Weiter geht's

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Weiter geht's
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Helmut Lauschke

Weiter geht's

Mit Blick auf den Patienten

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Mit Blick auf den Patienten

Das Gebot der Menschlichkeit

Blick auf den Patienten

Im Rückblick

Im Blickkreuz von Relativität und Wirklichkeit

Ein gewohnter Blick

Die Hähne krähten das fünfte Mal

Anderes aus der Wirklichkeit

Von der ungleichen Melanozytenzahl und dem Exodus der weißen Nonnen

Das Telefon klingelt

Vom Wert des Lebens und die Verantwortung

Ethik und die Pflichten

Epilog

Impressum neobooks

Mit Blick auf den Patienten

Das Gebot der Menschlichkeit

Im Zeitalter rapide voranschreitender Wissenschaften und Technik muss die Ethik substantiell tiefer und umfassender verstanden werden, um die ‘Superkräfte des entfesselten Prometheus’ unter Kontrolle zu bringen beziehungsweise zu bremsen und zu zähmen, bevor sie im Chaos schwindelerregender Katastrophen die Menschheit letztendlich und unumkehrbar in den Abgrund treiben.

Die verantwortungslose Unterwerfung der Natur hat den Menschen selbst ergriffen mit den Folgen, die psychologisch wie physiologisch im höchsten Maße erstaunen und erschrecken lassen und in der Behandlung der Erkrankungen noch nie gekannte Herausforderungen abverlangen. Die Gefahren liegen in den orphisch-kosmologischen Größen der Endgültigkeit. Denn was der Mensch dieser Zeit zu tun in der Lage ist, das hat es noch nie gegeben.

Da auf die Menschheit die überlieferte Weisheit mit all ihrem Wissen gerichtet ist, steigert sich die Seinsproblematik in der Erhebung einer Exponentialfunktion. Die mit dieser Weisheit überlieferte Ethik zeigt dagegen keine Grenzwerte auf, die sich auf das gegenwärtige Tun und Schaffen beziehen und sie umfahren und ‘einzäunen’. Die Sicherheitszone des Seins ist nicht deutlich markiert, um die apokalyptischen Auswirkungen zu vermeiden. Die Normen von ‘Gut’ und ‘Schlecht’ sind nicht klar gezeichnet.

Die moderne Technologie muss von den Axiomen der Ethik noch erfasst und begriffen werden. Es ist die Relativität der geistig-inneren und der technisch-äußeren Werte, die in ihren Fassungen und Dehnungen verstanden werden müssen. Die Asymptoten sind den ethischen Prinzipien anzulegen, um sie zu erfassen und die Wahrscheinlichkeit drohender Gefahren frühzeitig zu erkennen.

Das Bild vom Menschen ist verzerrt, dass nach der Klärung gesucht wird, um die Sicht und Ordnung im Daseinsgeflecht herzustellen. Es trifft das Seelische wie das Physische im Leben mit der zeitorientierten Prämisse des Überlebens.

Die Asymptoten auf dem Wege der weiterführenden Ethik tangieren das Sein des Menschen in der Frage, warum es Menschen auf dem Planeten gibt. Mit dem Anlegen der Asymptote an den heutigen Daseinskreis ergibt sich die zweite Frage nach der Existenz des Menschen für die Zukunft. Diese Teilfrage schließt die Sicherung dieser Existenz ein. Die Zukunft mit ihren Detailverzweigungen gewinnt an Bedeutung, weil das Leben mit dem Überleben dem größer werdenden Wagnis entspricht.

Die Heutzutagefragen nach Sein und Sollen sind in ihrer Bedeutung durch die Besonderheiten in der wissenschaftlich-technischen Hochentwicklung ontologisch noch wichtiger und umfassender geworden.

