Verbot, Verfolgung und Neubeginn

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7. Die Bedeutung der Geschichtswissenschaft für die spezifische Freimaurerforschung

In methodischer Hinsicht sollte trotz intensiver Forschungstätigkeit die genuin freimaurerische Historiographie viel stärker als bisher multiperspektivische Ansätze berücksichtigen und interdisziplinär auf internationaler Basis arbeiten. Unter multiperspektivisch ist hier die Einbeziehung sozialgeschichtlicher, religionswissenschaftlicher, soziologischer, politikwissenschaftlicher, literaturwissenschaftlicher, ideengeschichtlicher, kunsthistorischer und linguistischer Fragestellungen bzw. Begriffsinstrumentarien gemeint. Da die Freimaurerei und Geheimbünde ein weltweites Phänomen darstellen, müsste die Freimaurerforschung internationale Formen der Kooperation finden, zumal nur auf internationaler Forschungsgrundlage neben regionalen, ideologischen und institutionellen Unterschieden auch starke Gemeinsamkeiten aufgezeigt werden können.68

Die aktuelle Grundlagendiskussion über Methodenprobleme der Geschichtswissenschaft zeigt heute mit großer Deutlichkeit, dass die wissenschaftlichen Formen des menschlichen Denkens nicht ohne Bezug auf lebensweltliche Zusammenhänge zwischen Denken und Handeln verstanden werden können. Die Geschichtsschreibung ist von praktischen Interessen abhängig, die aus ihrem gesellschaftlichen Kontext resultieren. Durch diese Verbindung wird die Geschichte unter dem Einfluss der sich stets ändernden Orientierungsbedürfnisse im gesellschaftlichen Leben immer wieder neu geschrieben. Es ist daher von großer Bedeutung, dass sich die genuin freimaurerische Geschichtsforschung auch über Tendenzen und Richtungen der profanen Historiographie informiert und diese in ihre Forschungspraxis integriert. Das erwähnte Umschreiben der Geschichte ist nicht gleichbedeutend mit einer äußerlichen Anpassung der Geschichtswissenschaft an ihre jeweilige Zeit, sondern erfolgt aus „innerer Logik“ der historischen Erkenntnis. Geschichte versteht sich als ein bedeutungsvoller Zusammenhang zwischen vergangenem und gegenwärtigem Handeln, der auf der Grundlage bedeutungsverleihender Normen aus den Sinnkriterien Interessengebundenen aktuellen Handelns entsteht. Auch wenn die Geschichtswissenschaft lebensweltlich begründet ist, verhält sie sich zu den Formen und Inhalten der lebensweltlich-historischen Bewusstseinsbildung prinzipiell kritisch. Die Geisteswissenschaften unterscheiden sich von der lebensweltlichen historischen Bewusstseinsbildung durch einen höheren Geltungsanspruch ihrer historischen Aussagen und begründen diesen Anspruch mit der ihr als Wissenschaft charakteristischen methodischen Rationalität der historischen Erkenntnis. In der Krise befindet sich heute nicht die historische Methode im Allgemeinen, sondern eine ihrer Erscheinungsformen, nämlich die Lehre vom historischen Verstehen (Hermeneutik), wie sie vom deutschen Historismus im 19. Jahrhundert entwickelt wurde. Sie hat die Ermittlung des Sinnzusammenhanges vergangener menschlicher Handlungskomplexe zum Ziel. In der Tradition des Historismus wird Geschichte als „Selbsthervorbringung und Selbstdarstellung des dem Menschen allgemein (als Gattung) definierenden Geistes“ in der Zeitfolge je besonderer, individueller Kulturgebilde verstanden.69

