An der Wolga will ich bleiben

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3

Die Gegend um den Hafen gewann für ihn noch mehr an Reiz, als er dort nahe der Trave ein Speisehaus entdeckte, das nach dem Willen der längst seligen Stifterin reisenden Handwerksburschen drei Tage lang kostenlos Verpflegung bot. Mittags und abends kehrte er dort ein und nickte jedes Mal seinen wärmsten Dank der großzügigen Dame zu, deren lebensgroßes Bildnis im Wirtssaal hing.

Immer wenn er am späten Abend in die Hufschmidtherberge zurückkehrte, erkundigten sich seine beiden Reisegefährten, ob er nun endlich herausgefunden habe, wie und wann sie am billigsten von Lübeck über Hamburg und weiter über Amsterdam nach Amerika fahren könnten, dem Ziel ihrer Wünsche.

„Wie ich heute gehört habe, ist es am besten, wenn wir uns in Amsterdam im Westindischen Haus melden.“

„Warum gerade dort?“, wollte Boppe wissen.

„Weil wir dann umsonst nach Amerika fahren können, wir bekommen sogar noch Geld dafür. Man muss sich nur verpflichten, Soldat zu werden.“

Mohl rümpfte die Nase. „Das stinkt mir.“

„Die Zeit vergeht auch. Ist das vielleicht nichts, wenn wir die Welt kennenlernen, ohne auch nur einen Schilling zu zahlen?“

Die Aussicht, den Rock des Soldaten anziehen zu müssen, um ohne Reisekosten nach Amerika zu gelangen, trübte die Abenteuerlust von Georgs Gefährten. Doch ihre anfänglichen Bedenken waren schon halbwegs zerstreut, als sie eines Abends die Bekanntschaft mit einigen gut gekleideten Leuten machten, die sich, so schien es, in die Gaststube fürs einfache Volk verirrt hatten. Bei Wein und Bier waren die Herren bald in ausgelassener Stimmung, und ihre laute Unterhaltung weckte schon nach wenigen Sätzen die Neugier der jungen Zuhörer. Wie beiläufig zog einer der Fremden die Handwerksgesellen durch eine Bemerkung ins Gespräch, an dem sie anfangs halb unwillig, dann aber mit wachsender Aufmerksamkeit teilnahmen.

„Kommt, setzt euch zu uns“, hieß es, „ihr scheint trinkfeste Kerle zu sein.“

Kaum hatten sie sich zu der Runde gesellt, als ihnen der Wirt auch schon auf einen Wink der Herren Bier und Schnaps brachte.

„Damit haben wir nicht gerechnet“, gestand Georg. „Eigentlich wollten wir uns gerade aufs Ohr legen.

„Schlafen könnt ihr immer noch“, meinte der wohlbeleibte Mann, der in der Runde das Wort zu führen schien. „Es sei denn“, fuhr er augenzwinkernd hinzu, „ein paar Mädchen warten auf euch.“

„Wenn’s so wäre, lägen wir längst bei ihnen.“

Die Zecher lachten lauthals, und der Wohlbeleibte, der ständig mit lauerndem Blick die drei Burschen abzuschätzen schien wie ein Kaufmann seine Waren, schmeichelte ihnen:

„Ihr wisst, wo’s langgeht, das merkt man sofort. Kerle wie ihr machen immer ihren Weg. Übrigens, der Sprache nach seid ihr wohl nicht von hier? Was macht ihr eigentlich in Lübeck?“

„Wir wollen nach Amerika“, antwortete Georg.

