An der Wolga will ich bleiben

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Da die Hoffnung auf Teilhaberschaft in Vorsprechers Weberei in immer weitere Ferne dahinschwand, wurde Georgs Lage zusehends bedenklicher. In der Fabrik war jetzt nur noch selten etwas zu tun, und eine andere Verdienstmöglichkeit fand sich so wenig, dass er selbst bei größter Einschränkung oft Mühe hatte, sein Leben zu fristen. Wiederholt spielte er mit dem Gedanken zu fliehen, verwarf aber immer wieder alle Pläne, wenn er an die harte Bestrafung von aufgegriffenen Landsleuten in den Saratower Gefängnissen dachte. Zu weit erschien ihm die Grenze nach allen Seiten, und in welchem Kerker würde er wohl dahinschmachten, so fragte er sich, falls die Kosaken ihn auf der Flucht stellten. Es sei denn, es böte sich ihm eine ungewöhnliche Gelegenheit. Doch was und wann das sein sollte, stand in den Sternen. Dennoch war der Gedanke daran sein einziger Trost, nachdem jede Erwartung zerronnen war, den aufgezehrten Vorschuss je wieder zusammenzubringen oder auch nur genug für ein menschenwürdiges Leben zu verdienen.

Die Niedergeschlagenheit, die ihn bisweilen befiel, wenn er an einer besseren Zukunft zweifelte, erreichte ihren Tiefpunkt, als er eines Tages einen Brief von seiner Schwester erhielt, aus deren Haus er vor fünf Jahren in Unfrieden ausgezogen war. Sie teilte ihm darin mit, die Eltern seien gestorben, und machte ihm, wie es ihre Art war, bittere Vorwürfe, nicht auf der Beerdigung gewesen zu sein. Auf ein Wiedersehen mit dem Vater hatte Georg ohnehin nicht zu hoffen gewagt, denn als er 1764 von Gera als Handwerksbursche auf Wanderschaft gegangen war, hatte ein neuer Schlaganfall den kranken, alten Vater bettlägerig gemacht. Knapp zwei Jahre nach seinem Tod hatte auch die Mutter die Augen für immer geschlossen. Ihren Sohn noch einmal zu sehen, wie sie es sich auf dem Totenbett so sehr gewünscht hatte, war ihr nicht vergönnt gewesen. Warum er all die Jahre nicht geschrieben habe, hielt ihm die Schwester vor, ob er nicht wisse, was er seinen Eltern schuldig sei. Aber nein, er denke ja immer nur an sich, und das sei auch der Grund, warum die Tochter des Böttchers, die sich törichterweise einmal Hoffnungen auf ihn gemacht habe, nicht länger auf einen solchen Herumtreiber habe warten wollen und inzwischen einen braven Mann geheiratet und schon zwei Kinder habe.

Lange saß Georg da, den Brief in der Hand, in Gedanken an die Vergangenheit versunken. Mehr als einmal hatte er nach Hause geschrieben. Entweder wusste die Schwester nichts davon, was er jedoch für unwahrscheinlich hielt, oder die Post war nicht angekommen. Denkbar war, dass die Mutter ihm einen Brief gesandt hatte, den er jedoch nicht erhalten hatte; vielleicht auch hatte sie ihm nur schreiben wollen, es aber immer wieder hinausgezögert, weil sie durch Krankheit zu sehr geschwächt gewesen war. Jedenfalls hatte er bis jetzt keine Nachricht bekommen, trotz seines festen Wohnsitzes in Vorsprechers Haus. Diese Anschrift stand auch auf dem Umschlag, also musste die Schwester wohl einen seiner Briefe bei der verstorbenen Mutter gefunden haben. Ihre Vorwürfe ärgerten ihn. Wie hätte er auch nach Gera zur Beerdigung fahren können? Seine Schwester hatte keine Ahnung von den Schwierigkeiten und den riesigen Entfernungen. Wie er aus dem Datum ersah, war der Brief zehn Monate unterwegs gewesen. Und die hübsche Böttcherstochter? Gewiss, sie war damals sein geliebtes Mädchen gewesen, aber Anlass zu Hoffnungen hatte er ihr nie gegeben, eine Jugendliebe von vielen, seine Schwester hatte ihm mit ihrer bissigen Bemerkung nur eins auswischen wollen.

