An der Wolga will ich bleiben

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Das Manifest der Zarin
1

Ein rauer Nordwind strich über die Berge des Taunus ins Tal hinab und drückte den Rauch aus den Häusern von Büdingen nieder. Die Menschen, die aus den umliegenden Dörfern auf dem Marktplatz zusammengeströmt waren, spürten die Kälte bis auf die Knochen; denn weder die zaghaften Sonnenstrahlen dieser letzten Februartage wärmten sie, noch schützte sie ihre dürftige Kleidung, im Laufe der langen Kriegswirren verschlissen und immer wieder geflickt. Drei Jahre war es nun schon her seit dem Ende des Siebenjährigen Krieges mit Hunderttausenden von Toten, Verelendung der Massen und Verwüstungen, aber die Not war mit dem Frieden von Hubertusburg nicht gewichen, die Armut überall sogar noch gewachsen.

Ihnen allen, den Kleinbauern und Hirten, Handwerkern und Tagelöhnern, die es zum Markttag in das hessische Städtchen gezogen hatte - die einen mit ihrem Fuhrwerk, die anderen auf Schusters Rappen -, stach der Hunger aus den Augen. Sie waren gekommen in der Hoffnung, hier ihre jämmerliche Lage ein wenig aufzubessern; bescheiden wie sie waren, empfanden sie schon eine Kleinigkeit als Glück. Da stand ein Alter und bot ein Paar gebrauchte Schuhe feil, und neben ihm die Bauersfrau pries mit heiserer Stimme ein Dutzend Eier an, die sie im Henkelkorb drei Stunden lang zum Marktplatz getragen hatte. Aber die Geschäfte gingen schlecht, es war kein Geld unter den Leuten. Die meisten hatten überhaupt nichts anzubieten als sich selbst; doch Arbeit, die sie suchten, fanden sie nicht. Ohne Arbeit gab es keinen Lohn - und ohne Lohn nichts zu essen.

Seit einer Woche hatte es in der Hütte von Johann Orner, einem Köhler, keinen Bissen Brot mehr gegeben, und dabei galt es dort Tag für Tag sieben Mäuler zu stopfen. An diesem Morgen, noch vor der Dämmerung, war er mit dem Rock, den seine Frau vor siebzehn Jahren bei der Hochzeit getragen hatte, von Spielberg nach Büdingen aufgebrochen, wo er sich bis zum Nachmittag die Beine in den Bauch stand, bis er endlich einen Käufer fand. Es war ein gerissenes Weib, das so lange feilschte, bis sie den Preis auf die Hälfte heruntergehandelt hatte, und auch dann mäkelte sie noch herum und tat so, als erweise sie ihm eine Gnade. Wohl oder übel, musste sich Orner fügen, denn sein Beruf als Köhler konnte ihn nicht mehr ernähren: Die Kohlenbrennerei, wo er mit zwei anderen gearbeitet hatte, war geschlossen worden, da die Neuschmidter Hütte die benötigte Holzkohle inzwischen aus dem Fuldischen bezog, eine Maßnahme, um den Raubbau am umliegenden Wald einzudämmen.

Er zitterte vor Kälte und Erregung zugleich, als ihm das Weib die paar armseligen Münzen auf die Hand zählte; denn vor sich sah er all die Brote, die er dafür kaufen konnte. Ausgehungert wie er war, hätte er sich am liebsten in die nächste Bäckerei gestürzt und auf der Stelle ein ofenwarmes Brot verschlungen; doch er dachte an seine Frau und Kinder, denen der Magen genauso knurrte und die seine Rückkehr sehnlichst erwarteten.

Aber wenigstens vorher aufwärmen kann ich mich schon, sagte er sich, als sein Blick auf das Wirtshaus Zum Auerhahn fiel, von wo lautes Stimmengewirr über den Marktplatz schallte. Fröhliche Zecher locken einen Mann immer an, besonders wenn er schon lange nichts mehr zu lachen gehabt hat. Was er jedoch beim Eintreten vorfand, war eine Menschentraube, die sich um einen der Tische drängte. Irgendwo mittendrin musste wohl der Redner stehen, dessen Worte er vernahm, ohne ihn zu sehen.

