Das Erbe

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Helmut H. Schulz

Das Erbe

Roman einer Familie

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Erstes Buch Der Angriff

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Zweites Buch Führungswechsel

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Drittes Buch Die Falle

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Nachtrag

Impressum neobooks

Erstes Buch Der Angriff

1902

Kurz nach der Jahrhundertwende strebt ein Pilgramer nach Berlin. - Er ist jung, etwas über zwanzig, und er verfügt über eine Kraftreserve, die den Pilgramers sonst nicht eigen ist. Während dieser vorerst letzte Pilgramer reist, mit Bahn und zu Fuß, steckt er im Geist seine Möglichkeiten ab. Daheim in der Kleinstadt wartet ein winziges Baugeschäft auf den Nachfolger, aber es gibt nichts mehr zu bauen. Das schlesische Provinznest verschläft die Zeit. Und der junge Mann hat eine gute Ausbildung genossen, eine zu gute für das Kaff und ganz ungewöhnlich für die Zeit und für die soziale Schicht, der er entstammt, biederen Maurermeistern, die mit einem Gesellen und einem Hucker Wohnhäuser errichteten, sich ernährten, allmählich zu einem gewissen Wohlstand gelangten.

Pilgramer hat studiert. München kennt er und Italien, er ist ein begabter Zeichner, er kann nachempfinden, die Linien eines Bauwerkes teilen sich ihm rasch mit, er kann auch ausdenken und umsetzen. Das ist seine Reserve: Ab jetzt werden die Pilgramers von Maurern zu Baumeistern avancieren, kein Pilgramer wird mehr Kelle und Waage in die Hand nehmen, Zirkel und Reißschiene lösen sie ab.

Draußen gleiten die Schatten der Bäume vorbei, im Zugabteil hat der Schaffner die Lampe gelöscht. Es wird hell in östlicher Richtung. Pilgramer sitzt in eine Abteilecke zurückgelehnt.

In Berlin, heißt es, schießen die Bauten nur so aus der Erde. Aus den Provinzen des Deutschen Reiches ergießen sich Menschenströme in die Hauptstadt. Berlin nimmt alle auf, gibt ihnen Brot, Arbeit; einen Pilgramer soll die Stadt reich und berühmt machen. Pilgramer ist ganz sicher, daß er sein Ziel erreichen wird, vielleicht nicht auf Anhieb, aber langsam, Zug um Zug. Noch eine Reserve: Er will arbeiten, er will mehr arbeiten als andere, er dünkt sich etwas Besseres als andere. Zwar lernte er im väterlichen Betrieb Handwerk, lernte schwere körperliche Arbeit kennen, aber er durfte auch eine gute Gewerbeschule besuchen. Dem Vater dieses letzten Pilgramer dämmerte beizeiten, daß mit dem soliden alten Handwerk und seinem goldenen Boden nicht mehr allzu viel los war. Deshalb baute er dem Sohn eine Treppe nach oben. Gehen muß der junge Mann seinen Weg allein. Statt der Wanderjahre, die der künftige Meister eigentlich zu absolvieren gehabt hätte, ging Pilgramer nach der Gewerbeschule zur Akademie. An der Gewerbeschule wurde sein Zeichentalent entdeckt, gefördert, dem jungen Mann wurden Rosinen in den Kopf gesetzt:

Ich werde ein großer Architekt, ich werde berühmt, die Auftraggeber reißen sich um meine Entwürfe, ich werde Mitglied der Akademie, ich werde Professor, ich heirate eine Frau aus den besten Kreisen, reich, schön und jung. Ihr baue ich einen Palast, so wie er mir vorschwebt, aus weißem Marmor, mit Brunnen und Gärten, einen Traum. Ich habe Kinder, Söhne und Töchter. Ich werde vom Kaiser empfangen, Talent adelt seine Träger. Ich bleibe immer der, der ich bin, ich werde sehr lange leben, ich werde meine Frau überleben und meine Enkel und Urenkel heranwachsen sehen, ich, ein großer alter Mann: Und das ist die dritte Reserve Pilgramers: seine Phantasie, seine unbändige Einbildungskraft.

An jenem grauen Morgen steigt er um, die Bahnhöfe werden kleiner, die Ortschaften unansehnlicher. Er kommt aus großen Städten, aus Metropolen, er haßt diese grauen zurückgebliebenen Städte. Zuletzt fährt er eine Wegstunde mit einem Bauernwagen, läßt seitwärts die Beine herausbaumeln, bekämpft seine üble Laune. Der Wagen hält vor dem Vaterhaus; es ist dem jungen Mann fremd geworden. Als er durch die Tür tritt, empfängt ihn der muffige Geruch ungelüfteter Zimmer, feuchter Keller. Mutter und Schwester eilen dem Sohn und Bruder entgegen. Der Vater folgt langsam.

