An der Wolga will ich bleiben

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An der Wolga will ich bleiben
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Dieser Roman schildert das Schicksal der Wolgadeutschen von 1763 bis kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, also fast zweieinhalb Jahrhunderte lang über mehrere Generationen. Hunderttausende Männer, Frauen und Kinder haben das weite Land an der Wolga besiedelt und urbar gemacht und den Boden mit ihrem Schweiß und Blut getränkt. Doch die Saat, die sie gesät, haben am Ende andere geerntet. „An der Wolga will ich bleiben“ ist das Schicksalsbuch dieser Menschen, die alle mit ihrem Leben und ihrer Liebe, mit ihrem Leiden und ihrem Tod daran mitgeschrieben haben. Ist ihre einst blühende Welt auch durch Hass und Terror auf immer versunken, sie selbst bleiben auf ewig unvergessen.



Frei erfunden ist das Wolgadorf Bachhausen, das für so viele andere Gründungen der deutschen Einwanderer steht. Historisch nachweisbar sind dagegen viele Personen, von der Zarin Katharina über den Räuberhauptmann und falschen Zaren Pugatschew bis zu Politkommissaren, GULag-Personal und Opfern des stalinistischen Terrors. Somit ist nicht nur ein Gesamtbild vom Leben und Leiden der Wolgadeutschen entstanden, sondern zugleich auch ein Spiegelbild der russischen und sowjetischen Geschichte der letzten zweieinhalb Jahrhunderte.





„Der Himmel ist hoch,

 und der Zar ist weit.“





Altes russisches Sprichwort







ERSTER TEIL



Unter der Knute des Zaren






Der Besucher - Auftakt

1



Träge strich der Novembernebel durch die Kronen der Linden, die am Eingang des Dorffriedhofs Wache hielten: Zeugen einer versunkenen Zeit. Nur hin und wieder noch segelte ein abgestorbenes Blatt herab, die meisten Äste waren schon kahl, ein paar Raben saßen darauf und krächzten. Das Laub auf dem Weg raschelte bei jedem Schritt des alten Mannes, der langsam von Grab zu Grab ging, die Namen auf den Steinen las, zum Teil vermoost und unleserlich geworden, und immer noch nicht gefunden zu haben schien, was er suchte.



Eine Weile schon hatte ihn der Pastor von seinem Amtszimmer aus beobachtet, dessen Fenster zum Friedhof hin lag. Der Besucher kam ihm unbekannt vor, aus dem Dorf war er nicht. Der Pastor beugte sich wieder über die Notizen auf seinem Schreibtisch, er bereitete sich auf die morgige Predigt vor, die Totenmesse und die anschließende Beerdigung: Wieder einmal war ein Mitglied seiner Gemeinde verschieden. Er kam nicht so recht voran mit seiner Arbeit, der alte Mann ging ihm nicht aus dem Kopf. Mehrmals ertappte er sich dabei, wie sein Blick von dem Blatt Papier hinaus über die Grabstätten schweifte und nach dem Fremde fahndete, und hatte er ihn endlich erspäht, bedrängte ihn immer stärker die Neugier, wonach der andere wohl so geduldig Ausschau halte.



So verstrich die Zeit, die Standuhr schlug vier, der Pastor konnte kaum noch seine eigene Schrift lesen. Er stand auf, um das Licht einzuschalten, wobei er unwillkürlich wieder durchs Fenster schaute und weit hinten an der efeubewachsenen Friedhofsmauer den Alten noch immer auf der Suche fand. Wer weiß, was er da will, vielleicht kann ich ihm helfen, sagte er sich und trat hinaus. Der Mann, so um die Achtzig schätzte ihn der Pastor, doppelt so alt wie er selbst, war mit dem Entziffern der Namen so beschäftigt, dass er die näherkommenden Schritte nicht hörte.