„Was ist denn hier los?“, wollte Orner von den Zuhörern wissen.

„Ein Werbungskommissar“, brummte der Mann neben ihm.

Es war so voll in der niedrigen Gaststube, dass der Köhler sich nur mit dem Ellbogen eine Gasse bahnen konnte, bis er schließlich hinter dem Tisch den Redner erblickte, einen Mann Anfang vierzig wie er, aber bei weitem nicht so abgeschafft, sondern forsch und drahtig. Obwohl er Zivilkleidung trug vom Zuschnitt eines Herrn, lag in seiner Haltung etwas Soldatisches, und seine Stimme klang befehlsgewohnt wie die eines Offiziers. Gerade hatte er auf den Einwurf eines jungen Mannes, der in Büdingen allgemein als „Studiosus“ bekannt war, ein Papier vom Tisch genommen, das er nun für alle sichtbar hochhielt.

„Hier ist die Legitimation, die Sie anzweifeln, junger Freund! Meine Vollmacht als Leiter eines offiziellen russischen Kommissariats, ausgestellt und persönlich unterschrieben und gesiegelt vom Gesandten des Russischen Reiches am Regensburger Reichstag. Lest selbst, Leute, hier steht sein Name: Iwan Simolin - und dort meiner: Johann Facius, russischer Obrist.“

„Wenn du ein Russe bist, dann bin ich der Papst in Rom!“, grölte ein Kerl, dem die Schnapsfahne aus dem Maul flatterte. „Du babbelst genauso hessisch wie wir, als hätt’ dich deine Mutter hier im Galopp verloren.“

„Richtig“, rief der Werbungskommissar über das Gelächter der Menge hinweg, „deine Ohren sind genauso scharf wie deine Zunge. Ich stamme aus dem Hanauischen, also gleich hier um die Ecke, und habe im Siebenjährigen Krieg als Offizier im Heer des Preußenkönigs gedient. Vom Krieg spielen habe ich inzwischen die Nase voll und deshalb meinen Dienst quittiert. Jetzt bekleide ich den Rang eines russischen Obristen. Aber statt dem Feind die Knochen zusammenzuschlagen wie gestern, will ich heute meinen Landsleuten, also euch allen hier, auf die Sprünge helfen. Ich weiß, wo euch der Schuh drückt, man braucht euch nur der Reihe nach anzusehen.“ Er ergriff ein anderes Papier, das ihm der daneben sitzende Sekretär reichte, und schwenkte es durch die Luft. „Dieses Dokument hier gibt euch alles, was ihr begehrt: Brot und Fleisch, so viel ihr wollt, Kleider und Schuhe, Arbeit und Geld, viel fruchtbares Land und sogar ein festes Dach überm Kopf für jeden von euch, für jeden!“

„Was ist das für ein Dokument?“

„Das Manifest der Kaiserin von Russland, einer Deutschen, denn vor ihrer Heirat war sie eine Prinzessin von Anhalt-Zerbst. Die große Katharina hat ein Herz für euch. Diesen Aufruf hier hat sie schon vor knapp drei Jahren erlassen, genau gesagt im Jahre 1763, am zweiundzwanzigsten Juli.“

„Und was steht drin?“

„Das habe ich doch erst gerade erklärt: Ihr sollt all das bekommen, was ihr euch schon immer gewünscht habt.“

„Auch Freiheit?“, rief der Studiosus.

„Was heißt hier Freiheit“, erwiderte der Werbungskommissar, „nicht nur eine Freiheit, nein zahlreiche Freiheiten und Privilegien, wie es sie hier noch nie gegeben hat: völlige Religions- und Gewissensfreiheit, Steuerfreiheit auf dreißig Jahre, Freiheit von Diensten, Lasten und Abgaben aller Art, Freiheit vom Militärdienst auf ewige Zeiten. Wer nach Russland zieht, genießt außer all den Freiheiten und Vorrechten die gleichen Rechte wie alle Bürger dort. Jede Familie darf ihr Vermögen zollfrei mit sich einführen. Wer nichts hat, der braucht sich auch keine Sorgen zu machen. Jeder kann nicht nur umsonst bis nach Russland reisen, er bekommt auch noch Tagegelder und an Ort und Stelle ein Jahr lang einen ordentlichen Vorschuss zum Lebensunterhalt, ferner ein fertiges, für ihn neu erbautes Wohnhaus, dazu Ställe und eine Scheune sowie selbstverständlich Pferde, Kühe, Schafe, Ziegen, Schweine, Federvieh, einen Wagen und Pflug, Geräte und Geschirr mit allem, was dazu gehört.“