Es ist Wochentag. Obgleich der Sohn und Bruder zurückerwartet wurde, ißt die Familie in der Küche. Sie ist geheizt, getrunken wird Malzkaffee mit einem Schuß Kuhmilch, gegessen wird altes hartes Brot und Pflaumenmus. So ähnlich mag das erste Frühstück der Pilgramers immer ausgesehen haben, trübe, karg, von Geiz zeugend. Aber so wurde auch Pfennig zu Pfennig gelegt; jetzt Goldmark auf einer Bank. Für einen Moment ist Pilgramer seinen Eltern dankbar, dem müden und gebeugten Maurermeister, der alten Frau, und sogar der·Schwester; er wird sich bewußt, daß sie alle schwere Opfer gebracht haben, seinetwillen.

Er ist bewegt, schweigt, verschiebt das Gespräch mit dem Vater von Tag zu Tag. Schließlich muß er reden. Und während er redet, bricht das Feuer in ihm durch, treibt seine Phantasie Blasen. Der junge Mann will sein väterliches Erbe ausgezahlt bekommen, er schwört hoch und heilig, nie wieder etwas zu fordern, er droht, für immer wegzugehen, mit der Familie zu brechen, er verspricht noch mehr und droht Schlimmeres an. Er weiß genau, gibt er jetzt nach, erleidet er eine erste Niederlage, wird er in dem Kaff hängen bleiben.

Was den Vater umstimmt, ist eine Tatsache, die der alte Handwerksmeister anerkennen muß: Es hat keinen Sinn, einen jungen Mann zum Baumeister zu machen, um ihn danach in einer Kleinstadt anzubinden. Ein neues Opfer muß gebracht werden. Von Geld trennt sich der alte Mann schwer, noch schwerer vielleicht als von dem Sohn. Ein erster Sieg.

Der junge Mann fiebert der Verwirklichung seines Traumes entgegen. Er kann die Aufbruchsstunde kaum erwarten, nichts hält ihn hier. Bei der letzten Unterredung mit dem Vater reicht ihm der Alte, neben guten Wünschen und Ermahnungen, neben trüben Prognosen und der Versicherung, der Sohn könne jederzeit zurückkehren, ein Schreiben über den Tisch. Der Brief ist an einen Regierungsbaurat Straßburger gerichtet, er wird in diesen Tagen abgehen. Mit Straßburger hat der alte Meister gelernt, der ist rasch was geworden, er wird dem Sohn des einstigen Lehrkollegen weiterhelfen, falls er kann. Er wird können, und er wird wollen. Bargeld bekommt der junge Mann nicht in die Hand, aber einen Scheck, der freilich nur im Ganzen eingelöst werden kann. Soviel Mißtrauen ist in dem Alten. Der Sohn war draußen, man sieht ihm die Veränderung an. Er ist ein verbummelter Student, ein Künstler, der Vater bewundert seinen Sohn, aber zwischen Vater und Sohn ist eine Mauer gewachsen. Beide fühlen, sie können nicht mehr weiter miteinander gehen.

Von Mutter, und Schwester ist der Abschied schwerer. Und vor ihnen kann sich der junge Mann eher offenbaren, ihnen verspricht er goldene Berge. So hoch griff diese Bürgerschicht noch nie, jetzt wird Mutter und Schwester ein neues Bewußtsein durch den Sohn vermittelt: Mit Geld ist alles erreichbar. Wenn man ein Palais bezahlen kann, darf man es auch bewohnen, es gibt keinerlei Schranken mehr zwischen diesen gesellschaftlichen Schichten. Das leuchtet den Frauen nur zu rasch ein.

Was ist aus dem Sohn und Bruder geworden; aus dem dummen Provinzler? Ein Gaukler, ein Lügner, ein Weltmann, der Geld ausgibt, ohne zu fragen, woher es kommt? Doch wohl nicht. Er will ja was, will was werden und will was sein, ist berauscht von seiner Jugend und von seiner Kraft.

