An der Wolga will ich bleiben

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5

Es war ein Winter, wie ihn noch keiner in Deutschland erlitten hatte. Wenn der Sturm in der Steppe Schneedünen auftürmte, wagte sich auch kein Russe aus Grjasnucha zu den lebendig in ihren Erdhütten begrabenen Deutschen. Hunger war ihr täglicher Gast, solange der Nachschub ausblieb; nur an Holz zum Heizen mangelte es nicht, denn am Bachufer wuchsen genug Bäume und Sträucher. Aber bei dem klirrenden Frost wagten sie kaum, die Rauchöffnung aufzumachen, lieber husteten sie im stickigen Qualm und scharten sich mit tränenden Augen um die Feuerstelle. Die düsteren Wintertage und die ewig lang dauernden Nächte wollten kein Ende nehmen.

So schroff wie der Sommer vom Winter vertrieben worden war, fast ohne Übergang, so jäh fiel auch, gleichsam über Nacht, der Frühling übers Land, ohne sich vorher zaghaft anzukündigen. Gestern noch knirschte der Schnee unter den Füßen, und heute schon plätscherte das Tauwasser in Hunderten von Rinnsalen dem Bach entgegen, der in wenigen Stunden zu einem reißenden Fluss anschwoll und das Hüttenlager überschwemmte. Verschont blieb nur ein Teil der höher gelegenen Erdbehausungen, die von den russischen Bauern gebaut worden waren. Die meisten anderen dagegen hatten ihre Erdhütten in der Niederung unmittelbar am Bach gegraben und mussten froh sein, das nackte Leben retten zu können, als um Mitternacht die Wassermassen durch Eingang und Fensterhöhlen hereinfluteten. Da sie nicht alle in den trocken gebliebenen Behausungen Unterschlupf fanden, mussten die Männer auf den nächstgelegenen Hügeln ausharren, bis nach Tagen der Wasserspiegel so weit gesunken war, dass sie in ihre eigenen Erdhöhlen zurückkehren konnten.

Der Frühling, den sie so schmerzlich herbeigesehnt hatten, war endlich gekommen, doch das Leben in ihnen dämmerte dahin. Wie Halbtote sahen sie einander an, sie fühlten sich wie ein Teil des Moders in ihren Erdlöchern. Erst nach und nach regte sich mit den wärmenden Sonnenstrahlen der Lebenswille wieder. Einige aber waren so geschwächt, dass sie nicht mehr richtig auf die Beine kamen. Fieber warf sie nieder, Durchfälle schwächten sie, und bald darauf raffte sie der Tod hinweg. Niemand wusste, dass es Typhus war, sie nannten es nur das hitzige Fieber, dem vierzehn Personen von den hundertsiebenundfünfzig Siedlern in wenigen Wochen zum Opfer fielen.

Der Sommer war bereits ins Land gezogen, als die Zimmerleute in der Kolonie eintrafen und mit dem Bau der Häuser begannen. Sie verwendeten dazu Fichtenstämme, die sie im nahen Wald schlugen und zu Blockhütten zusammenfügten. Die langen, hohen Giebeldächer wurden teils mit Stroh, teils mit Schindeln aus Tannenspänen gedeckt.

Der Leutnant, ein gelernter Ingenieur, hatte zuvor einen Plan ausgearbeitet und das Land auf der linken Seite des Baches in gleich große Flächen vermessen, die jeweils jedem Haus zugeteilt wurden. Das Gebiet auf dem rechten Ufer erklärte er zum Weideland, das wie auch der nahe Wald der gesamten Gemeinde gehören sollte. Diese Lage der Siedlung gab bald auch der Kolonie den Namen: Bachhausen.