„Wisst ihr denn überhaupt, was euch da blüht?“

„Wollt ihr euch unbedingt ins Unglück stürzen?“

So klangen die Warnungen der fremden Gäste. Besonders einer von ihnen, ein lang aufgeschossener Mann mit einer Habichtsnase, redete besorgt auf sie ein und versicherte, selbst einige Zeit in Amerika gewesen zu sein: „Ihr habt ja keine Ahnung, wie elend es den Einwanderern dort geht“, fuhr er eindringlich fort. „Allein schon die Überfahrt bei Sturm und hoher See! Die Seekrankheit ist dabei noch das geringste Übel. Viel schlimmer sind Hunger und Durst, wochenlang, dazu Frost, Hitze, Nässe, Not und dauernd die Todesangst, mit diesen durch und durch morschen Schiffen unterzugehen, Schiffen, die so voll gepackt sind mit Menschen, dass niemand sich darin rühren kann, und wo bei rauer See Gesunde und Kranke mit all ihrem Kram von einer Ecke in die andere geworfen werden. Habt ihr überhaupt genügend Geld? Natürlich nicht, und das bedeutet: Noch ehe ihr in Amerika an Land geht, seid ihr bis über beide Ohren verschuldet; denn die Kapitäne verstehen sich darauf, während der langen Seereise die Passagiere auszunehmen wie Gänse. Den Buckel voller Schulden seht ihr dann schließlich das Land der unbegrenzten Möglichkeiten vor euch liegen, das heißt nur die Küste, denn von Bord gehen lässt euch der Kapitän nicht, solange ihr ihm noch die Kosten für die Überfahrt schuldig seid. Wie die meisten anderen Auswanderer müsst ihr dann so lange im Schiff liegen bleiben, bis jemand euch kauft. Der Menschenhandel blüht wie einst mit den schwarzen Sklaven. Wie Vieh treiben sie euch zur Arbeit und lassen euch bis zum Umfallen schuften. Lauft ihr davon, dann hetzen sie einen Trupp Bewaffneter hinter euch her. Denn wer einen Flüchtling schnappt und abliefert, erhält vom Sklavenhalter eine reiche Belohnung. Ihr selbst aber werdet hart bestraft. Glaubt mir, ich hab’s am eigenen Leib erlebt, für Einwanderer wie unsereins ist das Leben in Amerika kein Zuckerschlecken.“

„So ist es doch nicht überall“, wandte Georg kleinlaut ein.

„Warum sollte ich euch die Wahrheit verhehlen? Ich kann euch ja morgen mit einigen Seefahrern bekannt machen, die schon mehr als einmal drüben waren.“

„Nein, nein, wir glauben Ihnen ja. Wir müssen uns sogar für Ihre Warnungen bedanken“, beschwichtigte Georg, konnte sich aber nicht verkneifen, seiner Enttäuschung Luft zu machen: „Aus der Traum, ferne Länder zu sehen, schade...! Doch vielleicht noch nicht ganz, wir brauchen nämlich keine Schulden zu machen. Wenn wir uns verpflichten, in Amerika Soldat zu werden, kostet uns die Überfahrt keinen Schilling, ja, wir bekommen sogar noch ein ordentliches Handgeld drauf -“

„Und eine Kugel mitten ins Herz“, fiel der Mann mit der Habichtsnase ein. „Oder glaubt ihr vielleicht, euch als Etappenhengste bei den Weibern vergnügen zu können?“

Soldat werden und Sold einsacken war nur die eine Seite der Medaille, an vorderster Front kämpfen und fallen die andere, die sie in ihrer Abenteuerlust bisher verdrängt hatten.

„Kommt mit uns nach Russland“, begann jetzt ein anderer der Herren, in dessen Knebelbart sich einige Schaumperlen seines Bierkrugs eingenistet hatten. „Dort hat jetzt die große Katharina, selbst eine Deutsche wie ihr und wir, all ihren Landsleuten Tür und Tor geöffnet. Ein wahres Paradies, sage ich euch, im mildesten Klima ihres Riesenreiches. Sie will dort Kolonien von Deutschen gründen lassen, denen sie nicht nur sämtliche Reisekosten erstattet, sondern darüber hinaus noch jahrelang genug Geld gibt für ihren Unterhalt. Ja, sie lässt sogar noch jedem Einwanderer ein Vermögen von hundertfünfzig Rubeln auszahlen, damit er sich dort so einrichten kann, wie es ihm gefällt. Wer nach Russland geht, der hat sein Glück schon jetzt gemacht, und Abenteuer kann er auch noch erleben, so viele er will. Denn unterwegs lernt er weite Teile der Welt und ihrer Bewohner kennen, Kosaken, Kalmücken und Mordwinen zum Beispiel, und Frauen sollen dort leben, die geradezu wild sind auf fremde Kerle!“

