An der Wolga will ich bleiben

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2

Zwei Wochen waren sie bereits unterwegs, ohne die Gewissheit zu haben, mit ihrer baldigen Ankunft in Petersburg rechnen zu können.

„Gewöhnlich legt man die Strecke in zehn bis zwölf Tagen zurück“, meinte Möhring im Gespräch mit Georg. „Ich habe mich in Lübeck erkundigt.“

Sie standen an der Reling und schauten auf die vorbeiströmenden Schaumkronen des Kielwassers hinab.

Georg wandte sich ihm zu. „Du weißt eine ganze Menge, Christoph. Man braucht dich nur was zu fragen.“

„Nun übertreib mal nicht. Ich habe mich eine Zeitlang auf der Universität rumgetrieben.“

„Und warum hast du nicht zu Ende studiert?“

„Ich fand auf einmal alles so sinnlos, verstehst du, keine Zukunft nach dem Krieg“, sagte Möhring nachdenklich. „Etwas Abenteuerlust war natürlich auch dabei, als ich mich nach Russland gemeldet habe.“

Georg nickte, auch er wollte die Welt sehen, man ist nur einmal jung. Gedankenverloren blickte er übers Meer, wo eine Anzahl Fahrgäste, Gruppe für Gruppe, mit Billigung des Kapitäns, eine Weile lang frische Luft schöpften und sich Bewegung verschafften. Auch Boppe war darunter, an seiner Seite ein hübsches Mädchen aus dem Taunus, das er an Bord kennengelernt hatte. Die beiden verstanden sich gut, und wie Boppe seine Freunde wissen ließ, schien auch der Vater der Auserwählten gegen ihn als möglichen Schwiegersohn keinen Einwand zu haben.

Während Georg das Pärchen noch lächelnd beobachtete, fiel sein Blick plötzlich auf das Mädchen, das er zum ersten Mal gesehen hatte, als der Auswanderertreck aus Hessen in Lübeck eingetroffen war. Sie spazierte mit ihren Eltern und Geschwistern auf dem Deck, plaudernd und lachend.

Möhring war die gespannte Aufmerksamkeit nicht entgangen, mit der sein Freund das Mädchen betrachtete. „Ein munteres Ding, wie?“, bemerkte er vergnügt. „Die könnte mir auch gefallen. Aber leider noch zu jung.“

„Kennst du sie näher?“

„Mehr ihren Vater, schon seit Büdingen. Ein Köhler ohne Arbeit, und das mit fünf Kindern.“

„Ich denke sechs?“

„Ach, du meinst den jungen Kerl, der sich bei der Familie aufhält?“

„Ja, ist das nicht ihr Bruder?“

„Nein, ein davongelaufener Rekrut. Peter Luck heißt er, so alt wie wir.“

„Haben die beiden was miteinander?“

„Wo denkst du hin, Hildegard ist, wie gesagt, noch zu jung, erst sechzehn.“

„Hildegard?“

„Ja, Hildegard Orner. Hast du den Namen noch nie gehört?“

„Was hat dieser Luck denn mit denen zu tun?“

„Sie haben ihn vor den Landhusaren gerettet, und jetzt hilft er ihnen“, erklärte Möhring und erzählte kurz den Zwischenfall vor der hessischen Grenze. „Du hast ganz schön Feuer gefangen“, schloss er schmunzelnd. „Schon früher ist mir aufgefallen, dass du sie mit den Augen verschlungen hast.“

„Quatsch! Sie erinnert mich nur an mein Mädchen in Gera.“ Es war ihm unangenehm, dass der andere seine Gefühle erraten hatte, und um abzulenken, beugte er sich wieder über die Reling und wechselte das Thema. „Ich glaube, unser Kapitän ist nicht ganz sauber.“