Immer wenn er jetzt über seine Flucht grübelte und nach Beweggründen dagegen suchte, fiel ihm der Brief seiner Schwester ein. Sein Elternhaus existierte nicht mehr, die Schwester hatte alles verkauft, um die Schulden durch die langwierige Krankheit erst des Vaters, dann auch der Mutter zu tilgen. So gut wie gestorben war für ihn auch sein früheres Mädchen. Warum also sollte er dorthin zurückkehren, wo ihm nichts mehr geblieben war und niemand ihn mit offenen Armen empfangen würde? Dann wieder gab es Zeiten, in denen er sich nicht von solch düsteren Stimmungen treiben ließ und sich einredete, es sei allemal besser, in der Heimat ein Bettler zu sein als an der Wolga ein König. Wie er sich auch entschied, es änderte nichts an seiner verfahrenen Lage, die Not bedrängte ihn unerbittlich.

Die Hoffnung, durch Flucht dem Elend zu entrinnen, loderte besonders heftig in ihm auf, als eines Tages ein Ereignis heraufzog, das alle Einwohner Saratows aufschreckte. Anfang 1769, zu Beginn des Russisch-Türkischen Krieges, stießen tatarische Verbände des Krimkhans, eines Vasallen des türkischen Sultans, in die südlichen Gebiete Russlands vor. Eine starke Horde kubanischer Tataren machte auch die Gegend an der Wolga unsicher und bedrohte Saratow mit einem Überfall. Um die Gefahr abzuwenden, wurde eiligst um die Stadt ein Erdwall aufgeworfen, und alle Militäreinheiten lagen in Alarmbereitschaft, um jederzeit dem Feind entgegenzutreten. Auch wurde jeder Hauseigentümer aufgefordert, sich zu bewaffnen oder einen Mann zu stellen, um die Verteidigungsbereitschaft zu stärken.

Vorsprecher, nicht vom geringsten Funken Ehrgeiz getrieben, im Kampf für sein zweites Vaterland den Lorbeerkranz zu erringen, wandte sich an Georg mit der Frage:

„Wie steht’s mit Ihnen, junger Freund, ist es Ihnen recht, wenn ich Sie zu meinem Stellvertreter berufe?“

Georg stellte sich dumm. „In der Fabrik?“

„Später, jetzt erst mal beim Dienst mit der Waffe.“

„Große Lust habe ich nicht dazu.“

„Bedenken Sie die Ehre!“

„Das gilt auch für Sie.“

„Aber Sie sind noch ein junger Mann. Wenn Sie sich an der Front auszeichnen, stehen Ihnen alle Wege offen. Nicht zuletzt auch bei den Weibern“, fügte er schnalzend hinzu.

„Wenn ich falle, kräht kein Hahn mehr nach mir, auch keine Henne.“

„Wer denkt denn gleich ans Schlimmste! Wissen Sie was, ich melde Sie nicht nur als gemeinen Infanteristen an, nein, ich rüste Sie aus als Kavallerist. Ich überlasse Ihnen mein Pferd und besorge Ihnen einen Säbel und Karabiner.“

Zwar musste Georg sich eingestehen, genauso wenig wie Vorsprecher darauf erpicht zu sein, für Russland zu kämpfen; aber er beugte sich schließlich dem Drängen des Fabrikanten und wurde mit der übrigen Mannschaft des städtischen Aufgebots im Waffengebrauch ausgebildet. Nach außen hin gab er sich so, als berste er vor Tatendrang und sehne ungeduldig die Gelegenheit herbei, seine Tapferkeit zu beweisen; insgeheim jedoch wünschte er die Tataren herbei, um zu ihnen überzulaufen. Wie sie ihn aufnehmen würden, ließ sich natürlich nicht voraussehen; aber wem das Wasser bis zum Hals steht, der gaukelt sich, blind vor der Wirklichkeit, gern Träume vor. Berichte über Landsleute, die von den Tataren als Gefangene in die Sklaverei verschleppt worden waren, warf er leichtfertig über Bord: Sie passten nicht in seine Wunschwelt. Was er sich unter den Tataren versprach, war die Freiheit, die sie selbst so sehr schätzten, und damit auch mehr Zufriedenheit und die Möglichkeit, unbehindert durch Verfolger nach Deutschland in seine thüringische Heimat zurückzukehren. Die weite Strecke über Persien, die Türkei, den Balkan und die Länder Österreich-Ungarns schreckten ihn nicht, im Gegenteil, sie lockte ihn an mit ihren Sehenswürdigkeiten und Abenteuern unterwegs. Selbst wenn ihn die Tataren zurückhalten sollten, so könnte er ihnen, wie er sich einfältig einredete, Pferd und Waffen als Lösegeld anbieten.