Unentgeltlich erhielt jede Familie zwei Rinder. Andere Haus- und Hoftiere, so auch Pferde, musste sich jeder Ansiedler selbst beschaffen. Saatgut bekamen sie von der Regierung nicht kostenlos, sondern nur vorschussweise. Doch zur Aussaat von Getreide und Kartoffeln in diesem Jahr war es bereits zu spät. Erneut stand ihnen ein harter Winter bevor. Um sich wenigstens einen bescheidenen Vorrat an Lebensmitteln anzulegen, begannen sie daher im Herbst, als das wilde Obst reifte, Äpfel, Birnen, Schlehen und verschiedene Beeren sowie Pilze zu sammeln und zu trocknen.

„Was wird hier Zeit und Geld verschwendet“, sagte Peter Luck während eines der häufigen Gespräche, in denen die Kolonisten ihre Lage erörterten. „Für die Regierung wäre es billiger gekommen, wenn sie zunächst Häuser gebaut und uns erst dann ins Land geholt hätte. Statt Äcker anzulegen, haben wir den ganzen Sommer nutzlos vertan und einen großen Teil unseres Vorschusses für Erdhütten und die Wucherpreise für Lebensmittel verbraucht. Wie sollen wir ihn überhaupt in zehn Jahren zurückzahlen, wenn wir nichts erwirtschaften!“

„Statt nur Bauern anzuwerben, haben die Kommissare jeden genommen, ob er was von Ackerbau und Viehzucht versteht oder nicht“, sagte jemand, der Knecht auf einem kleinen Landgut gewesen war.

„Weil sie für jeden Auswanderer ihr Kopfgeld bekommen haben“, rief ein anderer aufgebracht dazwischen, der gleichfalls aus der Landwirtschaft kam. „Was sollen wir hier mit verkrachten Gelehrten, Künstlern, Handwerkern, Kaufleuten und Lehrern tun, die es schon in der Heimat auf keinen grünen Zweig gebracht haben, ganz zu schweigen von den Taugenichtsen und abgehalfterten Offizieren. Wie soll so einer hier in der Wildnis ein Bauer werden, wenn er noch nicht mal weiß, wie man ein Pferd anschirrt und einen Pflug führt.“

„Man kann alles lernen“, erklärte Johann Orner dem Hitzkopf ruhig, „ich bin auch kein Bauer, aber ich will einer werden.“ Er wies auf Luck. „Peter hilft mir dabei. Und so wie ich denken genug andere Leute hier. Wir wollen anpacken, weil wir anpacken müssen, sonst gehen wir zugrunde.“

Immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen, wenn sie untereinander über die bedrückenden Aussichten sprachen, und oft schossen dabei einige übers Ziel, sobald jemand die Mitsiedler erwähnte, die keine Bauern waren und ihren gelernten Beruf nicht mehr ausüben konnten. Selbst Schuster und Schneider, also Handwerker, die sonst überall gebraucht werden, hatten kaum etwas zu tun, weil alles, was sie für ihre Landsleute hätten anfertigen können, von den Russen viel billiger geliefert wurde. Waren die aus Deutschland mitgebrachten Schuhe verschlissen, so kauften sich die Kolonisten für zwei Kopeken russische Bastschuhe, und ließ sich das letzte deutsche Kleidungsstück nicht mehr zusammenflicken, schaffte man sich einen Kaftan an, einen weiten, mantelartigen Überrock, der zwar weder Futter noch Taschen hatte und von geringwertigem Zeug war, dafür aber auch nur fünfzig bis sechzig Kopeken kostete. Legte man noch fünfzehn Kopeken für eine Leinenhose und Schärpe drauf, so reichte das, um einen Russen vollständig einzukleiden.

Wohl oder übel mussten sich also alle zur Landwirtschaft bequemen, sogar ein gewisser Freiherr von Hollstein, den es nach Bachhausen verschlagen hatte. Das Ende des Siebenjährigen Krieges hatte den ehemaligen Offizier brotlos gemacht. Zu feig, beim Militär sein Glück zu versuchen, und zu faul, den Pflug oder Spaten zu ergreifen, nahm er die Stelle eines Viehhirten an. Sosehr er auch unter dieser standesunwürdigen Erniedrigung litt, so sehr schmeichelte es seinem Gefühl für den eigenen Wert, wenn er, hinter den Ochsen und Kühen schreitend, mit „Herr Baron“ gegrüßt wurde.