„Verzeihen Sie, wenn ich Sie störe, kann ich Ihnen helfen?“



Der Alte, der sich gerade über eine verwitterte Grabinschrift beugte, richtete sich auf und sah den Pastor an“



„Suchen Sie ein bestimmtes Grab?“



Der Fremde nickte. „Ja, Orner.“



„Und welchen Vornamen?“



„Irgendeinen, ich bin auf der Suche nach meinen Vorfahren.“



Der Pastor überlegte. „Orner... Im Dorf gibt es niemanden, der so heißt, und begraben ist hier auch keiner mit diesem Namen.“



„Aber sie stammen von hier. Vor mehr als zweihundert Jahren sind sie ausgewandert.“



„Damals sind viele Menschen nach Amerika gefahren.“



„Nach Russland“, fiel der Alte ein, „meine Vorfahren sind bis zur Wolga gezogen.“



„Wie gesagt, auf den Grabsteinen brauchen Sie nicht nach Orner zu suchen. Aber wenn sie ursprünglich einmal hier ansässig gewesen sind, dann müsste darüber etwas in den Kirchenbüchern zu finden sein. Wir könnten gemeinsam nachschauen. Wenn Sie das möchten, dann folgen Sie mir bitte ins Pfarrhaus.“



Dankbar nahm der alte Mann das Angebot an. Er war froh, als er endlich an dem schweren Eichentisch saß und sich ausruhen konnte, das lange Herumlaufen hatte ihn ermüdet.



Der Blick des Pastors glitt suchend über die Reihe von Kirchenbüchern auf dem Regal. „Wann genau sind Ihre Vorfahren von her ausgewandert, Herr Orner?“



„Schrenk ist mein Name.“



Verdutzt blickte ihn der Pastor an. „Haben Sie nicht gesagt, dass Ihre Vorfahren Orner heißen?“



„Ja, mütterlicherseits. Die väterliche Linie, die Schrenks, stammen aus Gera.“



„Also die Schrenks aus Thüringen und die Orners hier aus Hessen.“



„So ist es, und ihre Heimat hier haben sie drei Jahre nach dem Siebenjährigen Krieg verlassen, genau gesagt 1766.“



Der Pastor brauchte nicht lange zu suchen, bis er das richtige Kirchenbuch gefunden hatte. „Da haben wir es schon“, sagte er und blies den Staub vom Buchblock. Er blätterte darin und hielt dann inne. „Hier, sehen Sie, hier steht es eingetragen: `Johann Orner, geboren1725, verheiratet seit 1749 mit Elisabeth Schuster´. Fünf Kinder hatten sie -“



„Sechs.“



„Hier stehen nur fünf Namen: Hildegard, Friedrich, Paul, Anna und Andrea.“



Der Alte beugte sich über das Kirchenbuch, das der Pastor ihm zugeschoben hatte. „Ja, stimmt, das sechste Kind, es hieß Marie, ist schon drüben geboren worden, in Bachhausen.“



„Und hier unten ist auch vermerkt, dass sie am achten April 1766 die Gemeinde verlassen haben. `Nach Russland ausgewandert´, heißt es da kurz und bündig.“



„Ja, das sind sie“, sagte der alte Mann sinnend, „und hier“, er deutete mit dem Zeigefinger auf die Geburtseintragung des ersten Kindes, „diese älteste Tochter, Hildegard, ist die Stammmutter von allen Schrenks, die in Russland geboren worden sind.“



„Also Ihre Urgroßmutter oder eher wohl Ururgroßmutter?“



„Nein, viermal Ur davor, Hildegard war meine Ururururgroßmutter, und Georg, ihr Mann, mein Ururururgroßvater. Nach ihm bin ich übrigens benannt und nach meinem Großvater Hans.“



„Hans-Georg?“



„Ja.“



Weitere Eintragungen mit dem Namen Orner gab es nicht, auch nicht in anderen Kirchenbüchern. Gleichnamige Verwandte hatte es im Dorf nicht gegeben.“



„Ich bin froh, dass ich Ihnen habe helfen können“, sagte der Pastor. „Es muss wohl ein seltsames Gefühl sein, so weit in die Vergangenheit zurückzugehen, zu den Wurzeln sozusagen, aus denen sich Ihr Stammbaum entwickelt hat.“



„Wie oft habe ich davon geträumt, ins Land meiner Väter heimzukehren.“



„Sind Sie zum ersten Mal in Deutschland?“



„In Hessen ja, vor vier Monaten bin ich von Kasachstan gekommen zu meinen Enkeln im Bayerischen Wald und von dort aus nach Gera gefahren, wo ich noch ein Familiengrab von den Schrenks gefunden habe.“



„Wenn ich Sie richtig verstehe, wollen Sie hier bleiben.“



„Ich bin nach Deutschland gekommen, um in Deutschland zu sterben.“



„Damit sollten Sie es nicht so eilig haben, Herr Schrenk.“



„Ich bin achtzig.“



„Aber noch rüstig, Sie können hier noch viele Jahre leben.“



Der Alte nickte nachdenklich. „Alles liegt in Gottes Hand. Auf allen Wegen, die er mich geführt hat, habe ich seine lenkende Hand gespürt. Es war nicht immer leicht, das dürfen Sie mir glauben, die Prüfungen und all das Grauenvolle. Er hat gewollt, dass ich nach Deutschland heimgekehrt bin, ins Vaterland.“