Mitten in der Nacht bricht er auf, jetzt, wo alles entschieden ist. Er entschließt sich zu laufen, zu fahren, wenn ihn jemand mitnimmt. Es ist nicht Geiz, der ihn treibt, Pilgramer ist nicht geizig, nicht von Natur aus, er würde Geld mit vollen Händen ausgeben, verspräche er sich einen Nutzen davon. Er will sich die Stadt ergehen, und er hofft, seine Unrast unterwegs durch neue Eindrücke zu dämpfen. Und er läßt sich plötzlich Zeit, macht oft Rast, liest in einem der Bücher, die er mitschleppt. Viel Gepäck besitzt er nicht. Was er später brauchen wird, kann er nachschicken lassen.

 

Es wird Ernst. Was vor Tagen bloß Traum gewesen ist, muß jetzt modelliert werden.

Ein Mann geht nach Berlin, rüstig und voller Hoffnung.

Erstes Kapitel

1

Was Georg Pilgramer, der Enkel jenes Eroberers und Gründers, ohne den Unfall wahrscheinlich unterlassen hätte: Fremdes, nicht für ihn Bestimmtes zu lesen. Daß er es doch getan hatte, war aus Langeweile geschehen, als Folge einer ungeduldig ertragenen Genesung. Übrigens hatten weder Schelsky noch Lisa, schon gar nicht Koblenz oder sonst jemand, der dabei war, vor dem morschen Geländer im Treppenhaus gewarnt. Schelsky später: Pilgramer habe gerade Vortrag gehalten, die hundertjährigen Drechseleien an den Treppengeländern gelobt, da habe sich die Güte des Holzes als brüchig erwiesen. In Wahrheit hatte Pilgramer nicht über das Geländer gesprochen, sondern über die erhoffte Berufung in den Baustab der Semperoper. Städteplaner Schelsky glaubte jedoch nicht an den Wert der Semperoper. Er suchte Architekten für das Städtebauinstitut zu gewinnen und entwickelte Pläne für Satellitenstädte. Auch verlegte Schelsky künftige menschliche Behausungen in die Tangwälder der Meere, pries die Kühnheit der Architekten von morgen und gab sich überhaupt optimistisch. Lisa behauptete später, Pilgramer habe ihm geantwortet, Schelsky könne ja keine Stunde Autofahrt ohne Gleichgewichtsstörungen ertragen, also auch in keiner fliegenden Stadt wohnen. Etwa bei diesem Punkt des Gespräches hatte sich Pilgramer mit dem Rücken an das Geländer gelehnt, ein Zeichen von Weltfremdheit.

Später fügte sich alles zu einer Kette zusammen: der Unfall, die erzwungene Ruhe und Unruhe, Zwang, sich zu entscheiden, das Bewußtsein, die Hälfte des Lebens ohne wirkliches Ereignis gelebt zu haben. Was Wunder, daß der Enkel Rat in den Dokumenten seiner Familie suchte, den Briefen und Hinterlassenschaften des Großvaters, eines berühmten Mannes, des Vaters, eines eher berüchtigten Akteurs - alles geriet dem Enkel zur Analyse, riß ihn genaugenommen in eine Karriere, die er nicht wollte und die auch rasch endete, weil er sie nicht gewollt hatte.

«Geh diesem Rattenfänger nicht ins Netz.» Koblenz.

Aber der hatte eigentlich keinen Grund Schelsky einen Rattenfänger zu nennen, suchte er doch selbst Pilgramer einzufangen. Den Wunschtraum des Architekten Pilgramer taten jedenfalls beide mit der gleichen Geste ab, Hirngespinste.

«Eine Kirche bauen, ein Schloß, profan oder sakral; jedenfalls groß wie Michelangelo, wie Eosander», dabei blieb Pilgramer, freilich nicht ohne Ironie.

Ab jetzt interessierte sich Lisa, eilige Journalistin, die ein paar Zeilen für den Lokalteil brauchte, mehr für den Mann als für den Denkmalschützer Pilgramer.

«Warum reißen sich alle Leute um Sie, Herr Stadtarchitekt?»

«Weil ich der Größte bin, ich erkläre es Ihnen morgen Abend, wenn ich Sie abhole.»

«Wenn Sie was? Ich hab mich wohl verhört.»

Und Schelsky: «Was heißt Stadtarchitekt? Kleiner Anfänger.»

Es war nichts weiter als eine Frotzelei gewesen und der Anlaß einfach zu belanglos, drei Architekten zufällig auf einem Bau, nein, in einem alten Haus, das wiederhergestellt; werden sollte, und eine Journalistin, die zwanzig Zeilen für den Lokalteil suchte.