Solche Aussichten verfehlten ihre Wirkung bei den Handwerksburschen nicht, zumal der reichlich genossene Alkohol ihre Sinne benebelt hatte. Amerika lag so gut wie hinter ihnen, und die Lust, nach Russland zu ziehen, war so sehr entflammt, dass es eigentlich keines weiteren Anstoßes mehr bedurft hätte. Dennoch setzte der wohlbeleibte Herr, der zuerst das Wort geführt hatte, noch eins drauf, indem er seinen jungen Freunden ein in Sankt Petersburg gedrucktes Manifest der Zarin vorzeigte, worin schwarz auf weiß all die Verheißungen zu lesen waren. Noch nicht genug damit, holte ein Vierter auch noch einige Briefe hervor, die, wie er versicherte, von Deutschen stammten, die sich bereits in Russland angesiedelt hätten. Was sie aus ihrer neuen Heimat berichteten, klang so verlockend, dass jedermann, der jetzt noch länger hinterm Ofen hocken blieb, sich wie ein Narr vorkommen musste.

Zu jung und ohne Lebenserfahrung durchschauten die Handwerksburschen nicht die Machenschaften ihrer Gastgeber. Von Werbern für Russland hatten sie noch nie etwas gehört, auch nicht davon, dass Seelenverkäufer vor verlogenen Berichten und gefälschten Briefen nicht zurückschreckten. Ganz Feuer und Flamme fragte daher Georg einen der Herren, ob sie ihnen nicht behilflich sein könnten, mit ihnen zusammen nach Russland zu fahren.

„Natürlich helfen wir euch“, versprach ihnen der Wohlbeleibte. „Am besten wendet ihr euch an einen gewissen Schmidt. Er ist Kaufmann hier in Lübeck und zugleich ein Kommissar in russischen Diensten. Meldet euch bei ihm und sagt ihm eure Wünsche.“

„Können Sie uns nicht persönlich zu ihm führen?“, bat Boppe.

„Das lässt sich machen“, meinte der Mann mit der Habichtsnase. „Morgen früh um zehn holen wir euch ab.“ Er winkte dem Wirt zu, zahlte die Zeche und verließ rasch mit seinen Kumpanen den Saal.

Obwohl ihnen der Kopf schwer war von dem vielen Bier und Schnaps, konnten die drei Handwerksburschen lange Zeit nicht einschlafen. Immer wieder schwärmten sie von den glänzenden Aussichten, die sich ihnen so unverhofft eröffnet hatten.

4

Wie vereinbart holten die Herren am Morgen die Handwerksburschen ab und begleiteten sie zu dem Lübecker Kaufmann, der als russischer Kommissar für die Anwerbung von Kolonisten zuständig war. Er hieß die jungen Männer nicht nur freundlich willkommen, sondern bestätigte ihnen auch, was die Herren ihnen am Abend zuvor im Wirtshaus vorgespiegelt hatten.

„Wirklich, Sie sind wahre Glückspilze! So jung und schon in Kürze gemachte Leute. Wenn ich noch in Ihrem Alter wäre, würde ich alles stehen und liegen lassen und mit Ihnen nach Russland gehen. Jeder von Ihnen erhält täglich acht Schilling, die ich Ihnen auf vierzehn Tage im Voraus auszahle, sobald Sie hier unterschrieben haben.“

 

Willig setzten sie ihre Namen unter den Vertrag, den ihnen der Werbungskommissar mit dem Geldbetrag vorlegte.