Der Pastor blickte ihn prüfend an. Das Wort „Vaterland“ hörte er von seinen Gemeindemitgliedern nie, aber die Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Rumänien und anderen Ländern im Osten redeten noch so wie ihre Vorväter, für sie hatte „Vaterland“ nicht den Beigeschmack, den viele hierzulande nach dem verlorenen Krieg als nationalistisch gefärbt verwarfen, als nicht mehr zeitgemäß. Auch von Gott war bei ihnen häufiger die Rede als heutzutage im Westen üblich.





2



„Warum sind Sie überhaupt gekommen?“, wunderte sich der Pastor. „

Einen alten Baum


soll man nicht verpflanzen

, sagt ein Sprichwort.“



„Auch dann nicht, wenn er genug Wasser hat zum Leben, genug Erde und Licht?“



„Zugegeben, wir leben hier im Überfluss, aber Heimat ist Heimat, die gibt man nicht so leicht auf.“



„Wir haben sie schon lange aufgeben müssen.“



„Kasachstan?“



„Nein, an der Wolga, wo ich geboren bin. Nach dem Kriegsausbruch zwischen Deutschland und der Sowjetunion, sind wir von dort vertrieben worden. Kasachstan gehört zu den Gebieten in Asien, in die man uns deportiert hat.“



„War denn das Leben an der Wolga wirklich lebenswert?“



„In den Jahren vor dem Krieg ging es uns in der deutschen Wolgarepublik gut. Auch für uns, die Jugend, war es eine schöne Zeit. Im Sommer fuhren wir mit Booten die Wolga hinunter, badeten und sonnten uns an Buchten mit weißem Sand oder lagerten in den Laubwäldern, tanzten und sangen.

An der Wolga will ich bleiben, an der Wolga will ich sein,

 dieser Kehrreim des Wolgaliedes kam uns Wolgadeutschen damals aus vollem Herzen. Ich denke noch oft daran, wie die großen Betriebe an Feiertagen Frachtschiffe mieteten, auf denen Kapellen spielten, überhaupt konnte man bei Gesang und Tanz stundenlang auf der schönen Wolga spazieren fahren. In den Städten gab es russische und deutsche Theater, Kinos, verschiedene Klubs, Konzerte im Stadtgarten, und überall fanden immer wieder Tanzveranstaltungen statt. Es wurde nur Deutsch gesprochen, denn in vielen Gegenden unserer Wolgarepublik lebten kaum Russen. Ich selbst habe Russisch erst in der Armee gelernt.“

 



„Aber Sie lebten doch unter einem kommunistischen Regime, der Diktatur einer Partei, unter dem stalinistischen Terror.“



„Wir, die Jungen, waren es nicht anders gewöhnt, wir hatten schon schlechtere Zeiten erlebt, und so wie bei uns an der Wolga ging es auch sonst wo im ganzen Land viel besser, bis Stalin mit seiner großen `Säuberung´ begann. Nicht nur die Partei wurde `gesäubert´, auch unzählige andere Personen wurden willkürlich verhaftet, vor allem ältere Menschen und Intellektuelle. Niemand fühlte sich mehr sicher, jeder befürchtete, nachts geholt zu werden. Einer misstraute dem anderen, ein falsches Wort oder eine Kritik an Stalin konnte das Ende bedeuten, ja sogar schon ein Brief aus dem Ausland genügte. Mit dem `schwarzen Raben´, dem Gefängniswagen, fuhr die Polizei immer nachts vor und führten ihre Opfer ab, die dann im Kerker, tief unten in den Kellern, aus denen kein Laut nach draußen drang, misshandelt und gefoltert wurden, bis sie alles zugaben, was man von ihnen hören wollte, obgleich sie völlig unschuldig waren. Millionen Menschen sind in dieser Zeit umgebracht worden, Millionen für immer in Konzentrationslagern verschwunden. Auch mein Vater gehörte dazu, ein weithin anerkannter Chirurg und Professor für Medizin, Nie werde ich die Nacht vergessen, als sie ihn holen kamen. Nichts hatte er verbrochen, er war nur ein Intellektueller, noch dazu ein Deutscher, das reichte zur Liquidierung, ein Wort, mit dem sie den politischen Massenmord verbrämten.“