Auch über das Wetter konnten sich Lisa, Schelsky, Koblenz , und Pilgramer später nicht einig werden. Nach Pilgramer soll es ein heiterer Tag gewesen sein. Vorfrühlingshaftes Wetter habe die Kinder auf den Spielplatz von Monbijou gelockt. Das Bad sei noch nicht geöffnet gewesen, an den Böschungen des Spreeufers Angler, in langsamer Fahrt Schubschiffe oder bloß Zillen in Richtung Weidendammer Brücke.

Journalistin Lisa glaubte nicht, daß dieser Spreearm überhaupt befahren wurde. Pilgramer schlug vor, seine Behauptung nachzuprüfen. Die vier Schachspieler auf dem Platz Monbijou erwähnte Pilgramer ausdrücklich, das heißt, zwei Schachspieler rücken die Figuren, während die beiden anderen die Schlacht leiten, Feldherren ähnlich auf sicheren Hügeln das Offensivrisiko tragend.

Koblenz, kurz vor dem Sturz Pilgramers: «Risiko? Aber jede Menge. So was kann ich dir bieten.»

Der Sturz durch das Geländer auf die untere Treppe des Hauses in der Oranienburger Straße sah zuerst nicht schlimm aus. Pilgramer hatte sogar wieder auf den Beinen gestanden, noch ehe einer bei ihm war. Dann schwoll der Knöchel rasch an. Schelsky und auch Pilgramer hielten das für eine Verstauchung. Koblenz brachte ihn in die Unfallklinik. Schelsky fuhr mit, er fragte, ob Pilgramer Schmerzen habe. Pilgramer hatte Schmerzen, und er tat etwas Vernünftiges, er schnitt den Schuh auf; anders hätte er den Fuß nicht mehr aus dem Leder gebracht.

Nach der Operation, das Bein im Galgen, war ihm klar geworden, daß ihm eine Bedenkzeit eingeräumt wurde. In Ruhe konnte er sich entscheiden: Semperoper, Institut oder Koblenz. Das letztere Angebot schied er sofort aus, ihm fehlten Grundlagen im Industriebau. (Koblenz war im Begriff, nach Theerberg zu gehen, um ein Kraftwerk zu errichten.) Ihm fehlten aber auch Grundlagen im Städtebau, das heißt in Theorie und Planung. Freilich war es das alte Lied bei ihm, er hätte jede Arbeit angenommen, erfüllte sie nur die eine Bedingung, seine Neugier zu reizen.

Auch als er nach Hause geschickt wurde, wenig später, konnte er sich nicht entscheiden. So mochte Schelsky schon recht haben mit der Behauptung, Pilgramer sei ihm kurz nach der Operation sonderbar vorgekommen, launisch, empfindlich, in einer Krise steckend. Mit Familie habe sich Pilgramer umgeben, mit Schatten, mit dem alten Pilgramer, einem Greis, noch immer unheimlich lebendig, mit Fred Pilgramer, tot zwar, aber noch gegenwärtig.

Lisa hatte einen guten Grund, den kranken Pilgramer zu besuchen, sozusagen halbamtlich, mit Blumen immerhin und enormen Frisörkosten.

«Machen Sie das nicht gern, diesen Denkmalschutz?»

«Ich verrate Ihnen was, Lisa, ich mach alles bis zu einem gewissen Grad gern, und solange ich es gern mache, bin ich auch gut.»

«Dann sind Sie oberflächlich?»

«Nein, ich bin mit Familie geschlagen. Es ist gar nicht so einfach zu erklären. Mein Großvater war mal ein großer Architekt, mein Vater war auch so was Ähnliches. Bürgertum und stink fein und ziemlich reich. Dagegen machen Sie mal was.»

«Der alte Herr, der mich hereingelassen hat?»

«Ja genau, der Senior, ach was, die Hauptfigur, der König auf dem Schachbrett, aber der auf der Verliererseite. Dann ist noch eine Tante aus jenen glorreichen Tagen da, eine Lady Hamilton, und ein Bild von Lovis Corinth, ein Haufen Zeitungsausschnitte, eine unmögliche Villa, die Herr Hubalek gebaut hat, zu dem ich über meine Mutter in Beziehung stehe. Er war ihr erster Mann, ehe mein Vater sie heiratete, und er war Chef oder Büroleiter bei meinem Großvater, und natürlich ist er auch Architekt und ewig im Exil. Nun soll noch einer kommen und sagen die Zeit vergeht.»

Bei dem Stichwort Zeit stand Lisa auf, aber sie versprach, den Kranken wieder zu besuchen, und Pilgramer ließ sich ihre Telefonnummer aufschreiben.