Hier stehen die Erforschung und das Verstehen von Ereignissen, Personen, Intentionen und Handlungen im Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses und nicht so sehr Strukturen und Prozesse als Bedingungen, Voraussetzungen und Folgen von Ereignissen, Entscheidungen und Handlungen, die den handelnden Personen nicht immer voll bewusst sind, wie die Vertreter der Historischen Sozialwissenschaft meinen. Methodisch resultiert aus einer solchen Betrachtungsweise von Geschichte eine stärkere Berücksichtigung generalisierender, erklärender analytischer Verfahren gegenüber traditionell hermeneutischverstehenden Methoden des Historismus. Da Methodisierung, Systematisierung und Steigerung von plausiblen Begründungen meint, würde dies – auf die Geschichtswissenschaft und das historische Denken übertragen – bedeuten, dass Methodisierung des historischen Denkens im Ganzen mit einer Paradigmatisierung der Grundlagen der Geschichtswissenschaft identisch wäre. Die für jedes historische Denken entscheidenden Faktoren gestalten sich zu einer besonderen Form einer disziplinären Matrix. In die leitenden Perspektiven des historischen Denkens werden „Zeitorientierungsbedürfnisse“ hineinverarbeitet. Dazu kommen implizit auch Verfahren der empirischen Absicherung historischer Behauptungen, und schließlich findet das historische Denken seinen Niederschlag in Darstellungen und übt auch Funktionen der Zeitorientierung aus.70

Diese hier erwähnten Momente treten aber nicht immer als unterschiedliche Faktoren des historischen Erzählens auf und werden nicht immer als einzelne Faktoren und in ihrem Zusammenhang überdacht. In der Geschichtswissenschaft stellt sich dieser Sachverhalt allerdings anders dar. Hier treten die einzelnen Faktoren in ihrer Differenz auseinander und formieren sich zu systematischen Zusammenhängen, so dass Geschichtswissenschaft auf diese Weise als wissenschaftsspezifische Begründungsarbeit des historischen Denkens entsteht. Paradigmatisierung bedeutet daher in diesem Sinne die Ausbildung einer durch „Historik“ reflektierbaren disziplinären Matrix, wo der Grundsatz der Methodisierung in den Grundlagen für Geschichtswissenschaft Anwendung findet. Diese Paradigmatisierung wird als Prozess aufgefasst, in dem die Methode als Prinzip von Wissenschaftlichkeit das historische Denken bestimmt. Die wissensbegründenden Argumentationsregeln des historischen Denkens entstehen dabei in den einzelnen Prinzipien, die für die Eigenart und Funktion des historischen Denkens entscheidend sind. Dieser Entstehungsprozess ist in der Methodenforschung auch als „Rationalisierung“ des historischen Denkens zur fachlichen Verfassung der Geschichtswissenschaft bezeichnet worden.

8. Geschichtswissenschaft, ihre Theorien und Methoden

Die Logik des historischen Denkens, die Struktur von Verwissenschaftlichung als Rationalisierung bestimmt den Aufbau der Geschichte als Fachwissenschaft. Hier können mehrere Bedeutungsfelder zur Erklärung angeführt werden:

1. Bezüglich der Orientierungsbedürfnisse der menschlichen Lebenspraxis, die das historische Denken entscheidend beeinflussen, kann man von einem Prozess der Rationalisierung sprechen, weil Orientierungsbedürfnisse zu Erkenntnisinteressen rationalisiert werden.

2. Hinsichtlich der leitenden Einsichten auf die Erfahrung der Vergangenheit kann man von einem „Prozess der Theoretisierung“ sprechen. Ideen sind leitende Hinsichten auf die Erfahrung der Vergangenheit und werden zu expliziten Bezugsrahmen der historischen Interpretation.

3. Bezüglich der Regeln, nach denen sich das historische Denken ausrichtet, wenn es Erfahrungen der Vergangenheit berücksichtigt, kann man von einem Prozess der Methodisierung sprechen. Dabei werden die Geltungssicherungen von Geschichte zum Regelsystem der empirischen Forschung methodisiert, und zwar als besonderes Regelsystem, das für die Ermittlung und Interpretation des Tatsachengehalts von Geschichten unbedingte Voraussetzung ist.

4. Hinsichtlich der Darstellung kann man feststellen, dass diese neuen Formen wissenschaftsspezifischer Diskursivität gewinnt, gleichzeitig aber mit ihnen die literarischen Ausdrucksmöglichkeiten verliert, die mit der wissenschaftlichen Geltungssicherung historischer Aussagen unvereinbar sind. Dabei muss die Geschichtsschreibung ihren narrativen Charakter nicht unbedingt verlieren.