„Und Land?“

„Genug für jede Familie, mehr als genug, um alle satt zu machen. Und was ihr mehr erwirtschaftet, das dürft ihr auf euren eigenen Wochen- und Jahrmärkten verkaufen, sogar ins Ausland.“

„Wenn wir mal tot sind, was wird dann aus all den Rechten und Freiheiten?“

„Die bleiben natürlich bestehen“, versicherte Facius der erregten Menge, „sie gelten nicht nur für die Kolonisten, die jetzt nach Russland auswandern, sondern auch für deren Kinder und Kindeskinder, kurz, für alle Zeiten.“

„Wo liegt das Land genau?“

„An der Wolga. Das ist ein gewaltiger Strom, so lang und so breit, dass Rhein und Main dagegen Bäche sind.“

„Ist es weit von hier?“

„Ein paar Wochen dauert die Reise schon, erst mit dem Schiff übers Meer und dann weiter über Land nach Süden, teils auf Straßen, teils auf Flüssen. Und Fische gibt es in der Wolga - mehr als in jedem anderen Strom auf der Welt. Es wimmelt darin nur so von Stören und Hausen, von Sandaalen und Sterletten, von Hechten und Karpfen, von denen jeder doppelt und dreifach so schwer ist wie hier, und dazu noch all die anderen Arten, die man bei uns nicht kennt. Allein schon vom Fischfang lässt es sich gut leben. Jedermann darf ihn dort frei betreiben. Und so wie der Wolgastrom ein Paradies für Fische ist, so ist das Wolgaland ein Paradies für Menschen. Denn die Gegend ist äußerst fruchtbar, überhaupt das ganze Gebiet bestens geeignet für Handel und Gewerbe, genau das also, was ihr hier vergebens sucht. Ein tüchtiger Kerl, und das ist ein Deutscher allemal, ist dort im Handumdrehen ein gemachter Mann.“

„Was ist denn mit dem Klima?“, wandte ein Zuhörer ein. „In Russland soll es bitterkalt sein, habe ich gehört.“

„Im Norden - ja, aber im südlichen Wolgatal, wo ihr euch ansiedeln sollt, ist es viel milder als am Oberrhein. Auf der salpeterreichen Schwarzerde wird das Gras fast mannshoch, ein Schlaraffenland für Rinder, Ziegen und Schafe. Viehzüchter kommen da rasch auf ihre Kosten.“

„Und was wächst da sonst noch?“

„Im Garten Eden gedeiht alles: Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Spelt, Hirse und Buchweizen, natürlich auch Erbsen, Bohnen und sogar Linsen, ebenso Hanf und Flachs. Einfach aussäen und ernten, das ist alles, was ihr zu tun braucht.“

„Woher nehmen wir denn das Saatgut?“

„Das bekommt ihr genauso gestellt wie all das andere auch.“

„Wächst da auch Tabak?“, erkundigte sich ein Tagelöhner, dem die Pfeife schon seit Wochen ausgegangen war.

 

„Mehr als du je in deiner Pfeife verrauchen kannst, selbst wenn du hundert Jahre alt wirst. Auch Reis wächst an der Wolga, fast so wie Gras“, log der Werbungskommissar weiter das Blaue vom Himmel herunter, „dazu Seidenbäume und Baumwolle. Aus der schwarzen Erde sprießen ferner Spargel, nicht zu vergessen die wohlriechenden Kräuter und die gegen Krankheiten.“

Allzeit und überall gibt es Menschen, die fest davon überzeugt sind, in der Fremde leichter zu Wohlstand zu gelangen als in der Heimat, wo ihnen das Glück versagt blieb oder mit der sie sonst wie unzufrieden sind. Der Wunsch auszuwandern erwacht daher bei vielen, sobald sich eine passende Gelegenheit bietet. Nur allzu leichtgläubig sind sie bereit, Versprechen und Vorspiegelungen für bare Münze zu nehmen, wenn sie nur wohlklingen und ihnen all das in den Schoß fallen lassen, was sie ersehnen. Solchen Rattenfängern, die nach dem Siebenjährigen Krieg zur Ansiedlung in Ungarn lockten, waren schon viele Auswanderungswillige auf den Leim gegangen, und seit kurzem hatten geschickte Werber es verstanden, den Strom deutscher Kolonisten nun nach dem fernen Russland umzuleiten.