Lisa, zur Rechtfertigung: «Sie müssen mir ja noch ein paar Informationen geben.»

Um also darauf zurückzukommen, ohne den Unfall hätte Pilgramer kaum gelesen, was nicht für ihn bestimmt war, den ersten Brief des alten Herrn an den Anarchisten und Architekten Hubalek zum Beispiel. (Es handelte sich um die Antwort auf einen angeblichen Glückwunsch zum 85. Geburtstag des alten Herrn, aber Hubaleks Brief ließ sich nicht finden. Das brachte Georg auf den Gedanken, der Brief existiere nicht, sei fingiert um der Antwort willen. Warum dieses Theater? Und weshalb erst jetzt, lange nach dem Geburtstag?) Während der Untätigkeit fiel dem jungen Pilgramer einfach in die Hände, was der alte Herr gesammelt, Briefe, Notizen, Zeitungsausschnitte, zunächst nicht überschaubar für Pilgramer. Fiel es ihm wirklich in die Hände, oder spielte ihm der alte Herr seine Archivreste zu?

Der alte Herr behandelte den Kranken schonend, mit hinterhältiger Milde, als habe er nur auf den Augenblick gewartet, da dem Enkel Zeit eingeräumt worden war, nachzudenken. Vielleicht so: Eine Masse Fremder, die mit Pilgramer gar nichts zu tun hatten, wollten ihm plötzlich Ratschläge erteilen.

Der alte Herr brachte dem Kranken einen Teller Suppe ins Zimmer, legte ihm Löffel und Brot zurecht, betonte die eigene Mäßigkeit. Nie habe er gierig geschlungen oder sich gemästet, sauren Unstrutwein habe er vorzugsweise getrunken; ein Stück Brot, eine Schnitte Schinken und ein Apfel, das habe ihm meist genügt. So bewahre man sich ein langes Leben, dabei werde man nicht krank. Man stürze auch nicht auf der eigenen Baustelle, wenn man sie schon betrat, was gar nicht nötig.

Der Enkel schluckte alles, die Suppe und die Hinweise auf gesunde Lebensführung.

Der alte Herr trug eine knapp sitzende Hose, bei Jugendmode gekauft, leichte Stoffschuhe und einen Pullover.

«Hat sich eigentlich Herr Hubalek mal gemeldet?»

«Vor längerer Zeit», der alte Herr wollte sich nicht recht erinnern, schützte sein biblisches Alter vor, «kann man noch schreiben mit solchen Händen?»

Aber die Hände des alten Herrn zitterten nicht, der Brief an Hubalek, mochte er nun abgeschickt worden sein oder nicht, zeigte ruhige schnell geschriebene Buchstaben, und der Text zeugte von einem klar und sicher arbeitenden Geist.

«Soll ich nachhelfen», der junge Pilgramer beschloß, den alten Herrn zu stellen, und zitierte aus dem Brief neben dem Teller Suppe: «Ihren Glückwunsch zu meinem Fünfundachtzigsten hat mir Lab», Spitzname Georgs, nur in der Familie gebraucht, «mahnend auf den Tisch gelegt. Obgleich ich Ihren Brief von damals nicht beantwortet habe, aus Vergeßlichkeit», als ob der alte Herr vergeßlich gewesen wäre, «aus anderen Gründen, über die ich mich nicht näher auslassen will, danke ich Ihnen für die Aufmerksamkeit. Mir fällt eine Stelle bei Swift ein, wo dem Reisenden die ganz Alten vorgeführt werden, die nicht sterben können. Töricht ist es, die zu loben, die intensiv, aber kurz gelebt haben; ich ziehe es vor, intensiv und lange zu leben, aus dem einen Grunde, weil das Leben nicht wiederholbar ist. Fred ist gestorben, mein herrlicher Sohn, mit neunundfünfzig, Sie erinnern sich, er war ein Desperado und ein Spieler, ein konsequenter, also erfolgloser Spieler!»

Ironisch blickte der Enkel den alten Herrn an. Der saß still, den Römerkopf etwas gesenkt, auf den hageren Wangen die Bartspitzen, wie Kristallsplitter, der starke weiße Schnurrbart. Noch gaben die Zähne der unteren Gesichtspartie genügend Festigkeit. Das Haar trug der Senior dicht am Kopf gestutzt und nach vorn gekämmt.

«Das soll ich geschrieben haben?»