5. Bezüglich der Funktionen der Daseinsorientierung kann man auch von einer ideologiekritischen Humanisierung sprechen. Starre Fixierungen von Zeitorientierung und Identitätsbildung durch historische Erinnerungen können ideologiekritisch ausgelöst und historische Identität am humanitären Kriterium wechselseitiger Anerkennung orientiert werden.71

Es steht heute außer Zweifel, dass die Geschichte als Wissenschaft von der historischen Forschung und diese wiederum von ihren Methoden in entscheidender Weise abhängt.72 Daher können Theorien in der Geschichtswissenschaft nur dann eine Rolle spielen, wenn sie sich auf die Forschungspraxis beziehen. Ihre Bedeutung hängt letztlich von der methodischen Regelung der empirischen Forschung ab. Der Methodenfaktor ist ein wesentlicher Prüfstein für den Bereich der Theorie. Ob und inwieweit in der historischen Forschung Theorien verwendet werden können, hängt von den Methoden ab. Wie die neuere Theoriediskussion gezeigt hat, sind theorieförmige Elemente des historischen Denkens für die Geisteswissenschaften von großer Bedeutung. Besonders deutlich wird dies in der Abhängigkeit der Methodenentwicklung von verschiedenen Deutungsmustern der historischen Erfahrung. Erklärungen sind für die wissenschaftliche Rationalität maßgeblich, wobei nur ein Erklären mit Hilfe von Gesetzen rational oder wissenschaftlich sein kann, und auf die Geschichtswissenschaft übertragen würde dies bedeuten, dass ihre Wissenschaftlichkeit davon abhängt, ob und inwieweit sie rationale Erklärungen zu geben vermag und mit Gesetzeserkenntnissen arbeiten kann. Die Geschichtswissenschaft entspricht durchaus diesen Rationalitätskriterien, doch ist der Monopolanspruch des nomologischen Erklärungsverfahrens auf wissenschaftsspezifische Rationalität bezüglich der Geschichtswissenschaft zu einseitig. Vielmehr gibt es heute mehrere Erklärungsmodelle in der Geschichtswissenschaft, nämlich das nomologische Erklären und das Problem der historischen Gesetze, das intentionale Erklären und das Problem hermeneutischer Sinnzusammenhänge und das narrative Erklären sowie das Problem theoretischer Erzählkonstrukte.73

 

Unter historischen Theorien versteht man heute in der Geschichtswissenschaft Konstruktionen von Zeitverläufen, die gleichsam als Leitfäden von Geschichte bezeichnet werden können. Historische Theorien sind aber auch Fragerahmen oder Hypothesenkonstruktionen, die empirische Sachverhalte besser erschließen können. Sie sind letztlich auch „explizite und konsistente Begriffs- und Kategoriensysteme, die der Erschließung und Erklärung von bestimmten historischen Phänomenen und Quellen dienen, aber nicht hinreichend aus den Quellen abgeleitet werden können.“74

Abschließend müssen hier auch noch didaktische Aspekte erwähnt werden. Im Wechselspiel zwischen Theorie und Empirie kann genau festgestellt werden, wo Quellenbefunde zur Stützung und inhaltlichen Füllung theoretischer Hinsichten fehlen und wo Quellen Informationen enthalten, die theoretisch nicht hinreichend erklärt werden können. Auch historische Begriffe als sprachliche Mittel historischer Aussagen fallen in den Bereich historischer Theorien. Hier geht es vor allem darum, begrifflich genau zu bezeichnen, was man das historisch Wesentliche an einem Sachverhalt nennen könnte.

Zur didaktischen Funktion und Praxis der Geschichtswissenschaft gehört auch die Methodik, worunter wir in der Geschichtswissenschaft die Regeln der historischen Forschung verstehen. Die Gesamtheit der Regeln des historischen Denkens, das Handwerkzeug des Historikers, bestimmt die Verfahren, nach denen die menschliche Vergangenheit als Geschichte vergegenwärtigt wird. Die historischen Methoden garantieren die Objektivität historischer Aussagen, sofern es diese überhaupt gibt. Unter Methodik bezeichnet man in der Geschichtswissenschaft zunächst das Ensemble aller Verfahrensregeln, denen das historische Denken folgt. Im engeren Sinne sind hier aber die spezifischen Erkenntnisoperationen gemeint, die als historische Forschung bezeichnet werden. Der zweite, engere Begriff, ist praxisnäher, der erste ist stärker erkennntnis- und wissenschaftstheoretisch orientiert. Für die Forschung als Phase des historischen Erkenntnisprozesses ist das methodische Prinzip des Erfahrungsbezuges entscheidend, welches das historische Wissen in die Bewegung des Erkenntnisfortschritts bringt. Das Regelsystem der historischen Methode hängt wesentlich von der Frage ab, wie diese Bewegung des Erkenntnisfortschritts in Gang gebracht wird. Hier werden heute in der Methodendiskussion drei Schritte unterschieden:

1. Die Heuristik,

2. die Kritik und

3. die Interpretation.