Was eines Tages alle Einwohner Saratows als Schreckensruf aufscheuchte, nämlich die Tataren näherten sich in Eilmärschen, empfand Georg als Freudenbotschaft. Die Garnison rückte mit ihren Geschützen aus, gefolgt von der Bürgerwehr. Der bunt zusammengewürfelte Haufen lagerte sich draußen auf freiem Geld, während in Saratow selbst Furcht und Verwirrung herrschten, was sich Pack und Diebesgesindel zunutze machten. Während von den Kirchtürmen herab die Glocken Sturm läuteten, rannten die Bewohner kopflos durch die Straßen, als habe jemand mit einem Stock in einem Ameisenhaufen herumgestochert. Einige vergruben ihre Schätze an einem vermeintlich sicheren Ort oder versenkten sie in der Wolga, während andere sie verstohlen dabei beobachteten und bei nächster Gelegenheit die Verstecke plünderten. Überhaupt wimmelte es an allen Ecken und Enden von Langfingern und Schnapphähnen, die in dem allgemeinen Wirrwarr reiche Beute machten.

Vom Feldlager vor der Stadt schwirrten Kosaken in alle Himmelsrichtungen aus, um auszukundschaften, ob sich der Feind nähere; doch alle meldeten bei ihrer Rückkehr, nicht mal auf eine Spur von Tataren gestoßen zu sein. Schon glaubten einige, noch einmal mit heiler Haut davongekommen zu sein, als schließlich doch noch von einem Vorposten Alarm geschlagen wurde, weil man in der Ferne mehrere Reiter erblickte. Eiligst rüsteten sich die Verteidiger zur Gegenwehr, doch kam es erst gar nicht zu dem erwarteten Kampf, da die für Feinde gehaltenen Reiter Freunde waren, Kosaken, die der Regierungsbehörde von Saratow offiziell die Siegesnachricht brachten, Feldmarschall Fürst Alexander M. Golicyn habe die Offensive zum Stehen gebracht und die Tataren bei Zarizyn vernichtend geschlagen.

Mit Triumphgeheul kehrten die Krieger in die Stadt zurück, nur Georg trauerte über seine gescheiterte Hoffnung. Wäre ich doch nur damals in Bachhausen geblieben, wünschte er sich manchmal in trüben Stunden, weil der Mensch nun mal in einem Stimmungstief immer zu der Meinung neigt, wenn er in der Vergangenheit etwas anderes unternommen hätte, dann wäre er in der Gegenwart in einer besseren Lage. Aber jetzt, gestand er sich ein, ist es leider zu spät, das zu tun, was früher hätte geschehen müssen. Er dachte an das Land, das einmal für ihn vorgesehen war und nun längst von einem anderen beackert wurde, und an das Blockhaus, in dem Möhring die Kinder der Siedler unterrichtete. Aber vielleicht wohnte inzwischen auch jemand darin. Doch selbst wenn man mich darin einziehen ließe oder mir eine andere Unterkunft und ein anderes Stück Land gäbe, fuhr er in seinen Grübeleien fort, was könnte mir das in meiner jetzigen Lage nützen? Wie sollte ich mir ohne eine Kopeke in der Tasche die Ausrüstung für einen Hof anschaffen, Geräte, Vieh, Saatgut? Auch konnten die Nachrichten aus Bachhausen und anderen Kolonien seine Zweifel nicht zerstreuen, dort bessere Lebensbedingungen anzutreffen als in Saratow; dazu noch die ständige Nähe zu Hildegard, die ihn, da sie nun einem anderen gehörte, mehr schmerzen als erfreuen würde.