Säufer, Nackte und Geschundene
1

Ohne Zwischenfälle war Georg mit Kratzkes Fuhrwerk nach Saratow gelangt, wo er sich in einer Fabrik Arbeit suchen wollte. „Ich drücke Ihnen die Daumen, dass Sie was Passendes finden“, hatte ihm der Vorsteher zum Abschied gesagt. „Auf alle Fälle erhalten Sie Ihre Tagegelder weiter von mir, wenn ich sie hier für ganz Bachhausen hole.“

Wie Georg erkundete, gab es in Saratow drei Fabriken, die von Fremden gegründet worden waren. In der einen wurden Seidenstrümpfe hergestellt, in der anderen Hüte. Beide Unternehmen gehörten Franzosen, während der dritte Betrieb, in dem Tücher und Schärpen aus Baumwolle gewebt wurden, von einem Deutschen namens Vorsprecher errichtet worden war, der zuvor eine Fabrik in Polen besessen hatte.

Dank des großzügigen Kredits, den die Regierung jedem Firmengründer eingeräumt hatte, lebten sie auf großem Fuß. Außerdem war ihnen ein Haus zur Verfügung gestellt worden. Ähnlich wie bei der Anwerbung von Siedlern hatte man ihnen Tausende von Rubeln ausgezahlt, ohne vorher zu prüfen, ob sie auch fähig seien, eine Fabrik zu führen. Besonders der Hutmacher verprasste mehr Geld, als sein Betrieb abwarf. Die vier Pferde, die er in seinem Gewerbe nur selten brauchte, hielt er sich fast ausschließlich zu seinem Privatvergnügen, und nie sah man ihn ohne Diener reiten und ausfahren, wie er es überhaupt liebte, flott zu leben und den großen Herrn zu spielen.

Nicht viel besser sah es bei dem Tuchfabrikanten aus. Zwar arbeiteten vier Leute bei ihm, zwei Deutsche und zwei Mordwinen, doch blieb es nicht lange verborgen, dass es mit Vorsprecher mehr rückwärts als vorwärts ging. Schuld daran war teils seine Unkenntnis der russischen Sprache, hauptsächlich aber die Unzufriedenheit mit seiner Frau, einer Leipzigerin, die, den Sechzig schon nahe, den Wünschen eines Mannes in den besten Jahren nicht mehr gewachsen war. Er suchte daher sein Vergnügen bei russischen Weibern, wodurch er nicht nur seine Geschäfte vernachlässigte, sondern bei ausgedehnten Gelagen so manchen Rubel hinauswarf, den er besser in seinen Betrieb gesteckt hätte.

Wie sich Georg eingestand, passte er eigentlich in keine dieser drei Fabriken so recht. Da er aber mit der Weberei im Allgemeinen vertraut war, hoffte er sich rasch die nötigen Kenntnisse zur Herstellung der Baumwolltücher aneignen zu können. Deshalb meldete er sich bei Vorsprecher, der ihn auch sofort einstellte, da der noch nicht völlig verbrauchte Kredit dem Fabrikanten erlaubte, seinen Betrieb zu erweitern. Zunächst lief alles nach Wunsch. Georg verdiente genug Geld, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können, zumal alles, was er für seinen täglichen Bedarf brauchte, spottbillig auf dem Markt zu kaufen war.