Die historische Methode regelt den Forschungsprozess operativ im systematischen Zusammenhang dieser drei Schritte. Alle historischen Forschungstechniken sind in diesen methodischen Zusammenhang integriert und erfahren in ihm ihre je spezifische Funktion. Diese Einheit besitzt jedoch operativ- prozessualen Charakter und definiert Forschung als Verfahrensablauf. Der operativ-substantielle Aspekt betrifft den inhaltlichen Zugriff der Forschung auf die Erfahrung.75

9. Richtungen, Schulen und Tendenzen der Geschichtsschreibung

Für die historische Forschung sind auch die verschiedenen neuen Richtungen innerhalb der Geschichtswissenschaft wichtig geworden.76 In der neueren Geschichtswissenschaft erlangte die wirklichkeitsbegründende Kraft von Vorstellungen, mit denen frühere Gesellschaften ihre Welt für sich bedeutungsvoll machten, immer mehr an Boden, wobei einzelne Beobachtungen oft mit den Annahmen einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie übereinstimmen. Dass die Welt des Menschen deren Konstruktion ist, scheint plausibel und hat in der Historikerzunft bereits Fuß gefasst. Es fehlen aber noch Versuche, solchen Einsichten einen stärkeren theoretischen Rahmen zu geben. Gibt es überhaupt eine konstruktivistische Geschichtsschreibung, ein Modell, das in der Lage wäre, verschiedene Methoden und Betrachtungsweisen zu integrieren? Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass in der Geschichtswissenschaft die Ebene der Beschreibung mit der eigentlichen Ebene der Realität zusammenläuft. Da funktionierende Modelle keinen Aufschluss darüber geben, wie die Welt wirklich beschaffen ist, beschreiben sie nur einen gangbaren Weg. In einer konstruktiven Historiographie wird zwar auch gesehen, dass Menschen in der Vergangenheit anders lebten, handelten und dachten als in der Gegenwart, eine objektive Kenntnis historischer Ereignisse, Zusammenhänge oder Weltbilder ist aber dem Historiker/ der Historikerin und den damals handelnden Personen unzugänglich. Darauf folgt, dass die Produkte der Arbeit des Historikers/ der Historikerin nicht davon ausgehen können, eine Abbildung von geschichtlicher Realität zu sein. Historische Forschungsergebnisse sind lediglich Konstrukte, die in keiner Repräsentationsbeziehung zu einer historischen Wirklichkeit stehen. Selbstverständlich existieren aber Qualitätsunterschiede zwischen historiographischen Konstrukten.

Wenn die Historiographie auf die Einsichten des Konstruktivismus ernsthaft eingeht, so müsste dies auch Konsequenzen auf die Konzeption des Gegenstandsbereichs der Geschichte haben. Wenn Realität auf die Ebene der Beschreibung verlagert wird, dann ergibt sich daraus, dass neben den faktischen Ereignissen auch deren Wahrnehmung durch die Zeitgenossen in das Blickfeld des Historikers rückt. Ideologien, Werte, Normen, Einstellungen und Gefühle werden zwar heute von der Mentalitäts- und Alltagsgeschichte genauer untersucht, doch gilt der Status der „perzipierten Wirklichkeit“ gegenüber der tatsächlichen geschichtlichen Wirklichkeit solange als sekundär und subsidiär, wie die Erkennbarkeit des objektiven historischen Geschehens nicht grundsätzlich bezweifelt wird. Aus konstruktivistischer Perspektive wird in diesem Zusammenhang vor allem betont, dass durch verzerrte Wahrnehmungen, durch Vorurteile und durch aus heutiger Sicht überholte Theorien Ansichten der Zeitgenossen als kognitive Wirklichkeit gesehen werden, auch dann, wenn neue Forschungen ein anderes Bild dieser Wirklichkeit entwerfen.77