 

3

Bereits in den wenigen Jahren zwischen 1764 und 1768 waren im Saratower Gebiet insgesamt über hundert Kolonien entstanden, teils auf der rechten Bergseite, teils auf der Wiesenseite, wie man die weite Ebene auf dem linken, östlichen Wolgaufer nannte. Die meisten Siedlungen lagen unterhalb der Hafen- und Handelsstadt Saratow: Dörfer oder Flecken von dreißig bis hundert Holzhäusern, besser gebaut als in den russischen Gemeinden, doch auch nur eingeschossig. Wo immer die Einwanderer sie selbst errichtet hatten, waren sie aus glatten Brettern zusammengezimmert, wogegen die Einheimischen an der Außenseite oft Schwarten verwendeten. An die Stube schloss sich in den Kolonistenhäusern meistens noch eine Kammer an, die es in den Bauernkaten der Russen nur selten gab. Um Bauholz und Zeit zu sparen, pflegten die Einwanderer immer an einer gemeinschaftlichen Mittelwand zwei Häuser aufzuführen, hinter denen sich der geschlossene Hofraum befand. Kleinere Ortschaften bestanden längs der Dorfstraße aus nur zwei Hausreihen, zwischen denen hier und da Feldwege zum Ackerland führten. Alle Orte lagen an einem Fluss oder Bach.

Die wenigen Siedlungen, die überwiegend von Bauern aufgebaut wurden, begannen bereits nach ein paar Jahren aufzublühen, während die meisten noch weit von dem Ziel entfernt waren, das ihnen die Zarin mit ihren hochfliegenden Plänen gesteckt hatte. Was die Kolonisten im Überfluss erwirtschafteten, tauschten sie entweder bei den Russen gegen Waren ein, oder verkauften sie auf dem Markt der nächsten Stadt. Der Wunsch, billig an Tabak zu kommen, spornte die Deutschen bald zu Versuchen an, ihn selbst anzubauen, was ihnen in einigen Gegenden eine so reiche Ernte einbrachte, dass sie mit einem Teil davon Handel trieben.

Kabachen, die in keinem russischen Dorf fehlten, suchte man in den deutschen Siedlungen vergeblich. Was die Einwanderer für ihren Hausbedarf an Branntwein brauchten, holten sie sich gewöhnlich aus den Nachbarorten der Russen; doch gab es in den Kolonien auch häufig einen geschäftstüchtigen Mann, der immer einen Vorrat an Branntwein zum Ausschank bereithielt. Bier war bei diesen Schankwirten nur selten zu bekommen, denn die Kolonisten begnügten sich mit dem Hausbier der Russen, dem Kwass, den auch sie aus vergorenem Getreide brauen durften.

Während die Kolonisten in allen wichtigen Angelegenheiten der Saratower Tutelkanzlei unterstanden, wurden kleinere Probleme im Dorf von selbstgewählten Schulzen und Beisitzern geregelt. Für die Seelsorge der Einwanderer waren aus Deutschland einige Geistliche gekommen, die in den größeren Siedlungen ihren festen Sitz hatten und auch die umliegenden Orte betreuten. Sie erhielten von der Krone ein Jahresgehalt von zweihundertvierzig Rubeln, die sie sich in drei Raten in Saratow abholen mussten.

Mit der Kirchenordnung nahmen es die Neusiedler an der Wolga nicht allzu genau und hatten nichts dagegen einzuwenden, wenn ein Paar ohne Trauschein zusammenlebte, oder Laien das Amt eines Pastors ausübten. In Saratow selbst, wo an die hundert Deutsche wohnten, war kein ordentlicher Geistlicher ansässig. Seine Stelle vertrat ein Sattler namens Kretschmar, aus einem Dorf bei Altenburg nahe der Pleiße gebürtig. Sonntags wie auch an Feiertagen hielt er in einem großen Zimmer seines Hauses einen Gottesdienst für alle Deutschen, wobei er sich nach der in seinem Geburtsort eingeführten Liturgie richtete und sozusagen in Personalunion als Kantor und Pfarrer wirkte. Stets stimmte er, wie Georg bald herausfand, einige von ihm ausgewählte Kirchenlieder an, las hierauf aus einem Erbauungsbuch eine Predigt vor und danach die gewöhnlichen Gebete. Ohne Selbstzweifel bezeichnete er sich als berufenen Diener von Gottes Wort, was ihm auch niemand streitig machte, da er sonst weiter nichts als ein ordentlicher Sattlermeister, eine ehrliche Haut sein wollte. Auch hinderten ihn weder Regierung noch Klerus daran, die Sakramente zu spenden. So teilte er das Abendmahl aus und taufte Kinder, besonders armer Leute und lediger Mütter, die sich einen Priester aus einem weit entfernten Ort nicht leisten konnten.

