An der Wolga will ich bleiben

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Ein voller Monat war ins Land gegangen, seitdem sich die ersten Auswanderer in Büdingen eingefunden hatten. Der Transport zur Hafenstadt Lübeck hatte sich verzögert, aber nun war es endlich so weit. Anfang April machte sich der erste Treck auf den Weg, fast vierhundert Menschen mit Sack und Pack. Ein Teil der Russlandfahrer legte die weite Reise zur Ostseeküste im eigenen Fuhrwerk zurück; die meisten aber saßen mit ihrem Gepäck auf Karren und Wagen, die der Werbungskommissar gemietet hatte.

Schwerfällig setzte sich die Kolonne am frühen Morgen in Bewegung. Die Aufbruchsstimmung der letzten Stunden hatte die Nacht zum Tag gemacht. Überall war gepackt und geladen worden, und das Abschiednehmen hatte kein Ende finden wollen. Bei aller Freude und Ausgelassenheit gab es auf beiden Seiten auch nachdenkliche Gesichter: Die einen bereuten, sich zu dieser Fahrt ins Ungewisse überhaupt verpflichtet zu haben, die anderen, dass sie zurückbleiben mussten. Facius selbst begleitete die Auswanderer nur bis zur Grenze der Grafschaft und kehrte dann nach Büdingen zurück, wo er in den kommenden Monaten noch weitere Ausreisewillige für einen zweiten Treck anwerben wollte. Mit der Führung der Wagenkolonne hatte er einen seiner Unteragenten betraut, einen ehemaligen preußischen Leutnant, der nach dem Krieg brotlos geworden war und nun gleichfalls sein Glück in Russland zu finden hoffte.

Viele der Männer, die bei der ersten Werbungsveranstaltung im Auerhahn dabei gewesen waren, hatten sich in den letzten Wochen mit ihren Familien zur Ausreise entschlossen, darunter auch Johann Orner mit Frau und fünf Kindern sowie Christoph Möhring, der „Studiosus“, der allen Verlockungen widerstanden hatte, sich noch in der Büdinger Marienkirche trauen zu lassen und als Flitterwöchner die Reise zur Wolga zu genießen.

Zwei Tagesstrecken hatte die Wagenkolonne bereits zurückgelegt, als die Auswanderer auf einer Waldlichtung ihr Nachtlager aufschlugen. Im nahen Bach holten die Frauen Wasser, und schon bald hingen zahlreiche Kochtöpfe über den Feuerstellen.

Es dämmerte, als die Familie Orner ihre Mahlzeit beendet hatte. Hildegard sammelte das Geschirr ein, um es im Bach zu spülen. Gerade als sie den Topf mit Sand scheuerte, raschelte es plötzlich im Gebüsch hinter ihr. Erschrocken fuhr sie hoch. Vor ihr stand ein Bursche, nur wenig älter als sie.

„Keine Angst“, versuchte er sie zu beruhigen, „ich tu dir nichts.“

„Weshalb versteckst du dich hier? Gehörst du überhaupt zum Treck?“

„Nein, als ich von weitem euer Lager sah, habe ich mich vorsichtig genähert. Ich bin desertiert, ich will kein Soldat sein. Sie haben mich reingelegt, bei der erstbesten Gelegenheit bin ich einfach abgehauen. Ich muss weg von hier, bevor sie mich finden, über die Grenze, wohin mir die Landhusaren nicht folgen dürfen, verstehst du? Und wohin fahrt ihr?“

„Zur Wolga. Komm doch mit! Junge Männer, die anpacken können, sind gesucht.“

„Anpacken kann ich schon, ich bin Bauer.“

„Umso besser! Melde dich beim Transportführer, vielleicht nimmt er dich mit bis Lübeck.“

„Ist das der Offizier dahinten?“

„Ja.“

„Auf keinen Fall!“, brauste der Bursche auf. „Kommiss ist Kommiss! Nur vor ihm habe ich mich hier versteckt, sonst wäre ich längst offen zu euch gekommen. Ich habe seit zwei Tagen nichts mehr gegessen.“

„Warte hier, ich bringe dir nachher was, sobald die meisten schlafen.“

Längst war es dunkel geworden, als Hildegard sich mit einem Kanten Brot und einer Scheibe Speck unter der Jacke aus dem Lager stahl. Ihr Herz klopfte vor Erregung, er gefiel ihr. Die Art, wie er sich gab, frisch und offen, hatte ihr Vertrauen geweckt, und während sie sich dem Gebüsch am Bach näherte, sah sie in Gedanken seine kräftige Gestalt vor sich, sein junges und doch schon willensstarkes Gesicht mit den blauen Augen und dem wirren Blondschopf.