Facius kannte sein Geschäft. Er wusste, dass man außer schönen Worten auch Beweise braucht, um Wankelmütige und Zweifler zu ködern, und solche „Beweisstücke“ hatte er vorsorglich mitgebracht. Indem er eine Pergamentrolle hochhielt und auseinanderzog, forderte er seine Zuhörer auf:

„Wer kennt ihn nicht, den in der ganzen Welt geschätzten Grafen von Woronzow, den russischen Gesandten im Haag! In diesem Schreiben von eigener Hand hat er alles wortwörtlich bestätigt, was ich euch vorgetragen habe, und hier unten mit Unterschrift und Siegel bekräftigt. Doch nicht genug damit“, fuhr er fort und nahm den Stapel Briefe vor sich vom Tisch, „was ihr hier seht, sind Briefe von deutschen Kolonisten aus Russland, die schon vor einem Jahr, teils noch früher, dem Ruf der Zarin gefolgt sind. Solche Briefe erhalte ich täglich. Alle eure Landsleute, ob Bauer oder Handwerker, Tagelöhner oder Gelehrter, haben in Russland ihr Glück gemacht. Warum nicht auch ihr?“

Begierig wurden ihm die Briefe aus der Hand gerissen und verschlungen.

„Wo kann man sich melden?“, riefen mehrere..

„Bei mir natürlich“, erklärte Facius, „hier und sofort.“ Sie drängten sich um ihn. „Nur ruhig, Leute, jeder kommt dran.“

„Wann geht der Transport von Büdingen los?“

„In zwei bis drei Wochen spätestens, erst nach Lübeck und dann mit dem Schiff nach Sankt Petersburg.“

„Es war so viel von Land die Rede, von Ackerbau und Viehzucht“, sagte einer. „Ich bin Schmied, kein Bauer. Kann ich da trotzdem nach Russland auswandern?“

„Selbstverständlich, mein Freund“, erwiderte Facius gewinnend, „Schmiede, Zimmerleute, Schuhmacher, überhaupt Handwerker aller Art braucht man in Russland genauso wie hier. Bei meinem Werbefeldzug in Frankfurt haben sich Leute aller Schichten und Berufe gemeldet, auch Soldaten und Offiziere, Edelleute, Künstler und Studenten. Sogar Ärzte zieht es ins russische Paradies, darunter sogar einen Chirurgen; aber ich hoffe natürlich nicht, dass einer von euch jemals in die Verlegenheit kommt, sich von so einem Knochensäger Arme und Beine abschneiden zu lassen.“

Gelächter schlug ihm entgegen, er hatte sie am Zügel.

„Und was ist, wenn es einem in Russland nicht gefällt?“, fragte Johann Orner.

„Der darf natürlich wieder zurückkehren, sobald er sämtliche Vorschüsse zurückbezahlt hat.“

„Was lässt es sich die Zarin denn kosten, wenn ich mich einschreiben lasse?“, erkundigte sich ein Alter.

„Eine gute Frage“, erwiderte Facius. „Also hört! Vom Augenblick der Ankunft hier auf dem Sammelplatz von Büdingen werden von mir im Namen Ihrer Majestät folgende Tagegelder gezahlt: sechzehn Kreuzer für eine erwachsene Mannsperson, zehn Kreuzer für eine Frau, gleichfalls zehn Kreuzer für heranwachsende Söhne und Töchter sowie sechs Kreuzer für jedes Kind.“

Die Menge hielt den Atem an. „Und wie lange?“, wagte einer in die Stille hinein zu fragen.