Auch nach der schweren Niederlage starker tatarischer Verbände des Krimkhans hielten die Raubzüge und Plünderungen ganzer Landstriche durch Zigeuner und vor allem durch Kalmücken an. Besonders heimgesucht wurde die vereinzelt liegende, reiche Herrnhuter Kolonie Sarepta, deren gedeihliche Entwicklung die Nomaden störte. In Sarepta selbst, wo die Kalmücken häufig erschienen, zeigten sie sich beim Kaufen oder Betteln als schüchterne und sogar freundliche Gäste, während die Siedler abseits der Kolonie das Schlimmste von ihnen zu befürchten hatten. An der Tagesordnung war es, dass sie das Vieh raubten und das Getreide sowie die Heuhaufen abweideten.

Als sich die Herrnhuter Brüdergemeinde darüber bei der Regierung beschwerte, erhielten zwar die Sareptaner vom Khan der Großen Horde, die jenseits der Wolga umherzog, eine offizielle Sicherheitsgarantie, doch nutzte sie nichts. Nachhaltig verschont blieb Sarepta erst, nachdem ein Mitglied der Brüdergemeinde einen erblichen Stammeshäuptling der Kalmücken, den Saisang der Kleinen Horde, die diesseits der Wolga ihre Weidegründe hatte, von einem schweren Augenleiden heilte. Aus Dankbarkeit versuchte dieser Häuptling, der Tochmut hieß, Sarepta vor den Raubzügen des Nomadenvolkes zu schützen, was ihm umso eher gelang, als die Große Horde im Januar 1771 nach Innerasien floh, ohne ihren Plan ausführen zu können, zuvor alle Dörfer und Gemeinden auf dem rechten Ufer der Wolga, besonders alle deutschen Kolonien, zu zerstören, ein Vorhaben, das Tochmut gleichfalls durch rechtzeitige Enthüllungen vereitelte.

Doch mit dem Abzug der Kalmücken waren die Gefahren noch lange nicht gebannt. Zu den furchtbarsten Schicksalsschlägen, von denen die deutschen Ansiedler an der unteren Wolga heimgesucht wurden, gehörten die Überfälle der Kirgisen. Obwohl nur einige Kolonien auf der Wiesenseite darunter zu leiden hatten, erfüllten sie dennoch die Bevölkerung aller Siedlungen mit Angst und Schrecken, was die wirtschaftliche Entwicklung mehr als ein Jahrzehnt lang lähmte. Erstmals überfielen die kirgisischen Räuber im August 1771 die beiden damals noch am weitesten in die Steppe vorgeschobenen deutschen Kolonien Chasselois und Louis am oberen großen Karaman, wo auch mehrere französische Familien angesiedelt worden waren. Die Einwohner arbeiteten gerade auf dem Feld, als die Räuberbande unter Kriegsgeschrei die Dörfer stürmte. Zwar bestand die Horde nur aus fünfzig bis sechzig Mann, doch da nur wenige Leute in den Ortschaften zurückgeblieben waren, konnten die Kirgisen ohne Widerstand plündern, was ihnen gefiel. Sie begnügten sich jedoch nicht wie russische Räuber damit, das Vieh sowie Hab und Gut zu stehlen, sondern nahmen auch die Siedler selbst gefangen und verkauften sie in Buchara und Chiwa als Sklaven. Chasselois erholte sich nicht mehr von diesem Schlag und ging zugrunde. Die wenigen Einwohner, die der Gefangenschaft entkommen waren, zogen in die Nachbarkolonien, vor allem nach Louis.

Kurz darauf ereilte die Kolonie Cäsarenfeld am kleinen Karaman, wo nur sechzehn Familien mit vierundvierzig Personen lebten, das gleiche verheerende Schicksal. Doch dies alles war nur der Anfang und bei weitem noch nicht die schlimmste Heimsuchung.