„Wann geht’s denn los?“, erkundigte sich Boppe ungeduldig.

„Sobald genügend Auswanderer in Lübeck eingetroffen sind. Bis dahin können Sie im Versammlungshaus am Holstentor wohnen. Die Herren“, er wechselte ein verständnisvolles Lächeln mit den Zechern, „werden Ihnen schon den Weg zeigen.“

Hilfsbereit wie seit der ersten Stunde führten die Herren die Handwerksburschen durch die gewundenen Gassen zu ihrer Unterkunft, wo ihnen schon von fern her Musik und Fröhlichkeit entgegenschallten.

„Wenn’s da immer so lustig zugeht, dann fällt einem das Warten bestimmt nicht lang“, bemerkte Mohl.

„Ja, da ist immer was los“, erklärte der wohlbeleibte Herr. „Der Schiffer, dem das Haus gehört, ist selbst kein Kind von Traurigkeit.“

Ungefähr fünfzig Menschen jeden Alters hatten dort Quartier bezogen. Einige von ihnen begrüßten die neuen Ankömmlinge ausgelassen, andere dagegen schauten mitleidig auf sie herab, weil sie in ihnen Leidensgenossen sahen, die einem gemeinsamen Schicksal entgegengingen, das sie schon jetzt verwünschten. Doch die Schatten nahmen die Handwerksburschen bei so viel Sonne nicht wahr. Sie hatten Geld in der Tasche und eine Freikarte ins Paradies, und unter der Menge fröhlicher Menschen lachte ihnen so manches hübsche Mädchengesicht entgegen. Wie selbstverständlich nahmen sie hin, dass der Wirt der überfüllten Sammelunterkunft gleich ihre Bündel unter Verschluss brachte und die fürsorglichen Herren sich nun rasch verabschiedeten und das Weite suchten.

Die jungen Vertreterinnen des schwachen Geschlechts waren es vor allem, die den Burschen den Blick trübten. Alle voran fühlte sich Georg schon bald als Hahn im Korb, und von den Mädchen, die ihm schöne Augen machten, fesselte ihn besonders eine blonde Hamburgerin, mit der er sich gern über ihre Heimatstadt und das Treiben im Hafen unterhielt. Ihre Anmut wie ihr anziehendes Benehmen ließen ihn ihre Nähe suchen, glaubte er doch, in ihr eine Reisegefährtin wie nach Maß gefunden zu haben.

Die Erinnerung an seine erste Jugendfreundin in Gera hatte sich schon in Berlin mehr und mehr verflüchtigt, wo ihn neue Bekanntschaften abgelenkt und der Drang in die Ferne seine Sinne gefangen hatten. Ohnehin war die Beziehung nur locker geknüpft gewesen, durch keinen Treueschwur gefestigt, auch nicht durch einen Briefwechsel aufrechterhalten worden. Je mehr das Mädchen aus Gera den Platz in seinem Herzen räumte, desto stärker begann die Schöne aus Hamburg ihn einzunehmen.

Menschenkenner war er mit seinen achtzehn Jahren noch nicht und im Umgang mit Evastöchtern noch ein Anfänger. Wo Scharfblick und Nüchternheit nötig gewesen wären, ließ er sich durch Rundungen und ein gewisses Entgegenkommen zu dem Fehlurteil verleiten, in diesem Mädchen die Richtige gefunden zu haben. Es schmeichelte ihm, dass sie nicht nur die Hübscheste war, sondern sich bei aller Zuvorkommenheit auch noch so sittlich und bescheiden benahm. Erst als sie glaubte, ihn fest am Bändel zu haben, ließ sie die Katze aus dem Sack.

„Weißt du, was man machen muss, um in Russland bequem und angenehm zu leben?“, begann sie unverfänglich, als er sie eines Abends in einer schummerigen Ecke in die Arme nahm.