Er kam ihr entgegen, als er sie bemerkte, und während er heißhungrig kaute, erzählte er ihr, dass er Peter Luck heiße und zwanzig Jahre alt sei. Schon früh hatte er seine Mutter verloren. Seine ältere Schwester, seit einiger Zeit mit einem anderen Bauern in der Rhön verheiratet, hatte ihn aufgezogen. Vor zwei Jahren war dann auch der lungenkranke Vater gestorben, der seit dem Tod seiner Frau nicht mehr richtig Tritt gefasst hatte, der Hof war heruntergekommen und verschuldet. Zuletzt hatte Peter ihn allein bewirtschaften müssen. Da er die alten Schulden nicht begleichen konnte, war das Gehöft unter den Hammer gekommen. In dieser Notlage hatte er sich vor zwei Wochen, von Werbern unter Alkohol gesetzt, als Söldner ködern lassen und war nun aus der Kaserne geflohen.

„Und jetzt?“, fragte Hildegard ihn. „Hast du dir inzwischen überlegt, ob du mit uns kommst?“

„Es wäre vielleicht gar nicht so schlecht“, meinte Peter noch unentschieden, „jedenfalls so lange, bis wir aus Hessen sind. Jenseits der Grenze würde kein Hahn mehr nach mir krähen.“ Seine hoffnungsvolle Stimmung schlug jäh um. „Nein“, sagte er, „nein, es geht doch nicht. Der Offizier, du verstehst schon, er darf auf keinen Fall was von mir wissen, solange mich die Landhusaren noch verfolgen können.“

„Und wenn du dich bei uns zwischen dem Gepäck versteckt hältst, bis wir die Grenze hinter uns haben?"

„Was wird denn deine Familie dazu sagen, dein Vater?“

„Der hat bestimmt Verständnis für dich.“ Sie versprach ihm, mit ihrem Vater zu reden und, sobald es hell werde, ein Zeichen zu geben. Da ihr Fuhrwerk am Waldrand stehe, könne er unbemerkt kommen.

Als Hildegard zum Lagerplatz zurückkehrte, lief sie ihrem Vater geradewegs in die Arme. Sie nutzte die günstige Gelegenheit, ihm alles zu erzählen, und zerstreute endgültig seine Bedenken, als sie ihm sagte, der junge Mann sei ein Bauer.

„Er könnte uns helfen“, meinte er. „Als Köhler verstehe ich nicht viel von Ackerbau und Viehzucht, keiner von uns. Ein Bauernbursche in der Familie wäre gar nicht so schlecht.“

3

Alles verlief reibungslos, niemand außer den Orners schien zu wissen, dass ein Fahnenflüchtiger mit ihnen reiste. Nur noch wenige Stunden - und Hessen würde hinter ihnen liegen.

Bereits in der Nacht hatte sich ein Wetterumschwung angekündigt, zunächst mit Frühlingsstürmen und seit dem Vormittag auch mit Regen, vor dem jeder unter Planen und Gepäckstücken Schutz suchte. Zusammengekauert hockten die Kutscher auf den Böcken und hielten missmutig den Blick gesenkt. So kam es, dass sie erst spät einen Reitertrupp über die Felder heransprengen sahen. Es war eine Handvoll Husaren, die auf Befehl ihres Hauptmanns ausschwärmten und die Wagenkolonne in weitem Umkreis umzingelten.

Der Leutnant, der dem Treck vorausritt, zügelte sein Pferd und hob den Arm, als er bemerkte, dass der Husarenoffizier ihnen den Weg versperrte. Die Fuhrwerke hielten an, während die Soldaten den Ring enger zogen.