Im Leben und Überleben ist mit der Zunahme des Seins auch die Verantwortung in der Pflicht umfangreicher geworden. Das öffnet den Fragenfächer nach der Trag- und der Ertragsfähigkeit des Menschen in seiner eigenen beziehungsweise in der ihm zugesprochenen Kausalität.

Sicht und Wissen um den Menschen beziehen holistisch die planetaren Weiten in das Bewusstsein der personalen Kausalität ein. Da zentriert sich die Ethik auf den Grad der Sittlichkeit in der Sichtweise und Sichtanalyse in der Einbeziehung des Mitmenschen.

Im Denken, Tun und in der Gesellschaft befasst sich die Ethik mit den Handlungen großer und größter Reichweiten, was über die Vorurteile, das Vorwissen und die bloßen Mutmaßungen hinausgeht. Denn das Wissen bleibt schon in der Vorstufe problematisch, was zu fehlerhaften Fernwirkungen führen kann, die zum Teil nicht mehr umkehrbar sind.

All das ruft die Verantwortung in das Zentrum der Ethik in den berührten Dimensionen von Raum und Zeit. Es wird die Verantwortung sein, die im Denken und menschlichen Handeln erneut und immer wieder auf den Prüfstand kommt, weil es der Mensch ist, der sich in seinen Fehlern verrennt, verhakt und hängenbleibt.

Der technische Fortschritt in seiner globalen Dynamik übersteigt in der denkerischen Reflexion die Grenzen der Realität, dass es seelisch wie physisch in zunehmendem Maße zu Störungen im Befinden durch Vereinsamung mit dem Gefühl der Verlorenheit und zu schweren psychisch-körperlichen Erkrankungen kommt, die das individuelle Dasein sozial marginalisieren und in die Tiefen des Elends reißen.

Die äußere Fortschrittsdynamik geht mit der inneren Depression einher, wo die Hoffnung auf das Leben in menschlicher Würde oft schlagartig in die Hoffnungslosigkeit umschlägt und auf dem Boden der Verzweiflung und Zerrüttung liegenbleibt. In der Zielsetzung kommt die menschliche Unbescheidenheit dazu, dass der eingschlagene Weg der falsche ist und nicht zum Ziel führt.

Deshalb schließt die Verantwortung die Axiome ‘Furcht’ und ‘Ehrfurcht’ ein, um sich als Mensch in der zweifelhaften Freiheit gegen die willkürlichen Übergriffe von Macht und Unrecht zu schützen. Utopie ist die eine Seite und Realität die andere Seite des Daseins, dazwischen gibt es keine scharfe Grenze.

Blick auf den Patienten

Eine junge Frau hilft ihrer alten Mutter auf den Schemel. Die alte Frau klagt über Schmerzen in beiden Kniegelenken. Von einem Unfall ist nicht die Rede. Dr. Ferdinand fühlt den Erguss in den Gelenken und punktiert ihn ab. Die alte Frau ist auf dem linken Auge fast blind und hört auf beiden Ohren schwer. So erklärt er der Tochter die Ursache der Gelenkergüsse. Die Tochter nimmt den ärztlichen Kommentar wortlos hin, dass im Fall ihrer Mutter nichts mehr zu machen sei und sie mit den verschlissenen Gelenken leben muss. Sollten sich neue Ergüsse bilden, dann müssen auch sie abpunktiert werden. Er trägt die Tabletten zur Schmerzlinderung und Entzündungshemmung in den abgegriffenen Gesundheitspass ein und gibt ihn der Tochter, die ihrer Mutter die Hand reicht und ihr vom Stuhl aufhilft. Die alte Frau dankt für die Behandlung und lässt sich von der Tochter aus dem Untersuchungsraum führen. Sie hält die Hand der Tochter, als sie hintereinander durch den dichten Pulk wartender Menschen mit den Schweißgerüchen in Richtung Medikamentenausgabe gehen. Dr. Ferdinand sieht ihnen durch die geöffnete Pendeltür nach und bedauert, dass er der alten Frau nicht wirksamer helfen kann.