„Am angenehmsten lebt man, wenn man sich liebt, nicht nur in Russland“, sagte er lachend und zog sie noch fester an sich.

„Aber dazu muss man erst mal verheiratet sein. Das wird dort von den Behörden verlangt. Für Eheleute gibt es auch mehr Geld und sonstige Vorteile.“

„Wer sagt das?“

„Ich hab’s eben gehört“, wich sie aus und schmiegte sich liebevoll an ihn, doch Georg hatte die Umarmung schon gelockert.

So sprach sie alle Tage zu ihm, und er hatte immer größere Mühe, sich mit Ausflüchten aus der Schlinge zu ziehen. Denn er scheute sich ihr einzugestehen, dass er nur aus Abenteuerlust nach Russland reisen, aber nicht dort bleiben und ungebunden sein wollte.

Je öfter sie ihm mit ihren Heiratsplänen in den Ohren lag, desto verdächtiger kamen ihm ihre Absichten vor. Sein Misstrauen nahm noch zu, als er bemerkte, wie unter den Auswanderern einige Männer begehrlich nach der schönen Hamburgerin grapschten und ihr lüsterne Anträge machten, als hätten sie sich schon früher mit ihr im Bett vergnügt. Vergeblich versuchte Georg seine Schöne vor den Zoten und Anzüglichkeiten zu schützen, die Männer lachten ihn nur aus und klopften ihr umso derber auf den Hintern. Als der zudringlichste Wüstling, ein Kerl wie ein Schrank, ihr gar unter die Röcke griff, fiel Georg ihm in den Arm, lag aber schon im nächsten Augenblick nach einem kräftigen Stoß auf dem Boden, wo er sich vor Schmerzen den Magen hielt.

„Schweinehund, verdammter!“, schimpfte er, als er sich taumelnd aufraffte. Er brannte darauf, es dem Kerl heimzuzahlen, aber der Schlag in den Unterleib hatte ihn außer Gefecht gesetzt. Kaum war er allein, als ein Mann die Gelegenheit wahrnahm, Georg über die Zügellosigkeit der anderen aufzuklären.

„Lassen Sie lieber die Finger von dem Mädchen“, begann er das Gespräch. „Sie und die anderen Schlampen gehören zu dem Weibsvolk, das der Kerl am Tisch dahinten von Hamburg mitgebracht hat. Er heißt Maas und war Bordellwirt im Hafenviertel. So wie er hier den Dummköpfen durch Glücksspiel das Geld aus der Tasche zieht, so hat er es auch in Hamburg getrieben. Seine Sirenen haben dabei den Männern den Kopf verdreht. Bootsknechte sind in seinem Puff ein und aus gegangen, überhaupt gemeines Volk aus aller Herren Länder. Seine Mädchen waren bald schon als Seemannsmatratzen so verrufen, dass die zahlungskräftigeren Hurenböcke das Haus mieden. Als er dann noch Wind bekam, die Polizei wolle seinem unsittlichen Gewerbe einen Riegel vorschieben, entschied er sich über Nacht, mit Sack und Pack nach Russland zu ziehen, wo er hofft, mit der roten Laterne erneut Freier anzulocken. Also lassen Sie sich mit keinem dieser Freudenmädchen ein, es könnte sonst schlimme Folgen für ihre Gesundheit haben.“

Georg dankte ihm aufrichtig, fest entschlossen, künftig jeden Umgang mit der Hamburgerin und den übrigen Dirnen zu meiden, auch wenn es ihm schwerfiel. Denn anfangs hatte er sich gerade deswegen zu seiner Schönen hingezogen gefühlt, weil ihm die Unterhaltung mit ihr das Leben in diesem bunt zusammengewürfelten Haufen erträglicher gemacht hatte.