Solche Unterschiede zwischen der Sicht der Akteure in der Geschichte und dem Geschichtsmodell, das ein Historiker heute von den gleichen geschichtlichen Ereignissen konstruiert, werden sehr verschieden bewertet. Die an mentalitäts- und alltagsgeschichtlichen Themen interessierte Historiker/innen entscheiden sich z.B. bewusst für die Wirklichkeitssicht der Zeitgenossen als historischen Forschungsgegenstand, weil sie auch der Perzeption von Wirklichkeit historische Realität zusprechen. Sozial- und Wirtschaftshistoriker/innen wiederum beurteilen verzerrte und uniformierte Ansichten von Zeitgenossen kritisch bis abschätzig. In einer konstruktivistischen Geschichtswissenschaft verstehen sich die jeweiligen Forschungsergebnisse gleichermaßen als Konstrukte des/der Historikers/in und können sinnvoll aufeinander bezogen werden. Die Perspektiven sind komplementär, weil die Konstrukte, die sich auf die Wirklichkeitssicht der Zeitgenossen beziehen bzw. die Modelle, die Historiker/innen von geschichtlichen Ereignissen entwerfen, zunächst lediglich unterschiedliche Gegenstände beschreiben. Allerdings wird dabei die jeweilige Wirklichkeitsperzeption der Handelnden stark aufgewertet, weil ihnen eine Realität sui generis zugeschrieben wird. Bei der Differenzierung zwischen der faktischen Ebene der Geschichte und der historischen Wirklichkeitsperzeption der Beteiligten stellt sich die Frage, ob historische Theorien die Wirklichkeitssicht der Zeitgenossen oder die historischen Umstände erfasst werden. Mit Hilfe sozialwissenschaftlicher und historischer Methoden können zwar Hypothesen entwickelt werden, welche Ursachen beispielsweise eine Wirtschaftskrise hatte und in welchem Ausmaß gesellschaftlicher Aufstieg in bestimmten Berufen möglich war. Die Entscheidungen von einzelnen Personen, bestimmte Berufe zu ergreifen, können aber besser durch konstruktivistische Konzepte der Ideengeschichte geklärt werden.

Wolfgang J. Mommsen hat 1988 betont, dass eine Rekonstruktion der mentalen Horizonte und Weltbilder der Akteure sehr wichtig sei, um die Zielsetzung von Handlungen besser zu verstehen.78 Dieser Auffassung ist zuzustimmen, weil die Beschäftigung mit Theorien, Modellen, Methoden und dem Wissensstand, mit denen Menschen in verschiedenen historischen Epochen umgingen, stärker in den Bereich der Geistes- und Mentalitätsgeschichte gehört.

Die Gründung der Neuen Geschichtswissenschaften ist eng mit der „Historischen Sozialwissenschaft“ verbunden, ein Begriff von Hans-Ulrich Wehler, der zur Umschreibung eines neuen geschichtswissenschaftlichen Paradigmas dient und der sich kritisch gegen traditionelle Geschichtsschreibung wendet. Auch der Schule der „Annales“ kommt hier große Bedeutung zu. Die Historische Sozialwissenschaft untersucht in erster Linie Strukturen und Prozesse als Bedingungen und Folgen von Ereignissen, Entscheidungen und Handlungen. Diese Richtung beruft sich auf den deutschen Soziologien Max Weber79, insbesondere auf dessen Gesellschaftsbegriff und erachtet die Anwendung theoretischer Modelle im Sinne von „Idealtypen“ als notwendig. Die Historiographie wird hier als eine spezifische soziale Wissenschaft verstanden. Die Wissenschaftlichkeit misst sich demnach an der Fähigkeit, Ereignisse mit Hilfe von idealtypischen Begriffen zu erklären.80 Als Lucien Febvre und Marc-Bloch 1929 in Straßburg eine Zeitschrift gründeten, waren ihre Motive sehr vielfältig. Die Geschichtsschreibung sollte aus ihrer Routine und inneren Erstarrung herausgeführt und ihre Ghettoisierung beendet werden. Febvre empfahl 1932, die alten überholten Schranken niederzureißen, die babylonischen Anhäufungen von Verurteilten, eingefahrenen Verhaltensweisen, irrigen Auffassungen und falsch Verstandenem abzuwerfen. Darüber hinaus wollten beide zwei Forschungsinteressen verstärken: die Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Dieser Ansatz wurde dann durch neue Fragestellungen und Methoden, z.B. im Hinblick auf die Demokratie, die Religionsgeschichte und die Sozialgeschichte, zu einer Historischen Anthropologie erweitert.81