Eine junge Frau wird auf der Trage in den Untersuchungsraum gefahren. Auf längeres Befragen durch die Schwester kommt heraus, dass die Frau von ihrem Mann verprügelt worden war. Die rechte Gesichtshälfte ist stark geschwollen. Das rechte Auge kann sie nicht öffnen. Beide Lider sind blutunterlaufen. Die Frau hat Schürfwunden am Hals und an den Armen und Händen. Der rechte Unterarm ist gebrochen. Die Frau macht einen verstörten, armseligen Eindruck. Sie wird mit dem Formular zum Röntgen gefahren. Als letzten Patienten vor der Mittagspause, die schon halb vorüber ist, sieht Ferdinand einen zehnjährigen Jungen, der vom Esel gefallen ist und mit dem linken Bein nicht auftreten kann. Auch er wird zum Röntgen geschickt, wohin ihn der Vater trägt.

Am verspäteten Mittagstisch überkommt ihn die Fragwürdigkeit im Zeitenvergleich. Der Inhalt menschlicher Verantwortung ist verweht, irgendwohin, wo das Auge nicht hinkommt. Bildlich hat sich der Mensch den Arm abgerissen, der dem Mitmenschen so viel geholfen hat. Der Verlust der helfenden Mitmenschlichkeit ist den Augen abzulesen, denen das ansteckende Strahlen der Freude ebenso abhanden gekommen ist wie die Tiefe des Brunnens, aus dem die Tränen kommen, wenn der Mensch im Sturz seines Herzens trauert. Das menschliche Profil mit dem eingedrückten Relief des Lebens ist verflacht. Es ist das Erlebnis der Wüste, wo der Wind das Bodenrelief mit dicken Sandschichten zuweht.

Nach diesem Abstecher verlässt Ferdinand den Speiseraum und macht sich auf den Weg zum ‘Outpatient department’. Im Vorbeigehen schaut er in die von vergilbten Tüchern verhängten Fenster des Flachbaus mit den Asbestwänden. Es sind kleine Wohnstellen mit je zwei Zimmern. Duschraum und Toilette haben sich zwei nebeneinander liegende Wohnstellen zu teilen. Finger von Erwachsenen und Kinderhände haben sich an den Scheiben abgedrückt. Neben den frischen Abdrücken gibt es die alten Abdrücke, die schon vor einem Jahr zu sehen waren. Beim Betreten des OPD schlägt ihm eine penetrante Schweißwolke ins Gesicht. Der Wartesaal ist vollgestopft. Die Menschen stehen und sitzen auf den Bänken und auf dem Boden. Es ist nicht erkennbar, dass Dr. Ferdinand vor der Mittagspause im Untersuchungsraum gearbeitet hat.

 

Er betritt den Raum, in dem der Schweißgeruch wie eine schwere Wolke lastet. Die Luft ist heiß. Sie steht und drückt. Die Mutter hat ihr fünfjähriges Töchterchen auf dem Rücken. Sie legt die Tüte mit den Röntgenbildern auf den Tisch. Ferdinand zieht die Aufnahmen aus der Tüte und hält sie gegen das offene Fenster. Die Spitze des linken Innenknöchels ist abgerissen. Er geht mit Mutter und Tochter in den Gipsraum und gibt dem Mädchen die Spritze zur Kurznarkose. Er richtet die Fraktur ein und stellt das Fußgelenk in einem Fuß-Unterschenkelgips ruhig. Die Mutter assistiert, indem sie den Großzeh des Kindes senkrecht nach oben hält. Ferdinand geht in den Untersuchungsraum zurück, während die Mutter im Gipsraum bleibt, wo das Mädchen den Narkoserausch ausschläft.