An Lebensmitteln aller Art bestand in Saratow kein Mangel, ausgenommen an Obst. Nur Sauerkirschen wurden in der Nähe angebaut. In keinem Garten blühten Blumen, und auch an Gemüse gab es nicht die von seiner Heimat her gewohnte Vielfalt. Man pflanzte Zwiebeln an, Knoblauch und Schnittlauch, ferner Erbsen, Gurken und Kohl. Besonders Kraut wurde in der Küche viel verwendet wie auch Gurken, die man gern roh aß. Noch lieber aber verzehrten die Russen Arbusen, eine angenehm schmeckende Wassermelone. Außer den üblichen Getreidearten bauten die Einheimischen große Flächen mit Buchweizen und Hirse an, woraus sie Grütze machten, die, in Buchöl geschmelzt, besonders in der Fastenzeit beliebt war.

 

Von den fetten Wiesen vor der Stadt konnte sich jedermann Gras für sein Vieh holen und ebenso kostenlos auch jede Menge Brennholz, im Sommer aus den umliegenden Wäldern, im Winter, wenn die Wolga zugefroren war, von den mit Büschen und Bäumen dicht bewachsenen großen Inseln.

Da Georg mit dem Lohn aus der Fabrik sein Leben gut bestreiten konnte, brauchte er den Rest seines Vorschusses nicht anzugreifen, ja es gelang ihm sogar, den Betrag durch die Tagegelder auf die ursprüngliche Höhe zu bringen. Die Aussicht, dereinst die erhaltene Summe von hundertfünfzig Rubeln wieder voll zurückzuerstatten, wenn er einmal Russland verlassen werde - und das wollte er unbedingt nach allem, was er bisher dort angetroffen hatte! -, erfüllte ihn mit Genugtuung und ließ ihn das Leben an der Wolga in heiterer Gemütsstimmung genießen.

Um tiefer in Land und Leute einzudringen, lernte er eifrig die russische Sprache, vor allem bei der Witwe eines baltendeutschen Kaufmanns, die sich als Zimmervermieterin durchschlug. Bald beherrschte er Russisch so fließend, dass ihn viele für einen Einheimischen hielten. Auch zog er die einfache Landeskost vor. Da es ihn nun mal zu den Russen verschlagen hatte, wollte er so wie sie leben und sich nach ihren Sitten richten. Deshalb besuchte er gelegentlich ihr öffentliches Bad, das samstags von den Leuten benutzt wurde, die in ihrem Haus keine eigene Badestube besaßen.

Nachmittags um zwei Uhr schrien einige Ausrufer in allen Stadtteilen: „Das Bad ist fertig!“, worauf alle männlichen Einwohner, die sich baden wollten, dorthin eilten. Als Georg es das erste Mal mit einem Bekannten besuchte, hatten sich im Umkleideraum rund um das eigentliche Gebäude bereits einige Dutzend Russen eingefunden, von denen manche schon nackt herumliefen, während andere sich noch auszogen. Er folgte ihrem Beispiel und holte sich dann im Hof eine hölzerne Schöpfkelle sowie eine Rute aus frischem Birkenreisig.

Neugierig ließ er sich von seinem Bekannten ins eigentliche Badehaus führen, wo ihm Dampfschwaden und eine Bullenhitze entgegenschlugen. Sein Blick fiel auf einen gewölbten Ofen mit kleinen Öffnungen, auf denen Kieselsteine lagen. Der Badewärter hatte so tüchtig eingeheizt, dass von den heißen Steinen Dampf hochzischte, wenn sie von Zeit zu Zeit mit Wasser bespritzt wurden. In der Mitte war der Raum durch einen schmalen Gang getrennt, um den die treppenartig übereinander gebauten Bänke bis unter die Decke hinaufgingen. Auf ihnen saßen und lagen die Russen, die meisten schon schweißbedeckt. Um noch stärker zu schwitzen und die Durchblutung zu fördern, tauchten sie die Birkenruten in die mit Wasser gefüllten Schöpfgefäße und schlugen sich damit gegenseitig auf den Körper.