10. Neuorientierung der Historiographie

Dabei handelte es sich um eine Neuorientierung und um einen Perspektivenwechsel in der Geschichtsschreibung. Die fruchtbarste neue Perspektive war der Aspekt der „longue durée“, worunter man die Vorstellung verstand, dass die Triebkräfte der Geschichte in langen Zeitabläufen wirken und sich nur in ihnen erfassen lassen. Diese Theorie der langen Zeitabläufe hat auch die Annäherung zwischen der Historik und der Ethnologie oder Anthropologie gefördert, die allerdings nicht spannungsfrei verlief. Febvre und Bloch, die sich besonders mit der Kollektivpsychologie und den Wechselfällen des Geistes in der Geschichte auseinandersetzten, haben so den Weg zur Mentalitätengeschichte bereitet. Seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts rief das Thema der Mentalitäten eine Umwälzung der Historiographie hervor. An die Stelle des privilegierten „Homo politicus“ trat der „Homo humanus“. Geschichte wurde auf diese Weise allmählich, insbesondere in der französischen Geschichtsschreibung, zu einer Historischen Anthropologie. Ihr Bestreben war nicht mehr, das Handeln des irgendwie als gegebenen oder fertigen Menschen zu erklären, sondern den Prozess der Menschwerdung darzustellen, also die Prozesse zu untersuchen, durch die Menschen zu dem geworden sind, was sie jeweils waren. Damit verband sich die wichtige Frage, welchen Anteil der Mensch als denkendes, fühlendes, wünschendes Wesen an diesen Prozessen hatte. Es geht hier also um historische Subjektivität, um vergangenes Seelenleben, um vergangene Gefühle und Sensibilitäten.

Heute steht die Mentalitätengeschichte, wie bereits erwähnt, im Zentrum der Historischen Anthropologie. Ihr Spektrum ist groß und reicht von klassischen Zivilisationsgeschichten bis zu den Werken der „Intellectual History“, von Untersuchungen zur Mentalität verschiedenster sozialer Gruppierungen bis zu historisch ästhetischen Schriften, die sich auf das spezifische Lebensgefühl einer Zeit konzipieren. Dazu gehören vor allem Arbeiten zur Volkskultur, Volksfrömmigkeit und zur Sozialgeschichte der Ideen.82 Mentalitätengeschichte ist offenbar thematisch im Schnittpunkt zwischen kognitiven und ethischen Bestimmungen, zwischen bewussten Vorstellungen und praktischen Verhaltensweisen angesiedelt. Sie umfasst einen sehr weiten Bereich, der von den zu einer bestimmten Sachkultur gehörigen Praktiken und Formen des Umgangswissens und den kategorialen Formen des Denkens bis zu den kollektiven Affekten und Sensibilitäten reicht. Daher sind Mentalitäten nicht nur Vorstellungen, Einstellungen und Regeln, sondern auch gefühlsmäßig getönte Orientierungen. Mentalitäten sind die Matrices, die das Gefühl erst in seine erkennbaren und gleichzeitig benennbaren Bahnen lenken und kognitive, ethische und affektive Dispositionen umschreiben.83 Mentalitäten liegen wahrscheinlich nicht im Bereich der Ideen und des Ideologischen, weil Ideen eines Menschen austauschbar und beliebig sind. Wenn man den Menschen genauer kennen und verstehen will, muss man in die Schicht der Glaubensgewohnheiten vorstoßen, also in den Bereich seiner profunden Selbstverständlichkeiten, die er selten bewusst denkt, aber stets empfindet und lebt. Mentalitäten materialisieren sich daher in den von der Geschichtswissenschaft früher weitgehend ausgeklammerten Bereichen des Denkens, Fühlens und Handelns.

