die du im Moment treffen könntest. Ansonsten gebe ich dir

beste Chancen, dass du bestenfalls Vierzig wirst. Wenn du Glück hast.“

Michael wusste, dass er recht hatte. Er senkte den Kopf und ließ das Gehörte auf sich wirken.

„Eine Idee, wie ich das angehen könnte“, fragte er ihn.

Plötzlich begann er sich todmüde zu fühlen.

„Ich höre mich mal um und sag dir in den nächsten zwei Tagen Bescheid“, sagte er.

„Jetzt aber muss ich wieder zurück."

„Ich hab für morgen noch ein bisschen was zu tun“, sagte er und stand auf.

„Du solltest ins Bett. Ernsthaft."

Martie stand vor ihm, sah auf ihn runter. Wartete darauf, dass er seiner Aufforderung Folge leisten würde.

„Ja …, ich geh´ schon.“

„Du bist ja schlimmer wie meine Mutter. Möchte mal wissen was das Luder so treibt.“

Langsam begann er aufzustehen, schwankte.

Martie gelang es gerade noch, ihn am Arm zu greifen.

Zusammen trotteten sie in sein Schlafzimmer, wo er sich auf sein Bett fallen ließ.

„Ich lass dir draußen das Licht brennen“, sagte Martie. „Du wirst irgendwann mal wach werden und einen Höllenbrand haben. Ich will nicht schuld daran sein, wenn du dir das Genick brichst."

Michael, zu müde zum Sprechen hob die Hand, zum Zeichen, das er ihn verstanden hatte.

„Also, ich melde mich dann in den nächsten zwei Tagen bei dir und lass dich wissen, was ich herausgefunden habe.“

Er wartete ab, wollte sichergehen, dass er ihn verstanden hatte.

„Und lass die Finger vom Alkohol“, ermahnte er ihn.

Da aber war Michael schon eingeschlafen.

Anfang ohne Ende?

Monate später

Die ersten Schritte aus der Klinik waren für ihn die

schwierigsten. Zum zweiten Mal ging er nun durch diese

Türen. Zum zweiten Mal hatte er einen Entzug über sich

ergehen lassen und auch diesmal wusste er nicht, ob er es durchhalten würde.

Er ging ein paar Schritte von der automatischen Tür weg und sah sich um.

Martie war weit und breit nicht in Sicht.

„Hat er auf mich vergessen“, fragte er sich. Unsicherheit befiel ihn. Dieses Gefühl, dass ihn seit dem fehlgeschlagenen ersten Entzug nicht mehr losgelassen hatte, begleitete ihn nach wie vor.

Sein Selbstbewusstsein hatte sich irgendwo zwischen dem ersten und zweiten auf ein Minimum reduziert.

Die behandelnden Ärzte, allen voran Frau Doktor Pichler, hatten ihr Bestes versucht.

Doch trotz aller Bemühungen, die sich diese Frau Doktor Pichler – er hatte sich immer gedacht, dass Pichler eigentlich kein Name für eine Therapeutin war – diese mussten einen gut, zumindest seltsam klingenden Namen wie Brückenthaler-Teufer oder so ähnlich haben – gegeben hatte, sein angeknacktes Selbstvertrauen wieder aufzumöbeln. Bis zu seinem Ego hatten sich diese Bemühungen noch nicht herumgesprochen.

Diese Frau Doktor Pichler, die ihn auch dann nicht aufgegeben hatte, als sie ihn eines Tages dabei ertappt hatte, wie er sich einen der kleinen Seelentröster zu Gemüte führte, die er vom Kiosk an der Ecke hatte.

„Von wegen offener Entzug, der gute Erfolgschancen verspricht“, hatte er spöttisch gemeint.

Woraufhin sie ihn, unter vier Augen ins Gebet nahm.

„Hören sie“, sagte sie in ihrem mütterlich wohlwollenden Ton.

„Ich glaube wirklich, dass Sie alle Chancen haben, es zu schaffen. Aber sie müssen sich schon ein bisschen selbst an den Eiern packen!“

Der Satz hatte ihn wachgerüttelt. Nicht zuletzt deswegen, weil er ihr kaum zugetraut hatte, so einen Satz von sich zu geben. Aber auch deswegen, weil er – etwas das er fast schon vergessen hatte – solche tatsächlich sein Eigen nannte.

Wenn auch in leicht verkümmerter Form.

„Oder wollen sie wirklich wieder auf der Straße oder in Notunterkünften landen“, war das Nächste das sie ihn gefragt hatte.

Eine derartige Ansprache vergaß man nicht so leicht.

Die Aussicht darauf, dass er eventuell wieder in der Gosse landen würde, rüttelte ihn einigermaßen wach.

Von da an war es mit der relativen Freiheit vorbei und aus dem offenen Entzug wurde ein geschlossener.