Die junge Frau, die von ihrem Mann so hart geschlagen worden war, dass ihr rechtes Auge zugeschwollen und die Lider blutunterlaufen sind, kommt auf der Trage vom Röntgen zurück. Der rechte Unterarm ist gebrochen. Die Achse der Fragmente ist geknickt. Der Anblick der Frau entsetzt, und Ferdinand verurteilt aufs Schärfste die rohe Gewalt, die an Frauen und Kindern verübt wird. Frauen und Mädchen werden vergewaltigt und geschlagen. Kinder werden misshandelt. Das hat es in dieser Scheußlichkeit und Zahl im System der weißen Apartheid nicht gegeben. Mord und Totschlag haben mit der Unabhängigkeit erschreckend zugenommen. Ferdinand richtet die Brüche des Unterarms und legt einen gepolsterten Armgips an.

Eine alte Frau hat bei der Feldarbeit in einen Dornbusch gegriffen. Dr. Ferdinand entfernt im kleinen OP die Dornen aus den entzündeten Händen. Viele der Instrumente des ‘Wundsets’ in der Nierenschale haben durch Dampfsterilisationen über die vielen Jahre den Rost angesetzt. Pinzette und Klemmen sind verbogen, die Scherenblätter wackeln im Scharnier, und die Greifbacken des Nadelhalters sind abgenutzt. Dazu kommt, dass der OP-Tisch mit seinen Rostflecken längst ins Geschichtsmuseum der Chirurgie gehört. Die OP-Deckenlampe mit den zwei ausgebrannten von insgesamt fünf Birnen hängt schief und gleitet ständig weg. So ist eine Hand der Schwester damit beschäftigt, das Licht der Lampe aufs OP-Feld zu richten. Die abgebrochenen Dornenstücke sind entfernt. Der Verband wird angewickelt, und die Schwester gibt die Tetanus-Auffrischimpfung. Dann legt sie die Instrumente in die Nierenschale zurück, wischt das Blut vom OP-Tisch, knipst das Licht der OP-Lampe aus und verlässt mit dem gebrauchten Set das ‘OPD-theatre’.

Im Untersuchungsraum stehen zwei Männer in Handschellen, die von vier Polizisten bewacht werden. Drei von ihnen tragen die braungraue Khakiuniform. Ferdinand nimmt seinen Stuhl am Tisch ein. Der Polizist in blauer Uniform bittet ihn, nach dem rechten Arm des einen und dem linken Unterschenkel des anderen Mannes zu sehen. Die Männer seien nach einem Raubüberfall auf eine Bank gefasst worden. Der Polizist löst die Handschelle beim ersten, als der auf dem Schemel sitzt. Er hat Hautschürfungen am rechten Unterarm, und das Handgelenk ist stark geschwollen. Ferdinand füllt das Röntgenformular aus, während der Polizist die Handschellen wieder anlegt. Der Mann wird von zwei Polizisten in Khakiuniform zur Röntgenabteilung geführt. Der Polizist in der blauen Uniform setzt den zweiten Mann auf den Schemel. Ihm lässt er die Handschellen an und fordert ihn auf, das linke Bein nach vorne zu strecken. Ferdinand schiebt dem Mann das angerissene, blutverschmierte Hosenbein nach oben. Hier sind Risswunden, die tief in die Wadenmuskulatur reichen. Es ist das Rissmuster der Stacheldrahtverletzung. Das Fußgelenk ist geschwollen. Der Mann klagt nicht über Schmerzen. Auch er wird zum Röntgen geschickt und von den zwei anderen Polizisten begleitet.

Nun ist es der Vater, der seinen zehnjährigen Sohn auf dem Rücken hat und die Röntgentüte in der Hand hält. Die Aufnahmen bestätigen die Diagnose der Unterschenkelfraktur, die im Gipsraum gerichtet und in einem Beingips ruhiggestellt wird. Ferdinand dankt dem Vater für seine Mithilfe durch das Halten des Fußes während des Anlegens des Gipsverbandes. Der Vater nimmt den Jungen auf den Rücken und verlässt den Gipsraum. Er hat ein zufriedenes Gesicht, weil dem Jungen geholfen wurde und er an der Hilfe aktiv beteiligt war. Ein Vater, wie Kinder sich ihn wünschen: liebevoll und fürsorglich. So denkt es Ferdinand, als er den Gipsraum verlässt.