 

Wie die neuere Historiographie zeigt, hat die Mentalitätengeschichte mehrere wichtige Problemfelder erschlossen, wie z.B. die verschiedenen Glaubens- und Wissensformen, auch ihre Verbindung und Führung von Menschen, die Orte, Weisen und Gegenstände des Denkens bzw. der spirituellen Praxis, insbesondere die integrative Funktion des Denkens, das Verhältnis von Denken, Wissen oder Nichtwissen und die Angst, die Prozesse der Rationalisierung, den Volksglauben, den Aberglauben und die Entchristlichung, die Disziplinierung und Moralisierung, die Entwicklung des Wirtschaftsverhaltens und die Entstehung des kapitalistischen Geistes, die bürgerlichen Lebensformen, die Kommunikationsformen im allgemeinen, die Feste, das Brauchtum und die Kultur, wobei die Schwerpunkte meistens auf den kollektiven Vorstellungen und Verhaltensweisen liegen.84

Für die Rekonstruktion von zum Teil unbewussten Wahrnehmungs- und Denkstrukturen sind für die Mentalitätsgeschichte vor allem die Prozesse der Sinnproduktion durch Sprache wichtig, insbesondere der Gebrauch von Metaphern und Kollektivsymbolen. Darüber hinaus können auch die für ein Verständnis historischer Handlungen relevanten Einstellungen und Werte, die nicht explizit formuliert werden, aus der Gesamtheit aller Beschreibungen ermittelt werden, mit deren Hilfe Individuen ihre Wirklichkeitsmodelle konstruieren. Wie dieser Ansatz forschungspraktisch umgesetzt werden kann, verdeutlichen Kategorien, wie sie z.B. von Jean Piaget entwickelt und verwendet wurden. Diese Modelle sind besonders bedeutsam für die Operationalisierung der Frage, wie mentale Strukturen aufgebaut und auf welche Weise Wissen und Begriffe erworben werden.85

Da es bei historischer Forschung auch darum geht, Handlungen zu erklären, braucht die Geschichtswissenschaft Konzepte, die die Beziehung zwischen dem Wirklichkeitsmodell von Menschen und ihrem Verhalten erfassen können. In diesem Zusammenhang spielt besonders die sozialpsychologische Kategorie der „Einstellung“ eine Rolle, mit der die Bedingungsfaktoren, die Handlungen zugrunde liegen, aufgezeigt werden können. Unter dem Begriff „Einstellungen“ versteht man hier relativ lang andauernde, erworbene psychische und physiologische Bereitschaften, die Erfahrungswirklichkeit nach durchgängigen Maßstäben wahrzunehmen, zu bewerten und sich ihnen gegenüber in bestimmter Weise zu verhalten. Das Wirklichkeitsmodell eines Individuums setzt sich durch das gesamte System der „Einstellungen“ zusammen. Als System umfasst es die Summe des Wissens und der Werte und prägt auch die Art und Weise, wie neue Wahrnehmungen aufgenommen und beurteilt werden. Den „Einstellungen“ kommt dabei die Funktion der Wahrnehmungsorientierung zu, und sie haben Systemcharakter. Zu größeren Veränderungen im Wirklichkeitsmodell kommt es nur dann, wenn sich auch zentrale Einstellungen, die als subjektiv wichtig empfunden werden, zu ändern beginnen. In diesem Zusammenhang ist von entscheidender Bedeutung, dass nicht nur „Einstellungen“, sondern auch konkrete Umstände das Handeln der Menschen beeinflussen und prägen. Zwischen „Einstellungen“ und nachfolgendem Verhalten besteht zudem keine deterministische (mechanische) Beziehung, weshalb keine vorschnellen Rückschlüsse von Verhaltensweisen auf das Wirklichkeitsmodell und auf Folgerungen von Ideen zu Handlungen gezogen werden sollten. Auf diese komplexe Beziehungsgeflecht wurde in der neueren Forschung ausdrücklich hingewiesen, wobei man sich vor allem mit der Erklärung des Verhaltens von Hexenverfolgungen und Hexenprozessen in England beschäftig hat. Diesbezüglich wurde betont, dass eine Analyse des Wirklichkeitsmodells des Individuums ohne Bezug auf die Erfahrungen mit der Umwelt als unzureichend einzustufen sind.86

Diese hier aufgezeigten und kommentierten neuen Richtungen und Tendenzen in der Geschichtswissenschaft sollten auch von der genuin spezifischen masonischen Forschung stärker berücksichtigt werden, um einen wissenschaftlichen Standard sichern zu können. Sehr häufig sind masonische Forschungen im engeren Sinne Vereinsgeschichten oder Biographien, die zwar für einzelne Logen-Chroniken und Entwicklungsgeschichten Fakten enthalten, aber nur durch eine enge Kooperation mit der profanen Freimaurerforschung an Qualität und Wissenschaftlichkeit gewinnen.