Lange hielt Georg es in diesem Schwitzkasten nicht aus, im Gegensatz zu den Russen, die eine Stunde darin ausharrten und sich dann und wann mit kaltem Wasser übergossen. Wo so viel Schweiß floss, war auch der Durst groß. Draußen im Hof boten deshalb einige Frauen Getränke feil, besonders Bier und Kwass, und niemand von der holden Weiblichkeit, nicht mal die jungen, fanden die Mannskerle im Adamskostüm aufregend, weshalb sich die paar verklemmten Nackedeis die Mühe hätten ersparen können, ihr bisschen Gebammel da unten mit dem Birkenreisig wie mit einem Feigenblatt zu bedecken. Kaum hatten sie ihr Gebräu hinuntergestürzt, da eilten sie auch schon zur nahen Wolga, ohne sich um die Waschweiber am Ufer zu kümmern, schwammen weit hinaus und bearbeiteten sich noch einmal mit der Birkenrute, ehe sie sich anzogen und sich heimwärts oder in die nächste Kneipe trollten.

Obwohl Georg nach dem Schwitzbad zunächst müde war, fühlte er sich nach einer Stunde Schlaf wie neugeboren, ein Grund, bald auch Stammgast des öffentlichen Badehauses zu werden.

2

An einem Samstagabend im Mai, als er wieder einmal aus dem Dampfbad kam, spürte er noch keine Lust, sich gleich aufs Ohr zu legen. Wie immer führte ihn sein Weg an einer Kabache vorbei, in der es wieder einmal hoch herging. Am lautesten drang der Lärm aus den kleinen, fensterlosen Nebenräumen der Kneipe, unbequeme Löcher, in denen jeweils ein halbes Dutzend Zecher dicht aneinander gedrückt auf der Bank um den blanken Tisch saßen und dem Wodka bis zum Nichtsgehtnichtmehr zusprachen. Mit einem Holzlöffel, der in einem mit mehreren Litern gefüllten Trog vor ihrer Nase schwamm, schöpfte jeder aus dem Vollen. Das ging so rundum, bis einer nach dem anderen einschlief oder sternhagelvoll wie ein Sack von der Bank plumpste. Solange die Saufbrüder aber noch einigermaßen bei Besinnung waren, vergaßen sie nie, wenn sie den Becher zum Mund führten, ihren unvermeidlichen Stoßseufzer „Gospodi pomiluj!“ vorauszuschicken, „Herr, erbarme dich!“, das stets wiederkehrende Gebet in der russischen Kirche. Die Frömmigkeit ließ sie auch ehrerbietig die Mütze abnehmen, wenn sie benebelt nach Hause schwankten und dabei einen Popen trafen, der dann seine Hand auf das ihm demütig zugeneigte Haupt des gottesfürchtigen Säufers legte und ihn segnete. Die Gläubigkeit strömte bei solchen Begegnungen selbst dann aus ihren reinen Herzen, wenn sie ihrer Sinne kaum noch mächtig waren und nur wenige Schritte nach der Segnung durch den Popen der Länge nach hinstürzten und auf offener Straße liegen blieben, um ihren Rausch auszuschlafen.

Anfangs hatte sich Georg über die vielen Betrunkenen noch gewundert, sich dann aber, da sie so häufig herumlagen wie schlafende Hunde, daran gewöhnt wie die Russen selbst. Keiner machte sich über sie lustig, im Gegenteil, immer wieder erbarmte sich ein Samariter, den armen Sünder nach Hause zu tragen oder von der Straßenmitte weg unter das Dach eines Hauses zu legen, um ihm an dieser sicheren Ruhestätte den wohlverdienten Schlaf zu gönnen.

An der ersten Kabache widerstand Georg noch der Versuchung einzukehren; aber er war sich nicht sicher, auf seinem Heimweg auch weiter so standhaft zu bleiben, was in einer Stadt schwerfiel, die so zahlreiche Kneipen hatte wie Kirchen, nämlich je acht, so dass jedem Erdenbewohner ebenso viele Pforten der Hölle wie des Himmels offen standen. In die zweite Kabache steckte er schon den Kopf hinein, zog ihn aber wieder hinaus, weil selbst für eine Maus kein Platz mehr darin war und ihm zudem eine Duftwolke von Zwiebeln und Knoblauch entgegenschlug, die gerade hier im Übermaß roh zum Wodka verzehrt wurden.