Auf den Schemel setzt sich ein Mann, der so alt nicht ist. Das Hinsetzen fällt ihm schwer, denn er trägt rechts eine Oberschenkelprothese. Der Beinstumpf ist ringsum druckempfindlich. Der Mann ist ein PLAN-Kämpfer, der in den Jahren des Exils Maschinenbau in der damaligen Tschechoslowakei gelernt hat. Auf den Röntgenbildern sind die Sägeblattzeichen als Hinweis auf den bakteriell-entzündlichen Knochenfraß zu sehen. Ferdinand kreist die pathologischen Veränderungen am Knochenstumpf mit dem Kugelschreiber ein und erklärt das Problem. Der Mann ist mit der Stumpfrevision einverstanden und wird stationär aufgenommen.

Vom Röntgen kommen die beiden ‘Bankmänner’ in Handschellen zurück. Sie werden von den Polizisten begleitet. Der Polizist in der blauen Uniform überreicht die Tüten mit den Röntgenbildern. Dem ersten wird im Gipsraum die handgelenksnahe Speichen-Ellenfraktur gerichtet und in einem Unterarmgips ruhiggestellt. Der Gips ist noch nicht trocken, da legt der kräftige Polizist in Khaki-Uniform die leere Handschelle um sein rechtes Handgelenk. Dem zweiten ‘Bankmann’ bleiben die Hände gefesselt. Ferdinand säubert die Risswunden am linken Unterschenkel, schneidet die Wundränder aus, vernäht die Wunde und wickelt den Verband an. Der Polizist betrachtet verärgert seine blaue Uniform, die einige Gipsspritzer abbekommen hat. Dr. Ferdinand gibt ihm den feuchten Lappen, damit er die Spritzer von der Hose abwischt. Das tut der Polizist mit linkischen Bewegungen.

Die Nachtschicht hat die Spätschicht abgelöst. Ferdinand verlässt gegen sieben den Untersuchungsraum und geht noch einmal durch die Säle und zur Intensiv-Station, um nach den Frischoperierten und den Problempatienten zu sehen. Erschöpft macht er sich auf den Weg zur Wohnstelle und wünscht dem Pförtner am Tor eine gute Nacht. Er schaut zur Rezeption zurück, wo einst die Patienten und ihre Angehörigen das Nachtlager auf Pappen und Zeitungspapier herrichteten, wenn mit der Dämmerung die Sperrstunde einsetzte, die es den Menschen verbot, in ihre Dörfer zurückzukehren.

Doch mit der Unabhängigkeit wurde die Sperrstunde dem Teufel hinterhergeschickt, die ein Bestandteil der Apartheidära war. Auch wurde das Vorrecht der Weißen zum Wohnen im Dorf abgeschafft. Dagegen steckte der Stock mit der Holztafel und der Aufschrift ‘For Whites Only’ noch nach einem Jahr nach der Unabhängigkeit neben dem Pfad am Dorfeingang schief im Boden.

Im Rückblick

Dr. Ferdinand schaut nach den Patienten auf der Intensiv-Station. Er trägt die klinischen Daten in die Krankenblätter ein und wünscht den Schwestern, die ihre Nachtschicht begonnen haben, eine ruhige Nacht. Auf dem Weg zur Wohnstelle überquert er den Vorplatz mit dem Uringeruch. Der Himmel hat sich blutrot gefärbt. Glühend senkt sich der Sonnenball dem Horizont entgegen. Vor dem Ausgangstor dreht er sich noch einmal um und blickt zur Rezeption. Doch mit der Unabhängigkeit ist die nächtliche Ausgangssperre verschwunden. Die Menschen werden nicht mehr gezwungen, mit Kindern und alten Menschen auf Pappen und Zeitungspapier auf dem harten Beton vor der Rezeption bis zum Sonnenaufgang zu übernachten.