„Dem trauen viele nicht über den Weg“, stimmte ihm Möhring zu. „Ich verstehe zwar nichts von der Seefahrt, aber das sieht doch ein Blinder, dass er absichtlich die Reise in die Länge zieht. Angeblich sei der widrige Wind schuld, wie man uns weismachen möchte. In Wirklichkeit will er nur seine Geschäfte mit uns machen. Was der für einen Vorrat an Lebensmitteln mitgenommen hat - wie für eine Weltreise! Ich sage dir, wir werden nicht eher Land sehen, bis dieser Gauner seine ganzen Bestände an Wein, Bier, Schnaps, Kaffee, Kuchen, Heringe und so weiter an uns verhökert hat, und das zu Wucherpreisen! Die meisten sind bei ihm schon all ihre Tagegelder losgeworden.“

„Ein gerissener Kerl! Einige wollen gesehen haben, dass er nachts die Segel streichen lässt.“

„Wir sollen sogar manchmal ein Stück zurückgefahren sein.“

„Kein Wunder, dass Russland immer noch in weiter Ferne liegt.“

Erst nach der dritten Woche schien es Georg, als kämen sie schneller voran. Am Wind lag es nicht, vielmehr hatte sich das Warenlager des Geschäftemachers schon fast geleert. Es gab also keinen Grund mehr, das dumme Volk an der Nase herumzuführen. Groß war daher die Freude, als der Kapitän alle Segel hissen ließ. Eine so schnelle Fahrt wie auf dieser letzten Strecke hatten sie bisher noch nicht erlebt, obgleich durch die Schären in den russischen Gewässern mehr Gefahren drohten als auf hoher See.

3

„Land in Sicht! Wacht auf, Leute, Land, Land! Wir sind bald am Ziel!“ Es war gegen Ende der vierten Woche, als in aller Herrgottsfrühe der Freudenruf des Bootsmannes durch die Luke ins Unterdeck schallte und die ersten Schläfer weckte. Die Nachricht, die alle herbeigesehnt hatten, machte rasch die Runde, und im Nu war alles auf den Beinen und drängte ins Freie. Ihre Augen glänzten, jetzt da sie nach der beschwerlichen Seereise dem erträumten Paradies so nahe waren.

Längs der russischen Küste segelten sie auf die Bucht von Sankt Petersburg zu, wo sie im Hafen von Kronstadt, einer vorgelagerten Inselfestung, vor Anker gehen wollten. Rau klangen die Befehle des Kapitäns zu den Matrosen in der Takelung hinauf, wo sie wie Eichhörnchen an Rahen und Wanten kletterten. Mit sicherer Hand manövrierte der Steuermann den Zweimaster an anderen Seglern vorbei zur Landestelle.

Schon vor ihrer Ankunft hatten die Auswanderer hinter einem Schutzwall die Mastbäume zahlreicher Schiffe bemerkt, die von fern wie die dürren Stämme eines Tannenwaldes aussahen. Segelfrachter vieler Nationen lagen dort dicht an dicht mit großen Ostindienfahrern und den mit Kanonen bestückten russischen Kriegsschiffen.

Das Wachschiff im Hafen, ein Kriegsschiff mittlerer Größe, wurde vom Zweimaster aus Lübeck mit der Flagge begrüßt. Dann setzte der Kapitän ein Boot aus und ließ sich mit dem Steuermann von zwei Matrosen hinüberrudern, um dort seinen Pass und die Schiffspapiere vorzuzeigen. Georg beobachtete, wie er an Bord des russischen Wachschiffs stieg, von dem kurz danach ein Beiboot mit einem bewaffneten Marinesoldaten abstieß. Mohl und einige andere, die mit ihm in Lübeck und Travemünde inhaftiert worden waren, standen neben ihm, als das Beiboot Kurs auf ihr Schiff nahm.

„Das schmeckt mir gar nicht“, meinte Mohl besorgt. „Hoffentlich kommt uns der Kerl nicht holen, um uns erneut einzusperren.“

Ähnliche Befürchtungen hegten auch die anderen, als der Soldat an Bord kletterte, und verkrochen sich, als könnten sie so dem Unheil entrinnen. Diesmal jedoch drohte ihnen keine Festnahme. Denn sobald der Marinesoldat feste Planken unter den Füßen spürte, warf er sein Gewehr auf die Schulter, bekreuzigte sich dreimal und rief: „Gospodi, pomiluj! - Herrgott, erbarme dich meiner!“ - ein frommer Seufzer, den die Russen bei jeder Gelegenheit im Munde führten.

