Systemtheorie III: Steuerungstheorie

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Dass die systemische Interaktion korporativer Akteure zum Normalfall gesellschaftlich relevanter Kommunikationen geworden ist, bedeutet allerdings nicht, dass die beteiligten Organisationen sich automatisch an einem übergeordneten Systeminteresse, etwa am öffentlichen Interesse oder am Gemeinwohl orientieren. Vielmehr ergibt sich, wie Renate Mayntz betont (1993, S. 52), eine

Mehrebenenstruktur

 der Kommunikation, in welcher mehr oder weniger bornierte Partialinteressen und aufgeklärte, reflexive (und in diesem Sinne gemeinwohlorientierte) Interessen durcheinanderlaufen. Häufig kommt es in Großorganisationen, seien dies Unternehmen, Gewerkschaften oder Parteien, zu einem Konflikt zwischen eng und kurzfristig definierten Maximierungsinteressen einerseits und stärker fachlich und professionell orientierten mittelfristigen Optimierungsinteressen andererseits. Letztere ermöglichen eher Koalitionsbildungen, Verhandlungen, Kooperationen, Allianzen etc. Sie sind deshalb steuerungstheoretisch und -praktisch besonders interessant.



Ein dritter zentraler Aspekt des Steuerungsmodells der aktiven Gesellschaft ist die Fähigkeit zur

Selbsttransformation

 sozialer Systeme, die über Homöostase und Ultrastabilität hinausgeht, indem sie Selbstthematisierung und Selbstbeschreibung (ausführlicher zu diesen Begriffen Systemtheorie I, Kap. 5.1) einschließt.



»A societal unit has

transformability

 if it also is able to set – in response to external challenges, in anticipation of them, or as a result of internal developments – a new self-image which includes a new kind and level of homeostasis and ultra-stability, and is able to change its parts and their combination as well as its boundaries to create a new unit. This is … an ability to design and move toward a

new

 system

even if the old one has not become unstable

.« (Etzioni 1971, S. 121, Hervorhebungen im Text).



Etzioni sieht klar, dass die Fähigkeit zur Selbsttransformation mehr voraussetzt als bloße Anpassung an Umweltbedingungen oder -veränderungen. Die Ausbildung einer alternativen systemischen Identität ist ein

intern

 ausgelöster Prozess, der auf

interne

 Bedingungen des Systems antwortet. Also muss die betreffende soziale Einheit in der Lage sein, als System ihre internen Bedingungen zur Kenntnis zu nehmen und mit Blick auf alternative Realitäten Veränderungsprozesse abzuwägen und in Gang zu setzen.



Auf der anderen Seite verändert die Fähigkeit sozialer Systeme zur Selbsttransformation grundlegend die Bedingungen, unter denen das politische System einer Gesellschaft arbeitet. Denn Selbsttransformation setzt die operative Autonomie des Systems voraus. Systemtheoretische Überlegungen haben sehr viel genauer spezifiziert, was unter operativer Autonomie eines Sozialsystems zu verstehen ist. Ein System erreicht

Autonomie

, wenn es auf der Grundlage einer selbstreferenziellen Operationsweise sich selbst steuert und spezifische, durch seinen Kommunikationscode und seinen Operationsmodus vorgezeichnete Umweltbeziehungen unterhält. Es ist dann autonom in dem Sinne, dass es nach Maßgabe seines eigenen Codes operiert und in dieser Tiefenstruktur seiner Selbststeuerung von seiner Umwelt unabhängig ist (siehe Systemtheorie I, Kap. 3 und Systemtheorie II,

Kap. 4.1

).



Für hochdifferenzierte, komplexe Gesellschaften ist festzuhalten, dass Teilsysteme wie Politik, Ökonomie, Wissenschaft, Erziehung, Gesundheitswesen, Unterhaltungs- und Pop-Kultur, Recht, Sport etc. jeweils inzwischen hochkomplexe, selbstreferenzielle Systeme geworden sind. Ihre Operationsweise als soziale Systeme, d. h. die Strukturregeln und -muster der in ihnen ablaufenden Kommunikationen, richtet sich

primär

 an internen Konditionalitäten aus und erst darauf aufbauend und nachrangig an externen Bedingungen. Die Operationsweise eines spezialisierten Systems gehorcht in erster Linie der Logik dieses Systems selbst; es kommt zu einer zirkulären Vernetzung seiner Operationen, zu einer »basalen Zirkularität« (Maturana), nach welcher das System auf sich selbst reagiert, sich selbst Probleme schafft und nur nach Maßgabe der Logik seiner Selbststeuerung aus externen »Ereignissen« Informationen ableiten kann. So reagiert etwa das ökonomische System sensibel auf Schwankungen der Geldmenge oder der Inflationsrate, nicht aber auf eine Millionenzahl von Arbeitslosen, weil Letztere kein relevantes wirtschaftliches Datum darstellen. So reagiert das politische System sehr genau auf spezifisch politische Daten wie etwa Wahltermine, Wählerwanderungen oder neue korporative Akteure, aber nur sehr träge auf »objektiv« drängende Problemlagen wie etwa Überrüstung, Umweltzerstörung oder technologische »Restrisiken«, da diese nicht unmittelbar politische Relevanzkriterien ansprechen.