«Wer sonst?» Georg Pilgramer begann sich zu ärgern. «Das ist ja noch nicht alles. Ich zitiere: Gemalt hat Fred und sogar vier Bilder in der Akademie ausgestellt, als die Herren den entzückenden Einfall hatten, ihre dilettierenden Mitglieder öffentlich bloßzustellen. Die bekannten Schacheröffnungen hat Fred um eine Finesse bereichert, die heute unter der pompösen Bezeichnung Skandinavisch-Pilgramer in jedem Lehrbuch über Schachtheorie steht, sofern es mehr als drei Bände umfaßt. Ein Ärzteorchester hat Fred geleitet, Söldner war er, Militärjurist, Lehrer für Handelsrecht, Bauunternehmer und zuletzt wohl auch Architekt. Für die Fehler wie für die Vorzüge meines Sohnes bin ich nie blind gewesen, er besaß die Intelligenz und Rücksichtslosigkeit eines Straßenräubers.»

Hier korrigierte der alte Herr: «Dein Vater besaß nur eine sehr mäßige Intelligenz. Das war aber nicht der Grund, weshalb er scheiterte, Dumme oder Beschränkte sind zum Erfolg geboren. Es waren die Zeiten, Dein Vater mußte sich zu oft umstellen. Du kennst diese Zeiten nicht, du kennst auch die davorliegende Zeit nicht, die trügerische Ruhe des Kaiserreiches. Unter einem Zero wiegt man sich immer in Sicherheit, die dann von dem darauffolgenden Nero beendet wird. Eine Null hat entweder zu bleiben oder gar nicht erst zu kommen; ich weiß, die Römer bezogen diese Bemerkung auf Papst Sixtus, der alles andere als eine Null war, aber du siehst, auch umgekehrt wird daraus eine Art Wahrheit. - Nein, ich vermisse die leichtblütige Faulheit Freds, seine Fähigkeit, uns zu unterhalten oder in Atem zu halten. Daß er kalt war wie eine Kobra und ebenso gefährlich, steht auf einem anderen Blatt. Er hat jedenfalls glauben machen können, wer weiß wie nützlich zu sein; mit dieser Eigenschaft kann man bis heute überall Ministerpräsident werden. Mit dem gesunden Menschenverstand ist es ja im ganzen genommen nicht weit her.»

 

Der alte Herr war katholisch, nicht frömmelnd, er ging zwar in die Kirche, gab vor, an Stellvertretung und Sakramente zu glauben, beichtete sogar, vertraute auch der Macht uralter Tradition, aber sein Katholizismus war auf die Form gerichtet und weniger auf den Mythos.

«Du hast dieses leichte Blut geerbt», schloß der alte Herr, «auch wenn du es nicht wahrhaben willst.»

Pilgramer stutzte, vielleicht hatte der alte Herr recht, und er fand es erstaunlich, daß sein Großvater so stark in der Erinnerung an den Sohn lebte, dem er doch ein zwiespältiges Zeugnis ausstellte. Vielleicht sollte er, der Enkel, der Empfänger all dieser Botschaften sein.

«Leichtes Blut ist vielleicht untertrieben», sagte der Enkel, der die Bemerkungen seines Großvaters mindestens für nachdenkenswert hielt. Hubalek, der angebliche Empfänger dieser Nachrichten, saß in Edinburgh, atmete schottische Luft, und Georg wußte, daß der alte Herr die Flucht Hubaleks nie gutgeheißen hatte. Hubalek hätte bleiben sollen, nicht aus Räson, sondern aus Neugier, wie viel ein Mensch ertragen kann, darin wenigstens stimmte der Enkel mit dem Großvater überein.

Hubalek war auf vielfache Weise mit der Familie verbunden, und so durfte der alte Herr wohl schreiben, Hubalek würde Elfie nicht wiedererkennen, würde auf der Straße an ihr vorbeigehen, ohne sie zu grüßen. Dick, alt und sehr moralisch sei sie geworden. Um so schlimmer, daß sie alle drei in dieser Neubauwohnung leben mußten, die sie dem tragischen Umstand verdankten, daß sich Frau Hubalek, damals schon Frau Pilgramer, in Mahlsdorf erhängt hatte.

Mehr schrieb der alte Herr nicht dazu, nichts Bedauerndes, nichts Freundliches, er stellte einfach fest.