Facius ließ sich Zeit. Er genoss es, all die Menschen zu sehen, die an seinen Lippen hingen: „Der Transport nach Lübeck geht mit einer Fuhrwerkskolonne vonstatten. Bis zur Einschiffung werden die Tagegelder als Quartiergeld weiter gezahlt. Die russische Regierung verspricht, eigene Schiffe zu stellen, das heißt nur für die Beförderung von Personen, also ohne weitere Ladung, und an Bord für eine gehörige Verpflegung zu sorgen. Wer sich nach Russland verpflichtet, der findet täglich einen reich gedeckten Tisch.“

Die Spannung löste sich in Beifall und einem Glücksgefühl, wie es Kinder bei der Weihnachtsbescherung befällt. Waren schon der Inhalt des Manifestes und die darin deutlich verkündeten Privilegien für Auswanderungswillige sehr verlockend, so übte die Aussicht auf einen immer vollgefüllten Magen und eine Art Lohn fürs Nichtstun eine noch viel stärkere Wirkung aus. Wen die Not zu Boden drückt, und das waren damals viele, der lässt sich leicht durch volle Schüsseln locken.

„Was ist mit einer Frau, die ledig ist?“, erkundigte sich eine der wenigen Zuhörerinnen. „Darf die auch mit?“

„Nur keine falsche Scham!“, rief Facius unter dem Gejohle der Männer. „Es gibt genügend Junggesellen drüben, die sich nach einer Frau mit so einer Figur die Finger lecken. Und“ fügte er vielversprechend hinzu, „es wäre doch gelacht, wenn sich nicht schon hier auf dem Sammelplatz ein Freier fände, der lieber die Reise zu zweit ins Paradies machen möchte.“

2

„Was hältst du von der Sache?“, fragte Orner seinen Weggefährten Götz, mit dem er von Büdingen aus den Heimweg angetreten hatte. „Den Kram hier hinschmeißen und nach Russland ziehen?“

„Bleibt unsereinem denn was anderes übrig?“

Es war dunkel draußen, der Neuschnee knirschte unter jedem Schritt.

„Was würde wohl deine Frau dazu sagen?“

„Wir haben neulich schon darüber gesprochen, als wir von den Werbern in Wächtersbach und Aufenau gehört haben.“

„Dann gibst du also deine ganze Werkstatt auf?“

„Was nützt mir denn die Werkstatt, wenn ich keine Arbeit habe?“, antwortete Götz bedrückt. „Den ganzen Tag habe ich in Büdingen vergebens auf einen Auftrag gewartet. Zimmerleute werden überall gebraucht, nur nicht hier.“

Eine Weile stapften sie schweigend bergauf durch den gefrierenden Schnee. Wirr schossen Orner die Gedanken durch den Kopf. „Hast du dich schon eingetragen?“, fragte er schließlich.

„Die ganze Familie. Uns hat lange genug der Magen geknurrt.“

Unwillkürlich drückte Orner den Beutel mit den Broten fester an sich. Genüsslich sog er ihren ofenfrischen Duft ein. Vor dem Aufbruch von Büdingen hatte er sie in der Bäckerei am Marktplatz gekauft, und schon jetzt freute er sich auf die großen Augen seiner Kinder beim Auspacken. Ihm war, als drehten sich Mühlsteine im Kopf, wo alles auf einmal durcheinander schwirrte, was er im Wirtshaus in seinen Schädel hineingepresst hatte. Seine Meinung schwankte wie ein Schiff im Sturm. Mal sah er sich im fernen Reich der Zarin, im Paradies der kleinen Leute, mal hielt es ihn mit aller Macht zurück: Die Heimat aufzugeben, wo er aufgewachsen war, fiel ihm schwer. Doch Not und Elend, Hunger, Kälte und keine Hoffnung, mit seiner Hände Arbeit sein Brot zu verdienen, wogen schwerer. Der Krieg hatte ihn an den Bettelstab gebracht. Statt Steuern zu zahlen, stand er beim Staat in der Kreide, und er sah keine Möglichkeit, jemals den Schuldenberg abtragen zu können.

Diese Gedanken quälten ihn noch immer, als er sich schließlich von Götz verabschiedete und in seine armselige Behausung trat. Seine Frau, die am Herd stand und in einem Topf rührte, wandte sich um. Ihr erster Blick fiel auf den Beutel.