Der Dolman des Husaren
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Mit Vorsprechers Weberei ging es immer schneller den Bach hinunter. Da es für Georg dort nur noch selten etwas zu tun gab, verließ er nun auch das Haus des Fabrikanten, worin ihm der Aufenthalt von Tag zu Tag immer mehr verleidet wurde; denn durch den Verfall des Hauswesens nahmen Frau Vorsprechers Launen und Zanksucht so unerträglich zu, dass mit ihr nicht gut Kirschen essen war. Georg kam jetzt nur noch in die Fabrik, wenn er gelegentlich geholt wurde, um rasch einige Schärpen oder sonst etwas zu weben. Im Übrigen wohnte er bald bei diesen, bald bei jenen Landsleuten, wo er billig Unterkunft und Verpflegung fand.

Bei allem Pech hatte Georg dennoch Glück. Die alte Hauseigentümerin, die verwitwete Baltendeutsche, bei der er Russischstunden genommen hatte, bot ihm in ihrer Stube die Bank als Schlafstelle an, und auch in der Fabrik fand er wider alles Erwarten für einige Wochen genügend Beschäftigung. Rastlos arbeitete er von morgens bis abends, immer mit knurrendem Magen, bis er das Geld für den Kauf eines Hemdes beisammen hatte. Diese kleine Besserung seiner bedrückenden Verhältnisse verlieh seiner Phantasie Flügel, wie so oft in jungen Jahren. Er träumte sich schon in eine helle Zukunft hinein, aus der er nur allzu bald wieder in die Wirklichkeit zurückfiel, als eines Tages auch der letzte Webstuhl stillstand. Diese paar Wochen, in denen der Betrieb noch einmal lief, waren wie ein letztes Aufbäumen vor dem endgültigen Zusammenbruch gewesen. Was Vorsprecher von da an noch alle Jubeljahre an Aufträgen hereinholte, war so unbedeutend, dass er meistens selbst am Webstuhl saß, gelegentlich auch seine Frau, noch übelgelaunter als je zuvor. Erneut war damit für Georg diese Erwerbsquelle versiegt, und wieder geriet er in Bedrängnis, wo und wie er das Allernötigste zum Lebensunterhalt verdienen könnte.

Abermals befasste er sich mit dem Gedanken an Flucht, wie er ihm schon so oft durch den Kopf gegangen war; aber noch nie war er dem Entschluss, ihn auch auszuführen, so nahe gewesen wie diesmal. Er sah darin die einzige Rettung, nicht zuletzt auch deshalb, weil er nun schon über sieben Jahre lang in Saratow lebte und somit der Tag immer näher rückte, an dem er den staatlichen Vorschuss zurückzahlen musste. Dieser Verpflichtung nachzukommen war so gut wie aussichtslos, da er seit langem nur von der Hand in den Mund lebte und eine Änderung seiner Lage ebenso wenig zu erwarten war wie der Stillstand der Erde. Unbehagen beschlich ihn, wenn er daran dachte, dass er gewissermaßen wie ein Betrüger handelte, falls er sich aus dem Staub machte, ohne dem Staat wiederzugeben, was er von ihm geliehen bekommen hatte. Doch was nützt es der russischen Regierung, wenn ich mir für meine Schulden den Buckel blutig schlagen lasse, dachte er. Hätte der Staat nicht so leichtsinnig mit dem Geld um sich geworfen, dann wären viele nicht geblieben oder erst gar nicht gekommen. Was mich in Zukunft hier in Russland erwartet, ist dasselbe wie das, was ich in der Gegenwart schon habe: Elend, Armut, Hunger. Es gibt keine Hoffnung, dass sich das ändern wird. Im Gegenteil, ich werde im Kerker krepieren, falls man mich nicht schon vorher mit der Knute totgeschlagen hat.

Bei diesen düsteren Aussichten erschien ihm die Erinnerung an Deutschland wie verklärt, und immer mehr steigerte er sich in die Überzeugung hinein, es dort in kurzer Zeit zu bescheidenem Wohlstand zu bringen, sobald er erst in seiner Heimat Fuß gefasst hätte. Tag und Nacht brütete er über Plänen, wie er aus dem Gefängnis, in das er sich so leichtsinnig hatte locken lassen, ausbrechen könne, ohne an der nächsten Ecke wieder eingefangen zu werden. Wenn dabei die Verzagtheit die Oberhand gewann, wurde er so missmutig, dass die Leute, die ihn als Frohnatur kannten, sich besorgt erkundigten, ob er krank sei.