Was dennoch drückt, ist das Fehlen strahlender Gesichter. Die Armut drückt hart auf die Familien. Hinzu kommt das Wegsterben junger Menschen durch AIDS. Meist sind es die jungen Frauen. Sie lassen ihre Kinder als Waisen zurück. Da kommen auf die Alten mit der kleinen Rente die Waisenkinder noch dazu. Sie müssen die hilflosen Kinder ernähren und aufziehen, wenn es an der Tante fehlt, die auch vom Virus befallen ist und entkräftet in den letzten Zügen liegt. Eine traurige Feststellung ist auch, dass junge Menschen häufiger als vor der Unabhängigkeit sich mit dem Strick um den Hals erhängen.

Ferdinand nimmt den Weg an den fünf Caravan-Häusern vorbei, die nun von Einheimischen bewohnt werden, die vorher in der ‘Lokasie’ gewohnt haben. Die Häuser sehen ungepflegt und verkommen aus. Nur am ersten Haus, in dem Sarah mit ihren zwei kleinen Kindern wohnt, sind die Fenster geputzt und die fünf Treppenstiegen gefegt. Es ist der Weg, den Ferdinand am Vortag auch genommen hat. Er öffnet und schließt das Zufahrtstor und überquert den kleinen Vorplatz vor dem Haus. Das Telefon klingelt, als er die Eingangstür aufschließt und die Tür öffnet. Er eilt zum Telefon, das aufhörte zu klingeln, als er nach dem Hörer greift.

Er streift die Sandalen mit den schweißnassen Korksohlen von den Füßen und zieht das durchschwitzte Hemd vom Körper. Er zündet sich eine Zigarette an, setzt sich auf den Terrassenabsatz und sieht dem untergehenden Feuerball nach, der mit dem Versinken die Glutbänder vom Abendhimmel hinter den Horizont zurückzieht. Mit der ersten Dämmerung erscheint der Abendstern über der auffahrenden Mondsichel, als stünde der Steuermann mit erleuchteter Stirnlampe in der Gondel zur Abfahrt bereit. Bei diesem Anblick kommen die Verse aus der Bhagavadgïtã in den Sinn:

Das Wissen mitsamt dem Erkennen werd’ ich dir verkünden ohne Rest.

Wenn du’s erkannt hast, bleibt dir hier nichts anderes zu erkennen mehr übrig.

Unter den Tausenden von Menschen strebt kaum einer nach Vollendung.

Von den erfolgreich Strebenden kennt kaum einer mich in Wahrheit.

(7. Gesang: Der erhabene Bhagavat spricht zum Helden Arjuna.)

Ferdinand spricht die Zeilen langsam und hört den Worten nach. Sie fliegen in die Dämmerung hinaus, wo sie in der Auflösung der Buchstaben die Schwere des Körperlichen abstreifen. Sie formen Wolken, aus denen der große Regen kommt, der die Menschen vor der Trockenheit und dem Hungertod bewahrt. In der Stille vollziehen sich die gesprochenen Metamorphosen. Doch weit ist der ersehnte Frieden. Er ist für die Worte unerreichbar. Ferdinand ordnet den schwingenden Worten mit den ausschwingenden Silben und den weiterschwingenden Gedanken die Klänge aus Beethovens Andante aus der Mondscheinsonate zu und summt die Zeilen mit dem wörtlich Gedachten bis ans Ende der Musik. Dabei betrachtet er den Abendhimmel mit den aufkommenden Sternen und versucht, die Tagesschwere abzustreifen und sich dem Kosmos einzufügen. Sein Wunsch ist es, in die Nacht fortgetragen zu werden, um den Frieden zu finden.