Aufatmend wandte sich Georg an den Bootsmann. „Was hat eigentlich der Soldat an Bord zu suchen?“

„Aufpassen, dass wir keine Schmuggelware an Land schaffen.“

„Haben wir denn welche an Bord?“

„Das vermuten die Russen bei jedem Schiff, das hier einläuft. Deshalb schicken sie immer eine Wache.“

Ein kleiner Kahn näherte sich und legte backbord an. Nur eine einzelne Frau saß darin, ein Marktweib, dick und durch schwere Röcke aufgeplustert wie eine Henne auf dem Nest. „Kalatschi“, rief sie, „Kalatschi!“ und ließ einen Schwall russischer Wörter folgen, die niemand verstand. Umso verständlicher war ihre Geste, mit der sie einen Korb voll Weizengebäck in die Höhe hob und zum Verkauf anbot, gleich darauf aber wieder hastig zurückzog, als einige gierig danach griffen, da ihnen allen seit langem der Schiffszwieback bis oben stand. Besorgt um ihre Bezahlung, machte sie den Fremden durch Worte und Gebärden klar, sie wolle von ihnen erst Geld im Voraus haben. Mit der lübeckischen Währung, die ihr viele Hände entgegenstreckten, kannte sie sich gut aus, und ein breites Grinsen auf ihrem Pfannkuchengesicht drückte ihre Zufriedenheit aus, als ihre Kalatschi, eine Art Semmel mit kreisförmigem Griff, reißenden Absatz fanden.

Scheelsüchtig schaute der russische Marinesoldat zu, wie sich die deutschen Auswanderer die frischen Kalatschi schmecken ließen. Das Wasser lief ihm dabei so sehr im Mund zusammen, dass er schließlich mit dem Wunsch herausrückte, als Gast eingeladen zu werden. „Warum nicht“, sagte einer, „du bist auch nur ein armer Schlucker“, und drückte ihm einen Kalatsch in die Hand. Als habe er seit Tagen nichts mehr zwischen die Zähne bekommen, biss der Soldat hinein, nicht ohne vorher seinen frommen Seufzer „Gospodi, pomiluj! - Herrgott, erbarme dich meiner!“ zum Himmel gesandt zu haben.

Die Marktfrau hatte gerade ihre letzten Kalatschi verkauft, als der Kapitän vom Wachschiff zurückgerudert kam, an Bord stieg und dem russischen Marinesoldaten eine Flasche Branntwein schenkte, die dieser mit ein paar Schlucken bis zur Hälfte leerte, worauf er sich mit Lobeshymnen auf diese köstliche Medizin überschlug. Dem Kapitän aber war der Russe noch nicht voll genug, weshalb er die beiseite gesetzte Flasche ergriff, dem anderen mit einem freundlichen „Prost, Bruder!“ zutrank und ihm zuredete, sich den Rest die Kehle hinunterzugießen.

Merkwürdig, dachte Georg, dass unser Kapitän sich dazu herablässt, mir nichts, dir nichts mit einem gemeinen russischen Soldaten einen durch die Gurgel zu jagen. Doch schon bald merkte er, was eigentlich dahintersteckte. Denn kaum hatte der Soldat allzu reichlich über den Durst getrunken, als er auch schon anfing zu singen, wobei ihm rasch die Zunge immer schwerer wurde, bis er wankend und schwankend nur noch lallte und mit einem Plumps in Abrahams Schoß landete. Wie ein Dachs schlafend, hatte er weder Augen noch Ohren, um zu bemerken, wie der Kapitän einige Kisten mit Schmuggelwaren von Bord schaffen ließ.

 

Am nächsten Tag wurde einem russischen Offizier eine Liste der Auswanderer übergeben, die sich an Deck des Zweimasters versammelt hatten und laut „Hier!“ antworteten, wenn ihr Name aufgerufen wurde. Zu ihrer großen Freude traf die Besatzung alle Vorbereitungen zur Ausschiffung, als sich mehrere Fahrzeuge näherten und anlegten. In diesen Booten wurden die Kolonisten mit ihrem Gepäck an Land und dann von russischen Bauern mit einspännigen Wagen nach Oranienbaum gegenüber der Festungsinsel Kotlin mit dem Hafen Kronstadt gebracht. Wochenlang an das Schwanken des Schiffes gewöhnt, hatten sie nun Mühe, sich auf festem Boden aufrecht zu halten, was eine allgemeine Heiterkeit auslöste, da manche dabei torkelten wie Betrunkene.