Besonders niedergeschlagen fühlte er sich, als ihn eines Morgens Vorsprecher in die Fabrik rufen ließ, um den Schaden an dem Webstuhl zu beheben, auf dem seine Frau gerade ein paar Schärpen fertigte. Ohne es zu ahnen, sollte ihm dieser Tag die ersehnte Wende bringen. Er hatte sich bereits eine Zeitlang zu schaffen gemacht, als drei russische Husaren eintraten, die aber, wie sich bald herausstellte, gebürtige Deutsche waren.

„Wir haben gehört, dass Deutsche hier arbeiten“, erklärte der älteste, ein Unteroffizier, der Rothe hieß. „Da haben wir gedacht, wir schauen mal rein und sagen unseren Landsleuten guten Tag.“

Wie sie erzählten, hatten sie in der Grusinischen Legion gedient und seit dem Ausbruch des Russisch-Türkischen Krieges gegen die Türken gekämpft. Dabei waren sie verwundet worden und hatten nach ihrer Genesung die letzten Monate in Astrachan, dem Standort der Legion, verbracht, wo sie nun mit der Erlaubnis, in ihr Vaterland heimzukehren, verabschiedet worden waren. Zwei von ihnen, Rothe, der Unteroffizier, und Hock, ein gemeiner Soldat, befanden sich jetzt auf dem Weg in ihre Heimatstadt Danzig, während der dritte nach Saratow gekommen war, um sich dort mit einem russischen Mädchen, das ihn begleitete, niederzulassen.

 

„Wie sieht’s hier mit Arbeit aus, Kamerad?“, erkundigte er sich bei Georg.

„Beschissen, wenn du’s genau wissen willst. Kannst du überhaupt weben?“

„Nein, aber ich hätt’s ja lernen können.“

„Die Mühe kannst du dir sparen. Hier ist überhaupt alles beschissen.“

„Was ist denn los?“, fragte der Unteroffizier. „Warum lässt du die Flügel so hängen? Liebeskummer oder mehr?“

In knappen Worten schilderte ihm Georg, wie er an die Wolga gekommen und warum er so unzufrieden war, und schloss mit dem Stoßseufzer: „Hätte ich Russland doch bloß nie gesehen!“

„Ich versteh dich gut und würde an deiner Stelle genauso den Tag herbeisehnen, den Kram hier hinzuschmeißen“, versicherte Rothe verständnisvoll und flüsterte ihm in einem Augenblick, als der dritte Husar mit seinem russischen Mädchen nicht in der Nähe war, ins Ohr: „Ich kann dir vielleicht helfen. Besuch mich später in meinem Quartier, wo wir ohne Zeugen sind. Ich habe dir einen guten Vorschlag zu machen.“

Das brauchte man Georg nicht zweimal zu sagen. Sobald er den Webstuhl repariert hatte, eilte er neugierig zu dem Unteroffizier, in dessen Stube er auch Hock antraf. Beide unterhielten sich lange mit ihm, und nachdem er ihnen sein Schicksal ausführlich geschildert hatte, bedauerten sie ihn aufrichtig und beteuerten, wie sehr ihnen seine Rettung am Herzen liege. Den ganzen Abend blieben sie beisammen und wurde nach und nach so vertraut miteinander, dass sie Brüderschaft tranken.

„Lieber Landsmann“, eröffnete schließlich der Korporal das entscheidende Gespräch, „mir fällt da gerade etwas ein, wie du dich am besten von hier verdrücken kannst.“ Er stand auf und holte aus der Manteltasche einige Papiere, die er auf dem Tisch ausbreitete. „Ich habe nämlich die Abschrift eines Passes, die sich ein Kamerad von uns in Astrachan geben ließ, als wir von dort die Heimreise antraten. Unterwegs aber wurde er krank und starb in dem Dorf, in dem wir seinetwegen ein paar Tage Rast gemacht hatten. Ich habe, wie du siehst, die Kopie in den Totenschein gelegt, um alles zusammen seinen Verwandten in Deutschland zu übergeben. Doch der Totenschein genügt da völlig, was sollen sie noch mit der Passkopie anfangen? Da ist es doch besser, du benutzt sie und stiehlst dich damit aus Russland.“

„Damit kann ich mich sogar überall offen zeigen“, fiel Georg lebhaft ein.