Wie von selbst geschah es, dass er an der nächsten Ecke einen Umweg einschlug, der ihn an einer Schenke vorbeiführte, wo nebenan im Backofen leckere Pfannkuchen gebacken wurden, mit Quark oder Hackfleisch und Fischen gefüllt. Aber er kam erst gar nicht so weit, eine Entscheidung zu treffen, denn plötzlich hörte er laut seinen Namen. Er drehte sich um und erkannte Boppe, seinen Freund, mit dem er nach Lübeck gewandert war. Freudig überrascht eilten sie sich entgegen.

„Mensch, Georg, dass wir uns noch mal wiedersehen!“

„Wir hätten uns erst gar nicht zu verlieren brauchen, wenn dir nicht in Oranienbaum ein Mädchen den Kopf verdreht hätte. Seid ihr noch zusammen?“

„Sogar verheiratet.“

Georg grinste. „Noch nicht trocken hinter den Ohren und schon Ehemann.“

„Was machst du überhaupt in Saratow?“, wollte Boppe von seinem Freund wissen.

„Arbeiten. Und du?“

„Verschiedenes einkaufen für Haus und Hof.“

„Bist du Bauer geworden?“

Boppe nickte. „Meine Frau und mein Schwiegervater, die was davon verstehen, haben mir alles beigebracht.“

„Sei ehrlich, bist du glücklich?“

„Und wie!“ Boppe strahlte. „Und du? Immer noch hinter jedem Rock her?“

„Man ist nur einmal jung.“

„Warte nur, bis die Richtige kommt, dann bist du für alle anderen verloren.“

Georg lachte nur vielsagend und erkundigte sich dann: „In welcher Kolonie lebt ihr? Wie ist es euch ergangen, seit wir uns in Oranienbaum getrennt haben? Habt ihr den Winter über auch gehungert?“

Fragen über Fragen, und kaum war die eine beantwortet, tauchte schon die nächste auf. Da abzusehen war, dass sie sich stundenlang zu erzählen hatten, waren sie ins Kaffeehaus Keit eingekehrt, das einem eingewanderten Danziger gehörte. Während die Kabachen laut polizeilicher Anordnung abends geschlossen wurden, durfte sein Gasthaus länger offen bleiben. Das Kaffeehaus, in dem man auch Wodka und Bier ausschenkte, wurden von Ausländern bevorzugt, denen der rohe Ton in den Branntweinkneipen nicht behagte; hin und wieder aber auch von Russen, besonders von Offizieren des Regiments in Saratow, denen es als gebürtigen Kurländern in dem nach deutscher Art eingerichteten Kaffeehaus besser gefiel. Ein weiterer Anziehungspunkt war der Billardtisch, der ständig von Spielern umlagert war, und auch Keits Frau und Tochter, immer höflich, gefällig und unterhaltsam, sorgten für steigenden Zulauf. Hier durfte man sich überdies vor Spott und Pöbelei sicherfühlen, womit die Einheimischen den Fremden in den Kabachen öfters zusetzten, um ihrem Groll Luft zu machen. Für die Russen waren die Eingewanderten im Allgemeinen nur liederliches Gesindel, ein Vorurteil, zu dem einige wenige Anlass gegeben hatten, und ständig bohrte der Neid in ihnen, weil sie fanden, die Ausländer würden in vielem begünstigt. Andererseits tadelten die Fremden die Rohheit der Russen und hielten sich daher für berechtigt, sie ihre Überlegenheit fühlen zu lassen und gelegentlich sogar zu verachten. So glaubte sich jede Seite erhaben über die andere, was in der aufgeheizten Wirtshausstimmung bisweilen zu Reibereien und Handgreiflichkeiten führte. Im Großen und Ganzen aber vertrugen sich alle und gingen sich aus dem Wege, wenn wegen einer Nichtigkeit Streit drohte.