„Wann war das?“



„Siebenunddreißig, ich war damals dreiundzwanzig Jahre alt.“



„Und Ihre Geschwister? Haben Sie überhaupt welche?“



„Mein Bruder Albert war sechzehn, meine Schwester Ingeborg erst dreizehn. Eine schwere Zeit für meine Mutter, uns durchzubringen.“



„Vielleicht auch die schwerste in Ihrem Leben?“



„Da hat es Schlimmeres gegeben, Entsetzliches.“



„In Ihrer Kindheit oder später?“



„Sowohl als auch. Als ich 1914 geboren wurde, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, war das deutsche Wolgagebiet einer der größten Getreidelieferanten Russlands. Trotz aller vorangegangenen Schwierigkeiten waren im Laufe von anderthalb Jahrhunderten schöne und reiche Dörfer entstanden mit vielen begüterten und angesehenen Bauern. Wo früher Armut das Leben bestimmte, blühte jetzt Wohlstand. Bis dann die Oktoberrevolution kam, oder besser gesagt der Putsch Lenins und seiner Garde, und alles wieder zunichte machte. Von unserem Reichtum war nichts mehr geblieben, die Ratten schossen aus ihren Löchern, es herrschten Willkür und Chaos, Räuberbanden zogen plündernd durchs Land, die Intelligenz des Zarenreiches wurde ausgelöscht oder nach Sibirien verschleppt. Dazu kam in den Jahren einundzwanzig und zweiundzwanzig eine unvorstellbare Hungersnot, von den vierhundertfünfzigtausend Wolgadeutschen blieb kaum die Hälfte übrig, allein sechzigtausend Kinder waren unter den Verhungerten, von den Russen, Ukrainern und all den anderen ganz zu schweigen. Ohne Hilfe aus dem Ausland wären noch weitaus mehr verhungert. Das, Herr Pastor, war zum Beispiel eine Zeit, die ich zu den schlimmsten in meinem Leben zähle.“



„Ging es denn nach der Hungersnot wieder aufwärts?“



„Ja, trotz allem erholte sich unsere deutsche Wolgarepublik, sie wurde sogar mit den Jahren zu einer Musterkolonie für die gesamte Sowjetunion. Auch die Industrie entwickelte sich. Die Missernte von 1929 durch Hagelschlag traf unsere Bauern weitaus weniger hart als die Kollektivierung, die Stalin befohlen hatte. Wer mehr erzeugte als für den eigenen Bedarf, wurde enteignet und behielt nur das, was er am Leibe trug. Diese sogenannten Kulaken wurden von den Roten wie räudige Hunde davongejagt und nach Sibirien abtransportiert, allein etwa fünfzigtausend wolgadeutsche Bauern. Sie können sich nicht vorstellen, Herr Pastor, welche Gräueltaten dabei an der Tagesordnung waren und wie viele Menschen erschlagen, erhängt und erschossen wurden. Bei den Haussuchungen wurde alles auf den Kopf gestellt und beschlagnahmt, was nicht niet- und nagelfest war, auch bei den Bauern, die man noch nicht nach Sibirien verschleppt hatte. Die Roten wollten zeigen, wer jetzt Herr im Haus war, auch wenn ihr sinnloses und jede Ordnung zerstörendes Treiben zu einer neuen, verheerenden Hungersnot führte, die Millionen in den Tod trieb. Doch Stalin ruhte nicht eher, bis sämtliche Bauern Leibeigene des Staates waren. In dieser Zeit wurden auch alle Kirchen zweckentfremdet oder niedergerissen, die Glocken eingeschmolzen, die Pfarrer verhaftet oder ermordet. Jedes kirchliche Leben war erloschen.“



„Vorhin sagten Sie, dass es ihnen allen vor dem Zweiten Weltkrieg in der deutschen Wolgarepublik gutgegangen sei.“



„Ja, allmählich war auch alles wieder besser geworden. Es gab mehrere gute Ernten, besonders 1937, man hatte daher auch genug zu essen. Deutsche Schulen wurden eröffnet, Maschinen kamen, Elektrizität, ja man konnte endlich aufatmen unter den herrschenden Bedingungen und sogar wieder singen

An der Wolga will ich bleiben, an der Wolga will ich sein.



„Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie unterbreche“, sagte der Pastor und stand auf. „Mir fällt da gerade eine Stelle ein, die ich mal in Solschenizyns

Archipel


GULag

 gelesen habe.“ Er holte das Buch vom Bord und schlug es auf. „Hier“, fuhr er, die Seiten umblätternd, fort, „hier muss es stehen, eine Art Ehrenerklärung für die Russlanddeutschen. Unter den verschiedenen Nationalitäten des Landes, deren Merkmale und Lebensweise er schildert, bezeichnet er die Deutschen als

`ausnehmend tüchtig und arbeitsam´.

 Ja, und dann fährt er wörtlich fort:

`Wie einst auf dem von Kaiserin Katharina geschenkten fruchtbringenden Land, so setzten sie sich jetzt auf dem Stalin zugewiesenen kargen Boden fest´.“



„Damit meint er die schweren Jahre in Sibirien nach unserer Vertreibung bei Kriegsausbruch zwischen Deutschland und der Sowjetunion.“



„Ja, das steht auch hier: `

1941 blank und nackend ausgesiedelt, jedoch umsichtig und unermüdlich, ließen die Deutschen den Mut nicht sinken und schickten sich an, am neuen Ort ebenso ordentlich und vernünftig zu werken. Wo liegt auf der Erde jene Wüste, welche die Deutschen nicht in blühendes Land zu verwandeln verstünden? Nicht umsonst hieß es im früheren Russland: Der Deutsche ist wie ein Weidenbaum. Wo du ihn hinsteckst, schlägt er Wurzeln. Ob im Schacht, in der Traktorenstation oder auf dem Staatsgut, die Natschalniks waren des Lobes voll, bessere Arbeiter fanden sie nicht. Schon in den fünfziger Jahren hatten die Deutschen - unter den übrigen Verbannten, ja oft auch unter den Einheimischen - die besten, geräumigsten und saubersten Häuser; die größten Schweine; die milchreichsten Kühe. Ein deutsches Mädchen war eine begehrte Braut, nicht allein der Wohlhabenheit ihrer Eltern wegen, sondern weil sauber und anständig inmitten der durch und durch verlotterten Lagerumwelt´.“

 Der Pastor klappte das Buch zu. „Soweit das Zitat.“



„Er hat Recht. Schon immer haben wir bei den Russen in hohem Ansehen gestanden.

Der Deutsche hat den Affen erfunden,

 lautet ein Sprichwort, was so viel heißt wie, dass man ihm zutraut, selbst das Unmögliche zu schaffen. Auch in der Zeit des Kommunismus hatte sich an dieser Einschätzung nichts geändert. Immer wieder hielten die sowjetischen Agronomen ihren russischen Landsleuten die deutschen Kolchosen als Musterkolchosen vor. `Seht, wie es die Deutschen machen!´ sagten sie. `Warum soll bei euch nicht gehen, was bei den Deutschen geht?´“



Der Alte griff sich mit der Hand an die Stirn. „Verzeihen Sie, wo war ich vorhin stehen geblieben? Mit der Schilderung Solschenizyns über die Nachkriegszeit haben wir einige Jahre in meiner Erzählung übersprungen.“



„Ja, Sie hatten gerade von den Jahren davor gesprochen, von der besonders guten Ernte 1937 zum Beispiel, vom Aufschwung.“



„Ich hatte inzwischen die Siebenjahresschule beendet und sogar schon mit dem Studium am medizinischen Technikum begonnen, bis ich dann von heute auf morgen umsattelte. Ich hatte mir nämlich plötzlich in den Kopf gesetzt, Schauspieler zu werden, genau wie vor mehr als anderthalb Jahrhunderten mein Urahn Georg. Tatsächlich wurde ich auch in unserem deutschen Theater in Engels, so hieß unsere Hauptstadt, als Schüler, also sozusagen als Lehrling aufgenommen. Das übrigens war die schönste Zeit meiner Jugend.“



Der Pastor lächelte. „Dann sind Sie also Schauspieler geworden?“



„Dazu ist es leider nicht gekommen oder Gott sei Dank, wie man’s nimmt. Mit meiner Theaterlaufbahn war es nämlich mit einem Schlag aus, als ich zu einem Ausbildungslehrgang für Fallschirmjäger einberufen wurde, der länger als ein Jahr dauerte, und ab Herbst 1939 war ich dann Soldat in der Roten Armee. Zusammen mit vielen anderen Deutschen kamen wir nach Astrachan, der alten Festungsstadt am Wolgadelta, und nicht einer von uns ahnte, dass er