„Ja, ich denke auch, dass du damit mehr Glück haben wirst, über die Grenze zu kommen, vorausgesetzt, du sprichst so einigermaßen Russisch, um für einen Husaren gelten zu können, der mehrere Jahre in Grusinien gedient hat.“

„Da kannst du ganz beruhigt sein. Ich spreche fast so gut Russisch wie jemand, der hier geboren ist.“

„Dann nimm den Pass, Kamerad“, entschied Rothe und suchte ihm aus einem Bündel noch einen abgelegten Dolman heraus.“ Probier ihn mal an, ob er dir passt.“

Aufgekratzt schlüpfte Georg in die kurze, dicht verschnürte Uniformjacke, wie auch die beiden grusinischen Legionäre sie trugen.

„Sitzt wie angegossen“, stellte der Korporal strahlend fest. „Jeder hält dich darin für einen waschechten Husaren.“ Dankbar fiel Georg ihm um den Hals. „Gebe Gott, dass du heil durchkommst“, sagte Rothe.

„Meine Bedenken sind wie weggeblasen.“

„Gut, dass du so zuversichtlich bist. Es gibt da allerdings noch einiges zu besprechen, aber dafür ist es heute schon zu spät. Komm morgen wieder her, dann haben wir Zeit genug.“

Vor Erregung fand Georg keinen Schlaf. Er fühlte sich auch nicht müde. Alle Erdenschwere war von ihm abgefallen, er schwebte wie auf Wolken, und tausend Bilder aus dem Zauberreich der Phantasie, die ihm eine glückliche Zukunft vorgaukelten, stürzten auf ihn ein. So verging die Nacht wie im Flug.

Kaum war der Morgen angebrochen, als er zu den beiden Husaren eilte, die ihm so freundschaftlich begegneten wie tags zuvor. Dennoch fühlte er sich enttäuscht, als er entgegen seiner Annahme erfuhr, dass er nicht mit ihnen zusammen reisen werde. „Das geht leider nicht“, erklärte ihm Rothe, „es ist zu gefährlich für uns alle. Zwar ist es nicht wahrscheinlich, aber immerhin möglich, dass der Schwindel auffliegt. In dem Fall hätten wir alle drei nichts zu lachen. Unsere Begleitung brächte dir auch keinen Vorteil. Dennoch können wir dir sehr wohl nützlich sein, ohne dich zu begleiten.“

„Wie meinst du das?“

„Morgen früh brechen wir auf, Hock und ich.“ Er holte eine Skizze hervor, glättete sie auf dem Tisch und deutete mit dem Finger auf einen Punkt. „Wenn alles gutgeht, schaffen wir es am ersten Tag bis hierhin, zumindest aber bis zu dem Dorf davor. Du folgst uns übermorgen und findest in dem ersten Nachtquartier, wo wir Bescheid sagen, dass ein Kamerad von uns nachkommen werde, einen deutsch geschriebenen Zettel mit dem Namen unseres nächsten Nachtlagers vor.“

„Und so geht es Tag für Tag?“

„Ja, bis wir Moskau erreichen.“

„Erst dann sehen wir uns wieder?“

Rothe nickte. „Immerhin könnte unterwegs jemand Verdacht schöpfen und uns heimlich folgen. Deshalb dürfen wir uns vorher weder sehen noch sprechen.“

„Verstehe.“

„Wo immer wir übernachten werden, bestellen wir für dich Quartier für die nächste Nacht. Das hat den Vorteil, dass du kaum irgendwo deinen Pass vorzuzeigen brauchst, was ja immer mit einem Risiko verbunden wäre. Wenn sich nämlich tags zuvor herausgestellt hat, dass unsere beiden Pässe in Ordnung sind, und wir deine Ankunft schon im Voraus ankündigen -“

„Und ich den gleichen Dolman trage wie ihr -“

„Dann hast du dort einen Vertrauensvorschuss, der dem Starosten die Herkulesarbeit erspart, deinen Pass mühsam zusammenzubuchstabieren.“

Mit diesen Überlegungen stimmte Georg überein. Von vornherein mussten sie alles unterlassen, was bei den Russen Argwohn erregen konnte. Fast den ganzen Tag verbrachte er mit den beiden Husaren, die er schließlich zum Abschied brüderlich umarmte. Es ging schon auf Mitternacht zu, als er seine Bleibe erreichte, wo er den Pass und Dolman unter der Schlafbank versteckt hatte.

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