An dem Abend aber, als Georg und Boppe beim Bier saßen, kam es ausgerechnet in Keits Kaffeehaus zu einem verhängnisvollen Zwischenfall. Zu später Stunde hatte ein angesehener Franzose mit einem anderen eine Partie Billard begonnen. Das Spiel stand gerade auf des Messers Schneide, als die Kontrollstreife erschien, angeführt von einem Leutnant, der gebieterisch erklärte, sofort Schluss zu machen, es sei Feierabend für heute, was er noch barscher wiederholte, da das Spiel nicht sogleich abgebrochen wurde.

„Ich verbitte mir diesen Kasernenhofton!“, fuhr ihn der Franzose heftig an. „Hier ist erst Feierabend, wenn unsere Partie beendet ist.“

Die Antwort brachte den Leutnant, ein grünes Bürschchen, das sich gern als Obrigkeit aufspielen wollte, so in Wut, dass er dem Franzosen eine Ohrfeige verpasste, was diesen zur Raserei trieb. Leicht erregbar und von fast unbändigem Temperament ergriff er einen Degen, den ein Regimentsoffizier in der Ecke abgestellt hatte, stürzte auf den Leutnant los und stieß ihn dem völlig Überraschten so schnell in die Brust, dass niemand das Unheil verhüten konnte. Der Verwundete sank nieder und starb nach wenigen Atemzügen. Der Franzose aber, der zu fliehen versuchte, wurde von der Wache überwältigt und abgeführt.

„Was für ein Unglücksmensch!“, hieß es bei allen Gästen, die den Verhafteten umso mehr bedauerten, da er das harte Schicksal, das ihm bevorstand, leicht hätte vermeiden können.

„Statt die Beherrschung zu verlieren“, meinte Keit, „hätte er seine Partie Billard ungehindert zu Ende spielen können, wenn er dem Leutnant ein paar Kopeken für Wodka in die Hand gedrückt hätte.“

„Da hat er Recht“, sagte Georg zu Boppe. „Damit erreicht man bei den ständig durstigen Russen fast immer sein Ziel.“

Über den tödlichen Vorfall und die Strafe, die den Franzosen erwartete, redeten die Gäste noch lange auf dem Heimweg. Auch Boppe und Georg unterhielten sich gleichfalls eine Weile vor dem Kaffeehaus, ehe jeder eine andere Richtung einschlug.

Dem beklagenswerten Franzose wurde rasch der Prozess gemacht, und weder seine Ausrede, er sei betrunken gewesen, noch die Fürbitten seiner Freunde vermochten das Urteil zu mildern. Er sollte mit der Knute ausgepeitscht, dann gebrandmarkt und nach Sibirien verbannt werden.

Am Morgen nach dem Richterspruch wurde der erste Teil der Strafe vollzogen. Gefängniswärter führten den Verurteilten zum Marktplatz, wo sich die gaffende Menge, durch den Trommelschlag eines Tambours zusammengerufen, schon eingefunden hatte. Die Schergen rissen ihm das Hemd vom Leib und luden ihn auf den Rücken eines kräftigen Mannes, der ihn fest an den gebundenen Händen packte, als wolle er ihn Huckepack tragen. Noch einmal las der Gerichtsbüttel dem Franzosen Anklage und Urteil vor, was dieser Punkt für Punkt bejahte.