Bereits die ersten Eindrücke an Land ließen die Stimmung der Einwanderer stark sinken. Statt des erträumten Paradieses fanden sie dort fast alles so vor wie in ihrer Heimat, um einiges sogar schlechter und primitiver. „Wenn es an der Wolga nicht anders aussieht, dann gute Nacht!“, sagte Georg zu seinen Freunden.

Ein Teil der Ankömmlinge wurde in Kasernen einquartiert, die anderen mussten sich aus Ästen und Reisig Hütten bauen. Da sie sich frei bewegen durften, nutzte Georg die Gelegenheit, sich in Oranienbaum umzusehen. Die zwei Schiffsmodelle, die Peter der Große eigenhändig gebaut hatte und in einem schlossnahen Teich lagen, fanden dabei seine ganz besondere Aufmerksamkeit. Beide, ein Linienschiff und eine Galeere, waren naturgetreue Nachbildungen, an denen auch nicht die geringste Kleinigkeit fehlte.

4

„Wie ich der Einwanderungsliste entnehme, waren Sie Köhler von Beruf?“

„Ich bin auch immer noch Köhler.“

„Aber ohne Arbeit.“

„Die hoffe ich hier zu finden.“

Iwan Kuhlberg schüttelte den Kopf. „Arbeit schon, doch nicht als Köhler. Was wir in Russland brauchen, sind Bauern.“

„Der Werbungsoffizier in Büdingen hat uns versichert, wir könnten hier in unserem alten Beruf arbeiten“, beharrte Johann Orner. „Von Landwirtschaft verstehe ich nichts.“

Es war immer die gleiche Antwort, die Iwan Kuhlberg in jenen Tagen von den deutschen Einwanderern in Oranienbaum zu hören bekam. Als russischer Kommissar war er von der Regierung beauftragt, den bindenden Entschluss der Ausländer entgegenzunehmen, wo sie sich niederlassen und welchen Beruf sie ausüben wollten. Doch entgegen früheren Zusagen, mit denen die Werber sie in der Heimat geködert hatten, legte die Tutelkanzlei, die oberste Verwaltungsbehörde der Kolonisten, jetzt den größten Wert darauf, sie als Bauern in abgelegenen, menschenleeren Grenzgebieten anzusiedeln. Iwan Kuhlberg hatte daher die Anweisung erhalten, die angeworbenen Auswanderer zu ihrem Einverständnis zu „bewegen“, jedoch ohne Zwang, dem Wunsch der Tutelkanzlei zu folgen. Der Kommissar setzte seine ganze Überredungskunst ein, dem Auftrag gerecht zu werden, eine schwierige Aufgabe nicht nur bei den zahlreichen Handwerkern wie Johann Orner, sondern auch bei den Edelleuten, Ärzten, Lehrern, Studenten und vor allem auch bei den Offizieren, die mit der Absicht nach Russland gegangen waren, in den Militärdienst einzutreten. Nach dem Manifest der Zarin sollten sie außer der gewöhnlichen Besoldung noch ein Handgeld von dreißig Rubeln erhalten. Doch ihre Hoffnungen lösten sich im Durchgangslager Oranienbaum in nichts auf.