„Du hast also einen Käufer gefunden?“

Er nickte. „Es hat lange gedauert, die Leute haben kein Geld.“

Es lag etwas Feierliches darin, wie er den Beutel öffnete und Laib für Laib auf den Tisch legte. Die beiden jüngsten Kinder, die sich vor Kälte ins Bett verkrochen hatten, waren aufgesprungen, als sie ihren Vater durch die Tür kommen sahen. Sie drängten sich nun wie ihre Schwester und Brüder um ihn und verfolgten mit glänzenden Augen jeden seiner Handgriffe.

„Drei auf einmal?“, staunte Hildegard, mit sechzehn Jahren die Älteste unter ihren vier Geschwistern. „Wie lange müssen die reichen?“

„Vielleicht weniger lange als ihr denkt“, erklärte ihr Vater und holte aus dem Beutel noch etwas in einem braunen Papier. „Ich habe auch noch Speck mitgebracht, Kinder. Packt ihn nur aus!“ Und zu seiner Frau gewandt, fragte er: „Was hast du uns denn diesmal gekocht?“

„Kohlrüben, was sonst.“

„Freu dich doch ein bisschen, heute ist ein Festtag, Brot und Speck für jeden. Wann hat es das bei uns zum letzten Mal gegeben!“

„Der war bestimmt nicht billig“, meinte die Mutter. Sie war eine abgehärmte Frau, erst siebenunddreißig Jahre alt, doch die Not und ständige Sorge um ihre Familie hatten sie vorzeitig altern lassen. „Hättest du nicht besser einen Laib Brot mehr dafür gekauft?“

„Normalerweise ja, doch bei den Aussichten...! Wir können uns das bald jeden Tag leisten, sogar noch mehr. Die Kaiserin von Russland zahlt alles.“

„Hast du getrunken, Mann?“

„Grund genug hätte ich schon gehabt und Geld auch.“ Er griff in die Hosentasche und warf die restlichen Münzen auf den Tisch. „Aber ich habe an euch gedacht. Vor allem wollte ich euch so schnell wie möglich mit der großen Neuigkeit überraschen.“

Sie saßen um den blanken Tisch, löffelten die Rübensuppe und aßen dazu Brot mit Speck. Zwischen den Tellern flackerte das Talglicht, dessen kümmerliches Flämmchen mit jedem Wort, das der Vater erzählte, heller aufzuleuchten schien. Vom Abgrund ins Paradies: Das war mehr als ein Mensch in der Not erhoffen durfte.

Aufbruch
1

Es kam so, wie es kommen musste. Der Köder, den Facius in Büdingen ausgelegt hatte, zog die Menschen an, vor allem die „Armen, Notleidenden, aber arbeitsamen Leute, die in ihrem Vaterland ihr Brot nicht haben“, wie es in der russischen Werbung hieß. Die meisten, wie Kleinbauern, Hirten oder Tagelöhner, warfen die Tür hinter sich leichten Herzens zu: Sie hatten ohnehin nichts zu verlieren, aber alles zu erhoffen. Gerade noch reichte ihr Vermögen, um Schulden und Rückstände zu begleichen und die behördliche Auswanderungsgenehmigung zu erlangen.

Es gab jedoch auch einige wohlhabende Bürger, darunter die Familien eines Zimmermanns und eines Schneiders, die nach Verkauf ihrer Habe einige hundert Gulden Bargeld mitnehmen und sich für die Reise nach Russland mit neuer Kleidung und festem Schuhwerk ausstatten konnten. In der Regel aber spielte der Wunsch, dem Schuldendruck zu entrinnen, die Hauptrolle. Das traf ebenso auf einige Lehrer zu, die, schlecht besoldet, ohnehin als Hungerleider galten.

Den Buckel voller Schulden hatte auch ein Pächter und Gerichtsschöffe. In den fünfziger Jahren hatte er zur Pachtung eines herrschaftlichen Hofes und der Molkerei größere Summen gegen Hypotheken aufgenommen, war aber seit einiger Zeit mit der Zinszahlung in Verzug geraten. Die Verpflichtungen überstiegen die Einnahmen erheblich. Nur im Neubeginn an der Wolga sah er die Möglichkeit, sein Schicksal zu wenden. Mit hundert Gulden, die ihm nach Abzug aller Verbindlichkeiten verblieben waren, trat er die Reise ins Ungewisse an.