Das Leben auf der Straße hatte er kennengelernt, als er herausfand, dass Freunde – zumindest, wenn es einem nicht ganz so rosig geht – rar werden.

Fast glaubte er schon, dass diese einen Riecher dafür hatten, wenn es einem dreckig ging.

Dies war, ziemlich schnell geschehen. Gleich nachdem ihn der Vermieter wegen der Mitrückstände an die frische Luft gesetzt hatte.

Natürlich hatte er Martie um Hilfe bitten können. Schon war er dabei, die Tür zu seiner Bar aufzumachen. Wäre fast eingetreten, um ihn zu fragen, ob er ihm helfen könnte. Von drinnen hörte er die Stimmen der Gäste. Alle waren sie froh gelaunt. Sie lachten, Gläser klirrten.

Nein. Er hätte sich zu Tode geschämt.

Das Ego des Trinkers ist nur dann ein starkes, wenn es unter dem Einfluss von ausreichend Alkohol steht!

An diesem Tag aber hatte sein Alkoholpegel noch nicht den rechten Level erreicht und so blieb die Tür ungeöffnet.

Wie schlimm konnte es schon werden? Ein paar Tage würde er das Ganze schon aushalten! Irgendetwas würde sich schon auftun.

Mit der richtigen Dosis Alkohol…!

Nie würde er die Zeit vergessen, die er auf der Straße und in Notschlafstellen verbracht hatte!

Schon in der ersten Woche, dachte er daran, sein Leben zu beenden.

Schnell fand er heraus, dass es nicht so einfach war, ein Plätzchen zu finden, an dem er sich ausruhen konnte. Stundenlang und am Stück lief er durch die Straßen Wiens, immer darauf bedacht die ruhigeren Seitenstraßen zu benutzen.

Den Gedanken, auf einen Bekannten zu treffen, der ihm auf den ersten Blick ansah wie es um ihn stand, fürchtete er mehr, wie von einem Parkwächter erwischt zu werden, der nichts Besseres zu tun hatte, als ihn von der Parkbank zu verscheuchen, von der er sich erhofft hatte, ein wenig Ruhe zu finden.

Doch dieses Leben kostete Kraft. Das Herumlaufen in den Straßen, kaum Schlaf und der Hunger, der ihm das restliche bisschen an Energie raubte, ließ ihn eines Tages in das Büro der Caritas gehen.

An einer der Anschlagtafeln, die er zuvor nie beachtet hatte, fiel ihm eine Angebot dieser Organisation auf, das besagte, dass man dort Hilfe finden könnte.

Seine Scham überwindend, die ebenfalls schwächer wird, wenn man nur müde genug ist, betrat er das Büro in einem der Vorbezirke.

Noch am gleichen Tag fand er sich in einer Notschlafstelle wieder.

Schon am Vormittag, lange bevor er diese betreten konnte, tigerte er nervös vor dem grauen Gebäude herum. Konnte er es einerseits nicht erwarten wieder einmal unter einer Dusche zu stehen, frische Kleidung am Leib zu spüren und in einem Bett zu schlafen…! Er fühlte sich erniedrigt, als so tief gesunken, wie ein Mensch nur zu sinken imstande ist.

Die Tatsache, dass er soweit gesunken war, ließ ihn fast zu dem Entschluss kommen, sich von irgendwoher Geld zu besorgen, um sich eine oder zwei Tetra Pak Wein vom Diskonter zu besorgen, sich auf eine versteckte Parkbank zu setzen, um sich die Scham so lange aus dem Bewusstsein zu trinken, bis er eingeschlafen oder gestorben wäre.

Doch die Tatsache, dass er wieder in die kleine Kirche gehen musste, um solange am Schlitz des Spendenbehälters herumzubohren, bis er das nötige Kleingeld daraus hervorgezwängt hatte, behagte ihm noch weniger.

Also wartete er bis es achtzehn Uhr geworden war.

Jede Faser seines Körpers sehnte sich nach Alkohol. Dutzende Male ging er an einem kleinen Supermarkt vorbei, der gleich um die Ecke der Notschlafstelle lag. Schon von draußen konnte er unweit des Eingangs, die sauber aufgestellten Flaschen stehen.

Es hätte nicht viel gebraucht, nur wenige Schritte, ein Griff in das Regal, eine Flasche gegriffen unter dem Mantel gesteckt …!

Ein Pärchen, dass an ihm vorbeiging, sah ihn mit schiefem Blick an.

Im ersten Augenblick angewidert von deren Reaktion, hinderten ihn diese Blicke daran, aus dem geplanten Verbrechen ein tatsächliches werden zu lassen.

Drei Nächte lang verbrachte er mit fünfzehn anderen Männern in einem Schlafsaal, der nach Schweiß, Alkohol und billigem Essen roch.

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