Vor den Toren von Sankt Petersburg
1

Sechs Wochen warteten Georg und seine Freunde bereits in Lübeck auf die Abreise. Doch sosehr sie den Tag auch herbeisehnten, blieb die Aussicht weiterhin trübe, da noch nicht genügend Auswanderer für einen Schiffstransport beisammen waren.

Neue Hoffnung keimte auf, als endlich die Wagenkolonne der hessischen Auswanderer aus Büdingen eintraf. Die Nachricht von ihrer Ankunft sprach sich schnell herum, und fast alle Russlandfahrer waren auf den Beinen und schauten zu, wie die Fuhrwerke durch die Straßen ratterten. Fragen nach dem Woher und Wohin wurden den Ankömmlingen zugerufen, und die Augen so manchen jungen Mannes folgten einem hübschen Mädchen, bis sie seinen Blicken entschwunden war.

Zu ihnen gehörte auch Georg, der an diesem Tag zum ersten Mal Hildegard sah. Sie saß auf dem Gepäck hinten im Wagen bei ihren jüngeren Geschwistern, mit denen sie lebhaft plauderte. Ihr fröhliches Lachen hatte seine Aufmerksamkeit erregt, und je länger er sie betrachtete, desto stärker wurde er an seine Freundin in Gera erinnert. Fast hätten sie Schwestern sein können, so ähnelten sie sich, nur schien ihm das fremde Mädchen jünger zu sein. Er bedauerte, dass sie nicht im gleichen Haus Quartier bezog wie er, sondern in den Notunterkünften, die man für diesen Treck vorgesehen hatte.

Die meisten Auswanderer mussten sich mit solch einfachen Behausungen begnügen; nur die begüterten Leute konnten es sich leisten, sich bis zur Abfahrt des Schiffes bei den Bürgern der Stadt einzumieten. Wie überall, wo es eine Schar von Kolonisten gab, bestimmte auch hier der Lübecker Auswanderungskommissar Vorsteher oder Schulzen, um mit ihrer Hilfe die nötige Ordnung aufrechtzuerhalten und die Tagegelder auszuzahlen, die man scherzhaft „Buttergeld“ nannte.

In seinem Quartier erhielten Georg und seine Freunde dieses „Buttergeld“ aus den Händen eines Hamburger Gürtlers, der Kratzke hieß und eine Gruppe von zwanzig Personen beaufsichtigte. Wer auch immer sich von seinen Schutzbefohlenen unzufrieden über den langen Aufenthalt äußerte, den ließ er wie einen Wachhund nicht mehr aus den Augen, besonders nachdem eines Nachts einige Burschen, die unter der Aufsicht eines anderen standen, die Flucht ergriffen hatten. Vorsorglich riet er dem örtlichen Kommissar Schmidt, gewisse Vorkehrungen zu treffen, da auch in seiner Gruppe einige unsichere Kandidaten seien.

Georg schöpfte nicht den geringsten Verdacht, als Kratzke ihn und seine Freunde sowie fünf weitere junge Männer aufforderte, ihn zu Schmidt zu begleiten. Sie folgten ihm sogar gern, da sie hofften, der Kommissar habe von ihrer Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Verhältnissen gehört und nun einen Weg gefunden, sie früher abreisen zu lassen. Nachdem sie bereits über eine halbe Stunde gewartet hatten, ohne empfangen zu werden, erschien zu ihrer Überraschung eine Abteilung Lübecker Stadtsoldaten, gefolgt vom Kommissar, der den Wartenden kurz und bündig erklärte:

„Wie ich erfahren habe, meine Herren, waren Sie drauf und dran, sich davonzustehlen. Das wundert mich umso mehr, weil Sie sich doch alle freiwillig bei mir gemeldet haben, ohne zur Fahrt nach Russland überredet worden zu sein. Jetzt, weiß der Teufel warum, scheinen Sie Ihren Entschluss zu bereuen. Doch so einfach geht es nicht. Sie haben bereits hohe Vorschüsse erhalten, Geld, das ich durch Ihre Flucht verlieren würde. Kurz und gut, ich hafte für jeden von Ihnen. Ab sofort werden Sie deshalb bis zur Abreise in einem Wachhaus untergebracht. Wie bisher bekommt jeder seine Tagegelder ausgezahlt, und von der Wache können Sie sich holen lassen, was Sie wollen.“

„Sie sperren uns also ein?“, brauste Georg auf.