„Warum halten Sie uns auf, Herr Hauptmann?“

„Wir suchen einen Deserteur.“

„Bei uns? Wir sind Auswanderer aus Hessen auf dem Weg nach Lübeck. Jeder ist auf einer Liste aufgeführt, alles behördlich genehmigt.“

„Ich suche einen Mann, der nicht auf Ihrer Liste steht. Sie gestatten?“

Ohne die Antwort des Zugführers abzuwarten, befahl der Hauptmann seinen Husaren, die Fuhrwerke zu durchsuchen. Mürrisch machten sich die Soldaten an die Arbeit, wie schon seit Tagen in Scheunen und Gehöften, in Wäldern und Höhlen. Durchnässt wie sie waren, nahmen sie es bei dem Hundewetter nicht so genau, zumal die Auswanderer ihnen wenig Entgegenkommen zeigten; ohnehin war der Kerl ihrer Meinung nach längst über alle Berge.

Der Soldat, der Orners Wagen überprüfte, fand, als er die Plane lüftete, eine Kinderschar wie Orgelpfeifen auf Kisten und Kästen sitzen. Ungehalten über die Störung plärrten die beiden Jüngsten los, denen eine Pfütze auf den Kopf platschte, und rissen den Regenschutz wieder herunter. Der Husar lachte, er dachte an seine eigenen Geschwister zu Hause und hielt es für sinnlos, die Kinder vom Gepäck zu scheuchen und darunter nachzuschauen.

Nirgends fand sich eine Spur von einem Deserteur. Der Hauptmann beendete die Suchaktion, sammelte seine Husaren um sich und preschte so ungestüm davon, dass der Schlamm unter den Hufen aufspritzte. Die Wagenkolonne setzte sich wieder in Bewegung, überquerte ohne weitere Vorkommnisse die hessische Grenze und machte erst bei Einbruch der Dunkelheit Halt, diesmal in einem Dorf, wo wenigstens die Frauen und Kinder bei dem noch andauernden Regen in Schuppen und Scheunen Unterschlupf fanden.

Noch immer hielt sich Peter Luck in Orners Fuhrwerk verborgen, als der Leutnant bei einem Rundgang Zeuge wurde, wie Hildegard mit einem Napf dampfender Suppe aus der Scheune kam, auffällig nach allen Seiten spähte und dann rasch den Platz zum Wagen überquerte. Auf ihren leisen Zuruf hin schob jemand von innen die Plane einen Spaltbreit beiseite und nahm den Napf entgegen. Sobald das Mädchen sich wieder in die Scheune zurückgezogen hatte, schlenderte der Leutnant wie beiläufig zum Fuhrwerk und riss dann plötzlich die Plane auf. Überrascht zuckte Peter zusammen.

„Keine Angst, hier sucht kein hessischer Husar mehr nach Ihnen. Warum verstecken Sie sich überhaupt noch länger?“

„Ich war mir nicht sicher, wie Sie sich verhalten würden.“

„Was haben Sie vor?“

„Das Mädchen von dem Wagen hier hat mir von Russland erzählt, von der Wolga.“

„Sie gefällt Ihnen wohl, wie?“ Der Leutnant lächelte, als er die Verlegenheit des anderen bemerkte. „Verstehen Sie was von Landwirtschaft?“

„Ich bin Bauer.“

 

„Dann sind Sie der richtige Mann für die Wolga. Wollen Sie nicht mit uns fahren?“

„Ich habe schon daran gedacht, aber -“

„Lassen Sie uns nachher darüber in meinem Quartier reden. Wenn wir uns einig werden, verpflichte ich mich, für Ihre Verpflegung bis Lübeck zu sorgen, und Sie verpflichten sich, mit uns nach Russland zu reisen. In Lübeck erhalten Sie dann sofort die vollen Tagegelder wie jeder andere auch, sobald Sie dort einen Vertrag mit dem russischen Kommissar abgeschlossen haben. Einverstanden?“

Von dieser Stunde an hielt sich Peter nicht mehr länger versteckt, und schon bald hatten sich alle daran gewöhnt, dass er mit den Orners fuhr.