„Niemand wird als Landwirt geboren“, redete Kuhlberg auf Orner weiter ein, „genauso wenig wie als Kohlenbrenner. Man muss einen Beruf erlernen, und warum sollten Sie nicht lernen können, wie man Ackerbau und Viehzucht betreibt? An der Wolga erhalten Sie fruchtbaren Ackerboden, mehr als nötig um Ihre ganze Familie ernähren zu können, noch dazu umsonst. Unserer Zarin, Gott beschütze sie, liegt das Glück ihrer deutschen Landsleute sehr am Herzen. Uns Russen gegenüber ist sie nicht so großzügig.“

Wie oft schon hatte Iwan Kuhlberg mit solchen Sprüchen allen Einwänden der Kolonisten den Wind aus den Segeln genommen mit dem Ziel, alle Ausländer, die durch sein Lager gingen, ohne jede Ausnahme zum Betrieb der Landwirtschaft zu „bewegen“ oder ihnen doch wenigstens einzureden, ihren Beruf zusammen mit dem Ackerbau auszuüben. Mochten sich einige auch mit Händen und Füßen dagegen wehren - so ein Glockengießer, ein Kupferarbeiter, ein Schornsteinfeger und ein Kaufmann, die Kuhlbergs Geschwätz als Hohn empfanden -, all ihr Sträuben half ihnen nichts. Ihr Recht, sich dort anzusiedeln und ihr vertrautes Handwerk zu betreiben, wo es ihnen gefiel, fand beim Kommissar kein Gehör. Er setzte ihre Namen einfach auf eine Liste der Kolonisten, die sich bereit erklärt hatten, sich als Landwirte im Wolgagebiet niederzulassen.

Auch Johann Orner gab sich schließlich geschlagen, nachdem ihm Peter Luck, der zu der Unterredung gestoßen war, versichert hatte: „Sagen Sie ja, ich helfe Ihnen, wenn Sie mich bei sich aufnehmen wollen. Was Sie von Ackerbau und Viehzucht wissen müssen, bringe ich Ihnen gern bei. Und tüchtig anpacken kann ich auch.“

Boppe und Georg Schrenk widersetzten sich kaum, ebenso Möhring, der „Studiosus“. Sie waren jung und bereit, überallhin zu reisen und die Ärmel bei jeder Arbeit hochzukrempeln.

Möhring, der sich außerhalb des Durchgangslagers umgehört hatte, machte sich über das Bemühen des Kommissars seine eigenen Gedanken. „Strategische Ursachen müssen dabei im Spiel sein“, mutmaßte er Georg gegenüber. „Warum hätte die Regierung sonst ihren ursprünglichen Plan aufgeben sollen, ausländische Handwerker als Lehrmeister der Russen ins Land zu holen? Das jedenfalls hatte die Zarin erst beabsichtigt, und deshalb haben die Werbungskommissare auch die Handwerker bevorzugt.“

„Jetzt aber wollen sie uns alle in die Landwirtschaft pressen“, meinte Georg nachdenklich. „Warum nur?“

„Wie gesagt, aus strategischen Gründen, das schließe ich jedenfalls aus dem, was ich hier und da aufgeschnappt habe. Man will uns in den unbewohnten Gegenden der unteren Wolga ansiedeln, damit wir diese Gebiete erschließen und als sesshafte Bevölkerung eine lebendige Grenze gegen die frei nomadisierenden Kirgisen, Kalmücken und Baschkiren bilden. Auch von Räuberbanden ist die Rede, denen man auf diese Weise wirksamer das Handwerk legen könne als durch Militärposten.“

„Dazu hätte die Regierung doch genauso gut russische Bauern dorthin schicken können.“

„Aber nur zwangsweise, denn freiwillig geht da niemand hin, außer Verbrechern, Sektierern und Ausgestoßenen, also Leuten, die sich in ihrer Heimat nicht sicher fühlen.“

„Schöne Aussichten!“, seufzte Georg.

Sah die Zukunft auch wenig rosig aus, so sorgten dennoch immer neue Eindrücke und Erlebnisse dafür, dass Georg abgelenkt wurde. Neugierig darauf, Land und Leute kennenzulernen, trieb er sich meistens in der Stadt herum. Mit den Tagegeldern aus der Staatskasse, die sie alle immer für eine gewisse Zeit im Voraus erhielten, ließen sich zwar keine großen Sprünge machen, doch konnte man bei den niedrigen Preisen für Lebensmittel und Wodka gut davon leben.