 

Danach trat der Knutmeister vor mit einem Sack, in dem mehrere Knuten steckten. Jede bestand aus einem dicken, derben Lederriemen, der am Eisenring eines kurzen Stiels hing. In die Spitze des Riemens war Draht eingeflochten, der bei jedem Hieb die Haut aufriss und das Blut spritzen ließ. Die ersten Schläge ertrug der Franzose noch schweigend, mit verbissenem Gesicht. Dann aber stöhnte er jedes Mal auf und begann schließlich vor Schmerzen zu brüllen wie ein wildes Tier. Nach zehn Hieben ruhte sich der Knutmeister kurz aus, nahm dann eine andere Knute aus dem Sack und schlug erneut zu, um nach dem zwanzigsten Mal die nächste Verschnaufpause einzulegen, während der Gemarterte schlaff und mit weit hervorgequollenen Augen auf dem Rücken des kräftigen Mannes hängen blieb und voll Angst und Grauen die Fortführung der barbarischen Strafe erwartete. Als weitere Knutenhiebe auf seine blutigen Schultern niedersausten, tobte und zuckte er so ungestüm, dass der Kraftkerl, der ihn trug, unter der Last niederstürzte, woraufhin ihn die rohe Menge einen Schlappschwanz schimpfte und mit Hohngelächter überschüttete.

Mehrmals während der Vollstreckung mussten die Schergen dem Verurteilten Spiritus unter die Nase halten, um seine Lebensgeister neu zu entfachen. Der Knutmeister dagegen stärkte sich dann und wann mit Branntwein und leerte schließlich in einem Zug die restliche halbe Flasche, als der letzte Hieb vorüber war.

Kaum atmete der Franzose noch, sein Rücken war bis auf die Knochen zerhauen, und die Augen stierten ins Leere wie bei einem abgestochenen Schwein, als die Schergen ihn erbarmungslos packten und auf einen Stuhl zwangen, um ihm die Ohren abzuschneiden, die Nasenlöcher aufzuschlitzen und auf Stirn und Wangen das Brandmal zu drücken. Dazu benutzten sie ein rundes Eisen mit nadelfeinen Zäckchen, das den zu lebenslänglicher Zwangsarbeit nach Sibirien Verbannten mit den drei großen Buchstaben KAT für Katorga auf ewig kennzeichnete. Mit einem Hammer schlugen sie ihm das Brandeisen auf Stirn und Wangen und rieben die Wunden, sobald das Blut heraussickerte, mit Schießpulver ein, damit das Kainszeichen blau verwuchs und zeitlebens sichtbar blieb.

Längst schrie der Geschundene nicht mehr, die Kraft reichte nur noch zu einem heiseren Röcheln, bis ihm schließlich auch das in der Kehle stecken blieb. Selbst der Spiritus, den ihm die Folterknechte vorhielten, machte ihn kaum lebendiger. Aber er war bei Bewusstsein, der Körper spürte noch Schmerzen, denn bei jeder neuen Peinigung zuckte der blutige Klumpen Mensch zusammen. Zum Schluss wurden ihm die rechte Hälfte des Barts und die linke des Kopfhaars abgeschoren. Dann luden ihn die Schergen auf einen Karren und brachten ihn ins Gefängnis zurück, wo er so lange eingesperrt bleiben sollte, bis er geheilt und kräftig genug war, mit dem nächsten Transport nach Sibirien verschickt zu werden.

Der Unglückliche wusste, welch bitteres Los ihn erwartete. Mehrmals schon hatte er einige Transporte von fünfzehn bis zwanzig Mann gesehen, die paarweise ganz kurz, einer mit der rechten, der andere mit der linken Hand, an ein dickes Seil gebunden waren. So gefesselt zogen sie einige Tage vor ihrer Abführung, von Soldaten bewacht, durch die Straßen Saratows und bettelten um Almosen, die ihnen auch mitleidsvoll gegeben wurden, sogar von den Menschen, die sich vorher bei ihrer Auspeitschung und Brandmarkung bestens unterhalten hatten.

Die Leidenszeit in Sibirien blieb dem Franzosen erspart. In der Nacht vor dem Abmarsch schnitt er sich im Kerker die Kehle durch.