Von Abenteuerlust getrieben
1

Bereits Wochen zuvor war Georg Schrenk, ein anderer junger Mann, mit zwanzig Jahren genauso alt wie Peter Luck, nach Lübeck gekommen. Er und seine beiden Gefährten hatten jedoch ein anderes Ziel vor Augen als die hessischen Auswanderer. Sie schwärmten von Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, von Abenteuern in einer Welt, die jedem tüchtigen Kerl offen stand.

Georg, der Sohn eines Tuchmachers, stammte aus der thüringischen Stadt Gera, wo er einmal nach dem Willen seines Vaters dessen Gewerbe übernehmen sollte. Nach einer für seinen Stand guten Schulbildung begann er eine Lehre bei einem Schwager, der gleichfalls Tuchmacher war. Als ein Jahr später der Schwager starb, hoffte Georg, jetzt endlich seinen Kindheitstraum verwirklichen zu können, die Heimatstadt zu verlassen und sich in der weiten Welt umzusehen. Doch seine Eltern hielten ihn noch für zu jung und verweigerten ihm ihre Einwilligung auch deswegen, weil der Vater nach einem Schlaganfall seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte und den Tag herbeisehnte, an dem sein Sohn den Betrieb übernehmen werde. Wohl oder übel musste der Junge gehorchen und seine Lehre im heimatlichen Gera bei einem Tuchmacher fortsetzen, der mit einer Schwester Georgs verheiratet war.

Noch nicht lange lebte er in ihrem Haus, als er die Bekanntschaft mit der Tochter eines Böttchers machte, der im Stockwerk darüber wohnte. Nach der ersten zufälligen Begegnung trafen sie sich immer häufiger, und schon bald verbrachten sie jeden Abend gemeinsam, gewöhnlich bis Mitternacht. Ohne die gutmütige Magd, die ihm auf ein Klopfzeichen hin die verriegelte Tür leise öffnete, hätte Georg nicht so lange ausbleiben können, zumal sein Schwager und dessen Frau ihn gemahnt hatten, nicht so spät nach Hause zu kommen.

Eine Zeitlang blieben seine nächtlichen Ausflüge unentdeckt, bis ihm eines Tages seine Schwester auf die Schliche kam und statt der Magd die Tür öffnete. Schon beim Eintreten überschüttete sie ihn mit Vorwürfen, er schade nicht nur ihrem Ansehen, sondern bringe auch ein unbescholtenes Mädchen in Verruf.

„Wir lieben uns, ist das verboten?“, fragte er trotzig.

„Ein Junge wie du braucht noch keine Braut.“

„Ich bin kein Junge mehr, und ob ich ein Mädchen habe, ist allein meine Sache.“

„Du bist mein Bruder und wohnst mit uns unter einem Dach.“

„Wenn dich das stört, kann ich ja ausziehen.“

„Das bestimmen allein unsere Eltern. Vater legt größten Wert darauf, dass du bei uns ausgebildet und erzogen wirst.“

„Von dir erzogen? Dass ich nicht lache! Seit einem Monat bin ich Geselle und lass mich von dir nicht herumkommandieren.“

Der Wortwechsel wurde so heftig geführt, dass der Schwager aus dem Bett aufsprang und im Nachthemd in die Stube stürzte. Vergeblich versuchte er die Wogen zu glätten, auf jede Beleidigung des einen folgte eine noch stärkere des anderen. Besonders durch die Bemerkung, er sei ein Junge, der noch keine Braut brauche, hatte sich Georg so schwer in seiner Mannesehre verletzt gefühlt, dass er immer ungestümer aufbrauste und schließlich einen Stuhl nach seiner Schwester schleuderte, die gerade noch ausweichen und sich in die Arme ihres Mannes flüchten konnte.

Krachend schlug Georg die Tür seiner Kammer hinter sich zu, fest entschlossen, keinen Tag länger unter einem Dach mit seiner Schwester zu bleiben. Nichts würde ihn jetzt noch davon abhalten, schon morgen als Tuchmachergeselle auf Wanderschaft zu gehen, auch nicht die Trennung von seiner Geliebten. Im Gegenteil, so redete er sich ein, je früher ich von hier aufbreche, desto eher kehre ich zurück, um sie für immer in die Arme zu schließen. Denn heiraten können wir erst, sobald ich meine Wanderjahre hinter mir habe und Meister geworden sind.