Obwohl die neuere profane Freimaurerforschung auf eine beachtliche Leistung zurückblicken kann, sind heute noch zahlreiche Forschungslücken zu schließen. Dabei müsste sie sich vor allem auf folgende Themen und Aufgabenbereiche konzentrieren: Herkunft und Aufstieg der Freimaurerei, Klärung der verschiedenen Traditionen, Richtungen und Obedienzen, die Herausarbeitung der geistigen, sozialen und politischen Einflüsse der Bruderkette, die Wurzeln und die Entstehung der Hochgrade, die Bedeutung der Aufklärung, des Rationalismus und der Vernunft und deren Verhältnisse zu Mystik, Esoterik und Hermetik, die stärkere Differenzierung zwischen regulärer Freimaurerei und der para- und pseudomaurerischen Geheimbünden und die Klärung des Verhältnisses zwischen Freimaurerei und Religion, Kirche und Kultur. Es fehlen auch nach wie vor fundierte Studien zur Sozialgeschichte der Freimaurerei, zur Geschichte der freimaurerischen Historiographie und zu den bedeutsamen Freimaurerforschern.87 In methodischer Hinsicht sollte die künftige Freimaurerforschung – wie bereits betont – noch viel stärker als bisher interdisziplinäre und multiperspektivische Ansätze, neue Methoden und theoretische Überlegungen berücksichtigen. In diesem Zusammenhang ist allerdings darauf hinzuweisen, dass sich Freimaurerei und Geheimgesellschaften nicht immer mit zweckrationalen Erklärungsmustern erfassen und interpretieren lassen. Trotzdem darf die freimaurerische Geschichtsforschung den wichtigen erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt der Rationalität und der Vernunft nicht vernachlässigen. Da die Freimaurerei ein weltweites Phänomen darstellt, müsste die Forschung bei der Klärung ihres Stellenwertes und ihrer Bedeutung im politischen, sozioökonomischen, wirtschaftlichen und kulturellen-geistigen Entwicklungsprozess der Neuzeit und Gegenwart internationale Formen der Kooperation finden, zumal nur auf einer internationalen Ebene neben regionalen, ideologischen und institutionellen Unterschieden auch übernationale Gemeinsamkeiten aufgezeigt werden können. Dies trifft auch für die engere Erforschung der österreichischen Freimaurerei zu.

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1 Vgl. dazu H. Reinalter, Zur Aufgabenstellung der gegenwärtigen Freimaurerforschung, in: Freimaurer und Geheimbünde im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa, hg. von H. Reinalter, Frankfurt/M. 1983, S. 9 ff.; ders., Schwerpunkte und Tendenzen der freimaurerischen Historiographie, in: Tijdschrift voor de Studie van de Verlichtung en van het vrije Denken 3–4 (1984), S. 273 ff.; ders., Was ist Freimaurerei und masonische Forschung?, in: Aufklärung und Geheimgesellschaften, hg. von H. Reinalter, München 1989, S. 1 ff.; ders., Neue Tendenzen in der Geschichtsschreibung und ihre Bedeutung für die freimaurerische Historiographie, in: Freimaurerische Historiographie im 19. Und 20. Jahrhundert, hg. von H. Reinalter, Bayreuth 1996, S. 11 ff.; ders., Freimaurerische Forschung heute, in: Zeitschrift für Internationale Freimaurer-Forschung 1 (1999), S. 9 ff.; ders., Freimaurerische Forschungsperspektiven in Europa, in: Zeitschrift für Internationale Freimaurer-Forschung 29 (2013), S. 39 ff.; ders., Freimaurerische Forschungsperspektiven in Europa, in: Deutsche und österreichische Freimaurerforscher, hg. von H. Reinalter, Innsbruck 2016, S. 9 ff. (auch für das Folgende)