Er zündet sich die Zigarette an und sieht in die auffahrende Mondsichel, wie sie nun ohne Steuermann durchs Sternenmeer gondelt und bereit ist, neue Passagiere aufzunehmen. Er folgt im Geiste Platos Höhlengleichnis von den zwei Welten und Erkenntniswegen, vom Aufstieg und Abstieg und ihren Risiken, von der doppelten Blindheit aus gegensätzlicher Ursache, von der Weisheit der Wahrheit und vom Übersteigen der menschlichen Erkenntnis.

Er empfindet nach, wie die Ketten von den Fesseln gelöst werden, um der Welt mit den ewigen Schatten zu entfliehen und die Wirklichkeit im Licht des Universums mit den Augen zu bestaunen. Es ist ein feierlicher Anblick. Die Weite und Tiefe in den Kosmos hinein erschüttert ihn. Beim längeren Hineinblicken beginnen die Augen zu schmerzen. Die universale Größe hat sie entzündet. Sprachlos sitzt er auf dem Terrassenabsatz. Die Fülle der aufkommenden Gedanken reißt ihn wie in einem Strom weg. Er hört, wie sein Herz beklommen schlägt.

Ferdinand ist ergriffen von der Unfähigkeit, die Wirklichkeit in ihrer kompakten Fülle, wie er sie erlebt, mit eigenen Worten zu bezeichnen beziehungsweise wiederzugeben. Dabei spürt er im tiefen Durchatmen, wie er von der fesselnden Last befreit wird, wie ihm das beklemmende Gefühl aus dem Hals und dem Brustkorb genommen wird. Die Ketten fallen ihm von den Gelenken. In der freien Bewegung beginnen die Gelenke abzuschwellen. Er fühlt sich besser, je länger er unterm Sternenhimmel sitzt und seine Gedanken mit der Mondsichel weiter gondeln lässt, die ihn in die Tiefe des gestirnten Universums hineinträgt. Zwei Fragen kommen auf ihn zu: Erstens, wie kann es der Mensch in der Höhle so lange aushalten; zweitens, warum bleibt der Mensch in der Höhle, wenn er die Gelegenheit hat, die Wirklichkeit im Licht mit eigenen Augen zu sehen.

 

Bei der nächtlichen Fahrt durch den Sternenhimmel berührt Ferdinand, wenn auch nur lose, die Arbeit am Hospital. Die Faulheit und die Angst, Verantwortung zu tragen, haben seiner Meinung nach mit der Höhle zu tun. Es besteht das Defizit an Wissen, das erschreckend ist. Doch noch erschreckender ist der Unwille, hart zu lernen, um die Wissenlücken in kürzester Zeit zu schließen. Denn das schuldet der Arzt dem Patienten. Jede Nachlässigkeit kann fatale Folgen haben. Es ist notwendig, sich ein gründliches Urteil über die Arbeit am Menschen zu bilden. Aber das ist nur möglich, wenn sich der Arzt von den Klischees befreit, die den Schattenbildern an der Höhlenwand entsprechen. Die Arzteinbildung muss durch die solide Arztbildung ersetzt werden. Von daher ist es schädlich, bei der Ausübung des ärztlichen Berufes nach politischen Seitenwegen zu schielen, die doch nur der persönlichen Eitelkeit mit den finanziellen Zulagen dienen.

Die taktischen Seitenwege sind ein Rückfall in die Unfreiheit, wenn der Mensch aufgrund des fehlenden Wissens von der Wahrheit und durch charakterliche Schwächen in die Finsternis verkettet wird. Um ein nützlicher Arzt zu sein, muss der Mensch gesund, frei, stark im Charakter und motiviert sein. Der Arzt muss sehen und aufmerksam zuhören, was ihm der Patient in seiner Not sagt beziehungsweise sagen will.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?