«Nenn es anders als leichtes Blut», nahm der alte Herr den Faden wieder auf, «aber dann frage dich zuerst, was die Leute an dir finden, weshalb sie kommen, um dich zu sich herüberzuziehen. Was hast du bisher gebaut? Nichts. Wenigstens nichts von Bedeutung. Da ist Schelsky, vom Wahn der Aktion befangen», der alte Herr las ziemlich aufmerksam, was die jüngere Germanistik an Faust entdeckte. «Koblenz, vielleicht etwas mehr als ein Dramatiker, braucht dich. Solange ich dich kenne, bist du der Mittelpunkt deines Freundeskreises gewesen, einfach wegen deines Erbes, um nichts eigentlich. Du taugst zum Anführer einer Bande Mitläufer, genau wie dein Vater.

Pilgramer bewegte das Gipsbein, nicht gerade entzückt davon, so unverblümt die Wahrheit gesagt zu bekommen. Er lenkte zurück ins Sachliche, übrigens wirklich neugierig auf die Antwort des Großvaters.

«Was würdest du an meiner Stelle tun, zu Koblenz gehen oder zu Schelsky?»

«Architektur ist eine verflucht langlebige Sache», sagte der alte Herr vorsichtig, «wenn dem Architekten längst fremd geworden ist, was er erdacht und gebaut hat, so stehen die Zeugen seiner begrenzten Einsicht noch immer. Übrigens, die Frage, wer denn nun das siebentorige Theben erbaut hat, ist absolut rhetorisch. Bau ist immer. Gewerkeleistung, und der Name bezeichnet einfach die Epoche oder den, der über die Mittel disponieren konnte, der König, der Präsident, der Führer, das Volk - hier ist mir sogar eine absteigende Reihe geglückt. Diese ganze Dialektik ist mir zu dürftig, und daß sich deine Generation aufgerufen fühlt, die Frage zu beantworten, die ein Theatermann aufgeworfen hat, um einer·effektvollen Antwort willen, ist noch trauriger.

Hier wollte Pilgramer eingreifen, er glaubte es sich schuldig zu sein, endlich einzugreifen. Der alte Herr fuhr jedoch fort zu reden.

«Städtebau, doch Wohnungsbau, oder? Wir haben damals die Mansarde geschaffen, den Hinterhof, ach was, die Reihe von Hinterhöfen. Wir haben das Menschenvieh kreuz und quer gestapelt, ein Termitenstaat sozusagen», er lachte jedoch nicht, «und dann kam Hubalek mit den Bauhäuslern, den Tollhäuslern. Alle, die nach staatlicher Regulierung schrien, haben ja nun die Quittung bekommen. Man kann endlich sehen, was staatliches Bauen kostet und wie das Produkt aussieht, nicht besser, nicht schöner. Jemand hat zwei Kühe, die Regierung erschießt die eine, läßt die andere melken und vergießt die Milch, eine Hemingway zugeschriebene Bosheit.»

Pilgramer wäre nicht der Sproß dieser Familie gewesen; hätte er jetzt nicht gelacht, innerlich zugestimmt, die gedrechselte Sentenz über die schlichte Wahrheit gestellt.

«Ich habe alle Torheiten miterlebt, die eine Regierung machen kann, richtiger, die sie nicht unterlassen kann.»

Was in dem alten Herrn vorging, hätte Pilgramer gern gewußt, einem einst erfolgreichen, jetzt längst vergessenen Architekten, dem es vergönnt gewesen, eine Epoche mitzugestalten.

«Als ich hier ankam, schrie alles nach Wohnungen, Wohnungen sind ja immer knapp, wir haben gebaut auf Teufel komm raus, den alten Osten, alles freie Terrain bebaut. Die neue Epoche zog herauf. Als der Kaiser gegangen war, begann die Ideologisierung des Bauens, Sozialprogramme kamen, es hatte schon seinen Grund, weshalb ich nicht mehr gebaut habe nach 1925 oder nur wenig. Dann diese babylonische Glasur, der Moskauer Zuckerbäckerstil mit der preußischen Komponente zu kleinen Fenstern, was angeblich klassizistisch sein sollte. Darüber ging der Bauhäusler Hubalek zugrunde. Es ist in der Tat leichter, eine Serie Raumschiffe zu bauen, als ein Land mit Wohnungen zu versorgen, das halte ich prinzipiell für unlösbar. Zweifellos werden wir eher außerirdische Kolonien besitzen. Das ist nicht etwa ein Witz, sondern meine wohlbegründete Meinung. Jedenfalls ist vollbracht, was wir damals nur eingeleitet haben, es wird nicht mehr gebaut, sondern montiert. In solch einem Haus wohnen wir jetzt, in einer Konstruktion von Hygienekäfigen für Menschenaffen, die Bauhauskathedrale des Sozialismus ist eine Brutstätte für Neurosen. Das ist der Endpunkt dieser Entwicklung.»