Von diesem Entschluss ließ er sich auch nicht durch seinen Schwager abbringen, der ihm am nächsten Morgen am Bett erst eine Strafpredigt hielt, dann aber in vertraulicherem Ton auf ihn einredete, von Mann zu Mann, er habe Verständnis für sein Verhältnis mit der hübschen Böttcherstochter, nur solle er sich in den folgenden Tagen etwas zurückhalten und jetzt erst mal aufstehen und wieder an die Arbeit gehen. „Mit deiner Schwester bringe ich bald wieder alles in Ordnung, das verspreche ich dir.“

„Gib dir keine Mühe“, erwiderte Georg bockig, warf das Federbett auf den Boden und sprang auf. „Keine Stunde länger bleibe ich bei euch.“

Ohne zu frühstücken, verließ er das Haus und eilte zu seinen Eltern, die er mit Bitten bestürmte, ihn auf Wanderschaft gehen zu lassen. Was sie ihm wenige Monate zuvor noch verweigert hatten, erlaubten sie ihm diesmal. Seine Mutter wusch ihm noch Hemden und Socken für die Reise und brachte all seine Sachen in Ordnung. Der Abschied fiel ihm schwerer, als er sich das vorgestellt hatte, besonders die Trennung von dem geliebten Mädchen und seinem kranken, alten Vater, den ein neuer Schlaganfall bettlägerig gemacht hatte. Es gab keine Hoffnung, ihn wiederzusehen.

Mit reichlich Geld in der Tasche, das ihm seine Eltern und Verwandten großzügig zugesteckt hatten, trat Georg im Jahr 1764 seine Wanderschaft an. Auf Wunsch des Vaters ging er zunächst nach Berlin, wo er bei einem Landsmann aus Erfurt Arbeit und Unterkunft fand. Obwohl er beabsichtigt hatte, sich nicht lange in Berlin aufzuhalten, blieb er dennoch zehn Monate dort. Zu verlockend waren die vielfältigen Reize in der Hauptstadt des Preußenkönigs, zumal für einen jungen Mann, der noch kaum über die Mauern seiner Vaterstadt hinaus gekommen war. Da er jedoch über seine Verhältnisse lebte, war er bald knapp bei Kasse, und ohne genügend Geld in der Tasche, gefiel es ihm auch nicht länger in Berlin.

Der Wunsch, die Welt zu sehen, erwachte erneut in ihm. Davon hielt ihn auch nicht die schon lange befürchtete Nachricht vom Tod seines Vaters ab. Die Regelung der Erbschaftsangelegenheiten, zu der er auf Bitten der Mutter vorübergehend nach Gera zurückkehren sollte, ließ sich seiner Ansicht nach auch schriftlich erledigen. So schnürte Georg Schrenk dann eines Morgens sein Bündel und begab sich erneut auf Wanderschaft, diesmal nach Nordwesten zur Ostseeküste. Noch nie hatte er einen Hafen gesehen, noch nie seetüchtige Schiffe, von denen er als kleiner Junge so oft geträumt. Lübeck war die Stadt, die ihn anzog. Von dort aus hoffte er über die Meere zu segeln und fremde Länder kennenzulernen.

Vom gleichen Wunsch beseelt war auch sein Freund Boppe, ein Handwerksgenosse aus Braunschweig, mit dem er von Berlin aufbrach. Unterwegs stieß noch ein weiterer Weggefährte zu ihnen, ein junger Zimmermann, der Mohl hieß und weiter nichts bei sich hatte als das, was er in der Hosentasche trug.