Je schwerer die Abgaben und Lasten den Einzelnen auch drückten, desto stärker richteten ihn die von der Zarin versprochenen Freiheiten auf. Erste spürbare Zeichen waren die Tagegelder, die jedermann auf die Hand gezählt bekam, der sich nach Vertragsabschluss mit dem Werbungskommissar am Sammelplatz einfand.

Mit Kind und Kegel strömten die Auswanderungswilligen in die Stadt, die bald schon einem Heerlager glich. Fuhrwerke mit Pferden und Ochsen, beladen mit Hausrat und Gerätschaften, stauten sich auf dem Marktplatz und in den Gassen. Alle Gasthöfe und sonstigen vermietbaren Unterkünfte waren vollgestopft mit Fremden. Wer keinen Unterschlupf mehr fand oder das Geld für ein Dach überm Kopf sparen wollte, lagerte sich auf den Uferwiesen am Seemenbach, wo sich Tag und Nacht Gruppen von Menschen um offene Feuerstellen scharten. Die einen wärmten sich auf, die anderen drehten einen Hasen am Spieß oder kochten sich eine Suppe. Es herrschte ein Treiben und Gedränge wie auf der Kirmes, und die meisten waren guter Dinge.

 

Durch den ungehemmten Massenauflauf hatten die Büdinger Bäcker alle Hände voll zu tun. Kaum waren die Brote aus dem Ofen gezogen, da gingen sie, noch warm, auch schon über die Theke. Wollten sie alle Mäuler stopfen, brauchten die Bäcker mehr Mehl, weshalb sie den Grafen baten, den Mühlzwang aufzuheben, um auch in Mühlen außerhalb des Stadtgebietes mahlen zu lassen. Es war Geld unter den Leuten, die sich zur Reise nach Russland sammelten, und je mehr sie davon in den Geschäften und Wirtshäusern Büdingens ausgaben, desto reichlicher flossen davon Steuern in die Staatskasse.

Trauungen waren an der Tagesordnung, gelegentlich traten gemeinsam bis zu einem Dutzend Paare vor den Altar der Marienkirche. Was auf den ersten Blick so aussah wie die letzte Gelegenheit vor Toresschluss, das erwies sich bei näherer Kenntnis als wohlüberlegte Planung des Werbungskommissars. Auf seine Veranlassung fanden die Hochzeiten am laufenden Band statt, bei denen die allgemeine obrigkeitliche Erlaubnis die sonst erforderliche dreimalige Verkündigung ersetzte. Wenngleich es im Aufruf der Zarin nicht ausdrücklich hieß, nur Familien oder Eheleuten sei die Ansiedlung in Russland erlaubt, so waren dennoch Paare erwünscht und auch die Regel. Unter den Auswanderungswilligen, die in Büdingen zusammenkamen, gab es aber auch zahlreiche junge Burschen, die sich nicht überreden ließen und zunächst noch lieber ledig bleiben wollten. Ungebunden hofften sie sich leichter durchs Leben zu schlagen, und so mancher versprach sich auch in der weiten Fremde Liebesabenteuer, die ihm bisher in der engen Heimat verwehrt gewesen waren.

Keine Hochzeit ohne Fest, das galt auch in Büdingen, wo eine Trauung die andere jagte und somit Feier auf Feier folgte. Es wurde gegessen und getrunken, was nur in den Magen hineinging, gesungen und getanzt, bis die Kehlen heiser und die Beine bleischwer wurden, und noch nie hatten den Musikanten die Finger so geschmerzt wie in diesen Wochen.

Gefeiert wurden auch Taufe und Trauer, denn Geburt und Tod blieben vom Kreis der Kolonisten nicht ausgesperrt. Bei einigen Neugeborenen übernahm Facius die Patenschaft, so mancher Säugling aber überlebte nicht das Wochenbett.

Es waren Wochen, in denen der Werbungskommissar allen Grund hatte, guter Laune zu sein.