„Das Wort habe ich nie gebraucht.“

„Aber Sie haben es so gemeint, und dagegen wehren wir uns. Niemand von uns hat auch nur daran gedacht zu fliehen.“

„Umso besser“, erklärte Schmidt, „doch die Sache ist nun mal beschlossen. Ich bin sicher, dass Sie sich im Wachhaus über nichts zu beschweren haben.“

Jedes weitere Widerwort war sinnlos. Die Wache nahm die jungen Männer in die Mitte und zog mit ihnen ab. Hätten sie sich geweigert, so wären sie durch Kolbenstöße gezwungen worden.

Wenngleich in seinem Ehrgefühl gekränkt, gefiel es Georg in der Haft dennoch besser als in der bisherigen Unterkunft. In der Wachstube war es nicht nur sauberer, es fehlte dort auch all das liederliche Volk, mit dem er wochenlang hatte zusammenleben müssen. Den Flöhen und Läusen, die sie sich in der Zeit eingehandelt hatten, konnten sie jetzt endlich erfolgreich zu Leibe rücken. Nicht nur an dieser Jagd beteiligten sich die gutmütigen Soldaten, sie waren auch sonst bemüht, den Häftlingen den unfreiwilligen Aufenthalt erträglicher zu machen, spielten und würfelten mit ihnen und sorgten nach besten Kräften für deren leibliches Wohl, wofür diese sie mitessen und mittrinken ließen. Unter diesen Umständen fand sich Georg einigermaßen mit seinem Schicksal ab.

Acht Tage befanden sie sich schon in Haft, als ihnen eines Morgens Kratzke die frohe Nachricht brachte, sich für die bevorstehende Abreise bereit zu halten. Bald darauf wurden Georg und seine Mithäftlinge zur Anlegestelle geführt, wo die Wachsoldaten sie so lange im Auge behielten, bis auch der letzte Mann an Bord gestiegen war. Da jetzt keine Fluchtgefahr mehr bestand, händigte man ihnen ihre Reisebündel wieder aus, die sie bei ihrer Einquartierung in Lübeck dem Wirt hatten abliefern müssen. Nach Wochen konnten sie nun endlich wieder nach Belieben über ihre Habe verfügen. Auch erhielten sie ihre Tagegelder auf vier Wochen voraus sowie für den gleichen Zeitraum Brot, Zwieback, Würste und Pökelfleisch als Reiseproviant. Sobald jeder seine Zuteilung empfangen hatte, mussten sie alle das Deck räumen und in den Laderaum hinabsteigen, wo sich bereits an die zweihundert Menschen zusammendrängten, viel zu viel für einen Zweimaster.

„Wo sollen wir da noch unterkommen?“, meinte Mohl. Auf den ersten Blick schien kein Winkel mehr frei zu sein.

„Auf alle Fälle bleiben wir zusammen“, sagte Georg. Während er über Gepäckstücke hinwegstakste, vorbei an sitzenden und liegenden Menschen, traf er unter den überwiegend fremden Gesichtern auch viele alte Reisegefährten aus dem Lübecker Sammellager wieder, darunter solche, in deren Nähe er sich gern niedergelassen hätte. Aber für drei Personen gab es dort nirgendwo Platz.