2

Alle Müdigkeit war verflogen, als sie nach langer und beschwerlicher Wanderschaft an einem späten Nachmittag die Umrisse Lübecks erkannten und mitten in der Stadt die in den Himmel ragenden Kirchtürme. Auf der Suche nach einem billigen Gasthof stiegen die drei jungen Männer in der Hufschmidtherberge ab, wo sie, verleitet durch die Bierkrüge, die der Wirt einschenkte, erst einmal ihren Durst stillten. Doch während Mohl und Boppe Stein und Bein schworen, an diesem Tag keinen Schritt mehr vor die Tür zu setzen, hielt es Georg nicht länger in der rauchigen Kneipe zurück. Überall glaubte er salzige Seeluft zu schnuppern, und der Gedanke, endlich die Segelschiffe zu sehen, die weltweit die Meere überquerten, trieb ihn hinaus zur Trave. Hier, wo der Fluss in die Ostsee mündete, fand er, was seine Phantasie von früher Kindheit an beschäftigt hatte: Schiffe aller Größen, die am Ufer vor Anker lagen oder mit windgeblähten Segeln ein- und ausliefen.

In seiner Erinnerung sah er sich wieder in den dunklen Wintermonaten mit fiebrig heißem Kopf über Büchern sitzen, voller Abenteuer in einer Welt, die weit jenseits der Gassen und Umgebung seiner ihm vertrauten Vaterstadt lagen. Mit Entdeckern und Piraten überstand er alle Gefahren auf hoher See, schlug sich durch Dschungel und Wüsten, kämpfte gegen Löwen und Schlangen und jagte bald Büffel mit halbnackten Indianern Amerikas, bald Robben mit pelzvermummten Eskimos im hohen Norden. Je weiter das Land seiner Sehnsucht von der Enge seiner Heimat entfernt lag, desto freier fühlte er sich. Für ihn war der Mühlgraben, der am Haus seines Vaters träge vorüberfloss, das Meer, von dem er träumte, und wie ein Admiral führte er den Oberbefehl über all die Schiffchen und Boote aus, die er sich aus dünnen Brettern bastelte, mit flüssigem Pech kalfaterte und mit kleinen, selbstgeformten Wachsfiguren bemannte. In seiner kindlichen Wunschwelt zog er, die Fäden fest in der Hand, seine Flotte bald die Donau hinauf, bald kreuzte er mit seinem Schiffsvolk die sieben Weltmeere und ging heute in Brest oder Portsmouth, morgen in Kanton oder Madras vor Anker.

Lange Zeit war dies sein Lieblingsspiel gewesen, bis eines Tages ausgerechnet seine stolze Fregatte auf einer Kuhhaut strandete, die ein Lohgerber ins Wasser gelegt hatte. Im Übereifer, die drohende Kenterung zu verhindern und sein Flaggschiff wieder flottzumachen, verlor der kleine Admiral das Gleichgewicht und platschte in den Bach. Da trieb er nun in der Strömung, tauchte bald auf, bald unter, schnappte nach Luft und schrie wie am Spieß, selbst dann noch, als ihn ein Färber, der in der Nähe seine Stoffe spülte, am rechten Fuß packte und wie einen Riesenfisch an Land zog, wo er ihn, den Kopf nach unten, so lange an den Hammelbeinen hielt, bis das Wasser, das der Ertrinkende geschluckt hatte, wieder herausgelaufen war.

Auf das Zetermordiogeschrei hin war der Vater herbeigeeilt und wollte, kaum war die erste Freude über die Rettung verflogen, seinem Sprössling den Hintern versohlen, denn schon mehr als einmal hatte er ihm verboten, am Mühlgraben zu spielen. Der triefende Admiral zappelte bereits über dem väterlichen Knie, als jemand unter den menschenfreundlichen Nachbarn dem Vater in den Arm fiel und die Züchtigung vereitelte. Diesmal war der kleine Junge mit dem Schrecken davongekommen, aber er blieb ihm so fest in den Gliedern stecken, dass er ab sofort den Schifffahrtsbetrieb auf dem Mühlgraben aufgab und nur noch in seiner ungebändigten Einbildungskraft an Bord eines Dreimasters über den Ozean segelte.

Ein Lächeln huschte über Georgs Gesicht, während in seinen Gedanken diese Begebenheit der frühen Knabenjahre nun an der Travemündung wieder auftauchte. Drei Tage lang trieb er sich am Ufer herum, unterhielt sich mit Seefahrern und war ganz Ohr, wenn sie ihm von ihren Reisen in ferne Länder erzählten.