«Jetzt bin ich, genauso schlau wie vorher», erklärte der Enkel.

«Ich bin damals in der Industrie was geworden», sagte der alte Herr, sich erhebend, «das heißt nicht, du sollst es ebenso machen. Es fragt sich, was du überhaupt willst. Ich habe den Eindruck, du hast gar kein Ziel. Ich hatte eins, ich wollte reich werden, schnell reich werden. Das ist für dich wohl zu gering.»

Pilgramer hob die Schultern. Er warf noch einen Blick auf den Brief und bot an: «Soll ich dir den Schluß vorlesen?»

Der alte Herr nickte gutmütig, und der Enkel las: «Sie haben mir empfohlen, mich über die Beschwernisse des Alters hinwegzusetzen, indem ich aufschreibe, was mir in einem halben Jahrhundert widerfahren ist. Zuerst hat mir der Gedanke zugesagt, obwohl ich nicht die geringste Langeweile verspüre. Weiter darüber nachdenkend bin ich aber zu dem Schluß gekommen, es lohnt nicht, Rückschau auf ein lächerliches Spektakel zu halten. Wir, die Erbauer von einst, die betrogenen Betrüger, können wohl nichts mehr mitteilen. Es ist schon so, wenn die abtretende Generation rein gar nichts mehr zu sagen hat, schreibt sie Memoiren. Sollte ich mich doch aufraffen, dann nicht um Lebenserfahrung weiterzureichen, sondern aus einem edleren Grund: um meinen Enkel zu ärgern, dessen Perspektivbewußtsein mir auf die Nerven geht.»

Hier folgte Pilgramer nicht mehr, er regte sich auf, überschüttete den alten Herrn mit Vorwürfen. Der verteidigte sich damit, er sei ein einsamer alter Mann geworden, der sich sehr unterscheide von dem kräftigen jungen Kerl von einst.

«Kannst du dir das vorstellen? Berlin um die Jahrhundertwende? Wenn man zum Frankfurter Tor reinkommt, gelaufen natürlich, was sind wir früher gelaufen, rechts das alte Biesdorfer Schloß, Entbindungsanstalt für kaiserliche Kurtisanen, heute vom Sirenengesang der Fabrikmädels erfüllt, kannst du dir das noch vorstellen, eine Stadt in der Frühsonne, im Gespinst der Verheißung?»

«Das kann ich mir nicht vorstellen», erwiderte Pilgramer erschöpft.

2

Lab will sich einmischen, er hat ein Recht darauf. Über seinem Schreibtisch hängt ein Bild des alten Pilgramer aus der Zeit, die in dem Brief heraufbeschworen werden soll, nicht für Hubalek, sondern für Lab, ein Bild von Lovis Corinth, auf Veranlassung Hubaleks gemalt, wenige Jahre also vor dem Tode des berühmten Malers. Das Bild hatte einen beträchtlichen Wert. Lab sieht schon die Zeitungen. Lisa könnte die Meldung geschrieben haben, eigener Bericht, unbekanntes Bild Corinths entdeckt, aber Lab denkt nicht daran, das Bild preiszugeben, er will es nicht verkaufen, abgesehen davon, daß ihm das Bild gar nicht gehört, sondern dem Großvater.

Das Bild, Berlin vom Osten aus gesehen, zu früher Stunde, schattenlos, zart grau, eine lange mild gezackte Linie, die sich im Dunst verliert, jedenfalls eine große Stadt, eine reiche Stadt, eine Metropole wie London, Paris, Wien, Rom, in Berlin, sachta, isset schön, sachta. Im Hinterland, in Alt-, Mittel- und Neumark, in der Prignitz und in Pommern und weiter gegriffen, in Schlesien und Ostpreußen macht Berlin von sich reden. Zwar sehen die berühmten alten Städte auf Berlin herab, die Zentrale eines Militärstaates mit einer Provinz als, Verpflegungsdepot nach Fontane, zwar verließen noch gestern die Leute das Land Preußen, wenn sie konnten, mit einem Fluch und einem Steinwurf, kaum hundert Jahre ist das her, und was sind hundert Jahre für eine Stadt? Berlin, ein Kaff, ohne Kultur, ohne Ausstrahlung, ohne Wirtschaftsleben. Es hielt sich kein Lessing, kein Voltaire. Schlüter, Schinkel und Eosander zusammen ergaben noch keinen Michelangelo, nicht mal einen Knobelsdorff, weshalb also strebt das Volk nach Berlin?