5

Einige Tage später bot sich ihm die Gelegenheit, die Zarin zu sehen. Von Sankt Petersburg war sie nach Oranienbaum gekommen, um im Garten ihres Lustschlosses die Bekanntschaft mit ihren Landsleuten zu machen, mit deren Hilfe sie weite Landstriche ihres Riesenreiches kultivieren wollte. Von ihrem Gefolge begleitet, in dem selbst der unterste Lakai so prunkvoll gekleidet war, wie Georg es sich immer bei Prinzen und Prinzessinnen vorgestellt hatte, schritt die Große Katharina an den Einwanderern vorbei, die sich in Reihen aufgestellt hatten, angeführt von ihrem jeweiligen Vorsteher.

„Sie ist noch schöner und majestätischer, als ich angenommen habe“, sagte Georg seinem Nebenmann Möhring.

„Dabei ist sie schon Ende Dreißig.“

Die Zarin war nun an Georgs Reihe angelangt und blieb vor Kratzke stehen. „Aus welcher Gegend kommen Sie?“, fragte sie ihn freundlich.

Kratzke schoss das Blut ins Gesicht. Noch nie hatte er einer leibhaftigen Majestät in die Augen geschaut, noch dazu einer so verführerischen Frau, und obwohl er sonst reden konnte wie ein Wasserfall, schienen seine Kinnladen diesmal zu klemmen. „Aus - aus Hamburg, durchlauchtigste Majestät“, stieß er schließlich aus sich heraus.

„So, so, von der Nordseeküste also. Und Ihr Beruf?“

„Beruf? Eh - Gürtler, Majestät, jawohl, ich mache Gürtel.“

„Haben Sie Familie?“

„Familie?“ Kratzke legte seine Stirn in Falten, als müsse er erst tief nachdenken. Da dies der Zarin aber zu lange dauerte, wartete sie seine Erklärung erst gar nicht ab, sondern fragte so beiläufig noch dies und das, worauf Kratzke nur stockend Rede und Antwort stand. Als sie sich, den Blick schon abgewandt, wieder entfernte, hob sie huldvoll ihre Hand leicht nach oben, um so ihrem lieben Landsmann die Gnade zu erweisen, sie küssen zu dürfen. Doch der biedere Gürtelmacher verstand nicht, was die Kaiserin ihm herablassend gewährte.

Blödian! schoss es Georg durch den Kopf. Verärgert über das tölpelhafte Benehmen beschloss er, das auszubügeln, was der Trottel angerichtet hatte. Als die Kaiserin auf ihn zukam, spitzte er tatendurstig die Lippen, um die Ehre seiner Landsleute zu retten. Doch statt vor ihm stehen zu bleiben, schritt die Zarin an ihm vorüber und hatte für seine knietiefe Verbeugung nur ein wohlwollendes Lächeln übrig, nicht aber ein einziges Wort und leider auch nicht den gütig zum Handkuss ausgestreckten Arm - vielleicht nur deshalb nicht, so tröstete er sich, weil sie sich gerade anschickte, mit dem Haushofmeister zu plaudern.

Die Menschlichkeit der Kaiserin, ihr geradezu vertraulicher Umgang mit so tief unter ihrem Thron stehenden Untertanen hatten alle Einwanderer für Ihre Majestät so sehr eingenommen, dass sie sich trotz aller gegenwärtigen Widrigkeiten glücklich schätzten, unter ihrem Zepter leben zu dürfen. Im Übereifer, der Großen Katharina seine grenzenlose Bewunderung akustisch auszudrücken, kam ein alter Trompeter auf einen Einfall besonderer Art. Er nahm seine Trompete, drückte jedem seiner beiden heranwachsenden Söhne ein Waldhorn in die Hand und eilte mit ihnen vom Quartier zum Schloss, wo er vor dem Portal ein trommelfellzerreißendes Geblase losließ, dass die Wachhunde vor Schmerz aufheulten, denn die Knaben pusteten allzu erbärmlich in ihre Instrumente hinein. Statt das Trio, das die Ohren selbst eines Gehörlosen beleidigt hätten, zum Teufel zu jagen, schickte die Zarin ihren Anhimmlern in ihrer unendlichen Güte durch ihren Pagen einen Imperial, eine russische Goldmünze, und ließ ihnen für die gut gemeinte Absicht, ihr Vergnügen bereiten zu wollen, ihren majestätischen Dank übermitteln.