 

Gerade als er stehen blieb und suchend um sich blickte, berührte ihn ein junger Mann am Arm. „Die Ecke hier ist gerade frei geworden. Platz genug für zwei bis drei Mann.“

„Danke, das nennt man Glück!“

Während sich die drei in einer Ecke des Laderaums, nahe einer Luke, mit ihrem wenigen Gepäck einrichteten, kamen sie ins Gespräch mit ihrem neuen Bekannten, der sich scherzhaft als „Christoph Möhring, verkrachter Studiosus“ vorstellte. Auch die übrigen Mithäftlinge aus dem Wachhaus waren in der Nähe untergekommen, alles anständige Kerle, die laut ihren Missmut über die verlotterten Verhältnisse im Auswandererlager geäußert hatten und deswegen unter Fluchtverdacht geraten waren.

Da sie als letzte an Bord gekommen waren, hatte der Kapitän inzwischen alle Vorkehrungen zum Auslaufen getroffen. Durch die Ladeluke beobachtete Georg, wie die Besatzung die Segel setzte und die Anker lichtete. Langsam legte das Schiff ab und schwankte, als der Wind die Segel blähte. Unruhe und Verwirrung machten sich unter den Auswanderern breit, von denen die meisten noch nie zur See gefahren waren. Je stärker das Schiff schlingerte, desto schwerer fiel es ihnen, sich auf den Beinen zu halten.

Noch am gleichen Tag wurden die ersten Auswanderer seekrank. Viele schlauchte die Übelkeit so sehr, dass sie nicht mehr die Kraft aufbrachten, noch rechtzeitig ins Freie zu stürzen und sich über die Reling zu übergeben. Selbst hartgesottenen Kerlen drehten der Gestank und Anblick des Erbrochenen den Magen um, und mancher fühlte sich bald so elend, dass er das Ende herbeisehnte.

Um dem gleichen Schicksal zu entfliehen, stieg Georg an Deck und sog in vollen Zügen die frische Seeluft ein. Ringsum dehnte sich das Meer, so weit er blicken konnte, nur steuerbords zog sich die Küste wie ein Nebelstreif dahin. Als einige wenige ihm folgten und durch ihr Herumstehen die Matrosen bei der Arbeit behinderten, wurden sie in den stickigen Laderaum zurückgeschickt. Doch sobald es dunkel war, schlich sich Georg wieder nach oben und kroch bei der Ankerwinde unter das kleine Verdeck, wo die Ankertaue lagen. Hier war er keinem im Weg und konnte frei atmen, was ihn, wie er hoffte, vor der Seekrankheit verschonen werde.

Trotzdem erwischte es auch ihn, als Bornholm gerade hinter ihnen lag. Zusammen mit seinen Freunden hatte er ein Stück Pökelfleisch abgekocht und aus der Fettbrühe mit Schiffszwieback eine Suppe gebraut. Heißhungrig machten sie sich darüber her, da sie seit langem nichts Warmes mehr gegessen hatten. Obwohl dieser Mischmasch schon an Land den Magen hätte rebellieren lassen, stieß ihm erst recht auf hoher See das Zeug so übel auf, dass Georg sich bald nach der Mahlzeit heftig erbrechen musste. Dies war der Anfang der Seekrankheit, die ihn so ungestüm schüttelte, dass er sich schon nach kurzer Zeit sterbenselend fühlte. Kaum konnte er sich aufrecht halten, und was auch immer er zu sich nahm, gab er bald wieder von sich. Als sich endlich nach vier Tagen sein Zustand besserte und er sogar deftige Kost vertrug, kam er rasch wieder zu Kräften.

Alle Auswanderer, die wie Georg erstmals eine Schiffsreise machten, wurden von der Seekrankheit heimgesucht, erholten sich aber wieder rasch. Eines Nachts jedoch starb ein Kind, das schon seit Tagen kränklich gewesen war. Die Eltern verheimlichten seinen Tod bis zur Landung in Russland, da sie sich nicht überwinden konnten, den kleinen Leichnam über Bord ins Meer gleiten zu lassen, sondern es gottgefälliger fanden, ihn in geweihter Erde zu bestatten.