Entgegen dieser zu beobachtenden Selbstreferenz und Selbstbeschränkung funktional spezialisierter Teilsysteme gehen gegenwärtige Theorien des Staates, des Rechts und der Politik immer noch von einem expansiven Politikverständnis aus. Dieses weist der Politik die hierarchische Spitze und mithin den Steuerungsprimat in der Gesellschaft zu. Die Politik als Teil ist für das Ganze der Gesellschaft verantwortlich und soll deshalb in der Lage sein, gesellschaftliche Teilbereiche in direktem Zugriff zu steuern. Eine entsprechende Auffassung des gegenwärtigen Wohlfahrts- und Interventionsstaates betont aus diesem Grund die Fähigkeit von Staat und Recht, von außen her innerhalb der jeweiligen Bereiche bestimmte Wirkungen zu erzielen.



Nimmt man dagegen den Primat funktional differenzierter Teilsysteme in modernen Gesellschaften ernst und interpretiert ihn in diesem Sinne als die Ausbildung selbstreferenzieller Funktionssysteme für Teilaspekte des gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhangs, dann lassen sich mit einer präziseren Fassung der Voraussetzungen und Folgen funktionaler Differenzierung und operativer Autonomie auch die Idee der aktiven Gesellschaft und ihr Steuerungsproblem präzisieren.



Wenn Veränderungen, Reformen, Strukturwandel etc. in erster Linie

innere Angelegenheiten

 der autonomen korporativen Systeme sind, dann gewinnen diese mit ihrer operativen Autonomie den Handlungs- und Entscheidungsspielraum,

der diese verteilten, dezentralen und differenzierten Sozialsysteme innerhalb einer Gesellschaft zu aktiv handelnden Akteuren macht

. Im Anschluss an Etzioni lässt sich deshalb formulieren, dass eine aktive Gesellschaft in dem Sinne und in dem Maße aktiv ist, als ihre verteilten korporativen Systeme zu eigener kollektiver Handlungs- und Selbststeuerungsfähigkeit gelangen. Daraus folgt eine Form der aktiven Gesellschaft, die nicht durch ein konsensgeleitetes, einheitliches »gesamtgesellschaftliches« Aktivitätsniveau gekennzeichnet ist, sondern durch eine Vielzahl konkurrierender und divergierender, zunächst und grundsätzlich in

Dissens

 zueinander operierender Sozialsysteme, die aber – darauf kommt es hier an – je für sich das Niveau eines aktiven gesellschaftlichen Teilsystems erreicht haben. Diese Form der Gesellschaft ist aktiv im Sinne eines eigendynamischen, nicht trivialen und selbsttransformierenden Systems, aber sie erreicht dieses Niveau einer »self-triggered transformability« als Folge einer ungesteuerten Kombination aktiver Teilsysteme.



Die Fähigkeit großer Organisationen und korporativer Akteure zur Selbsttransformation beruht zwar auf einer Eigenkomplexität, die zu Selbstreferenzialität, zu Selbstthematisierung und operativer Geschlossenheit und mithin zu hohen Graden der Indifferenz und Unbeeinflussbarkeit dieser Systeme führt. Aber das heißt nicht, dass sie sich nicht verändern könnten. Was ihnen an direkter Zugänglichkeit für externe Interventionen abgeht, gewinnen sie an Sensibilität gegenüber internen Zuständen und Ereignissen. Dies kann so weit gehen, dass Systeme sich entlang der Richtschnur intern imaginierter Leitbilder verändern. Die Fähigkeit zur Selbsttransformation verweist auf die Rolle von Selbstbildern (»self-image«), Leitbildern und Visionen für die Selbstorganisation und Selbststeuerung von Systemen. Auch in dieser Hinsicht nimmt Etzioni eine Idee vorweg, die erst gegenwärtig wieder hoffähig wird: die Wiederentdeckung von Ideen, Werten und Visionen als Kriterien der Systementwicklung (siehe z. B. Majone 1993).



Die Fähigkeit der politischen Systeme entwickelter Demokratien zur Selbsttransformation ist wesentlich, weil die Politik (als Bestandteil einer verteilten, polyzentrischen Form von Gesellschaft) vor historisch neuartigen Schwierigkeiten der Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Steuerungsfunktion steht – der Produktion und Durchsetzung kollektiv verbindlicher Entscheidungen. Die erprobten Mittel direkter Intervention und extern verfügter Veränderung, nämlich Macht und Geld, genügen angesichts der Komplexität, Undurchdringlichkeit und Innen-Orientierung korporativer Systeme nicht mehr (Näheres dazu in Kapitel 5 und 6). Damit haben diese Mittel nicht ausgedient; für die Masse der Routineprobleme und Alltagsinterventionen in überschaubaren und individualisierbaren Problemlagen sind sie auf der Höhe ihrer Zeit und inzwischen gewissermaßen perfektioniert. Aber mit Blick auf die qualitativ neuartigen Problemlagen von atomaren, biologischen und chemischen Gefährdungen, Umweltzerstörung, Massenarbeitslosigkeit, sozialem Elend, Drogenkonsum, organisierter Kriminalität, Finanzkrise, öffentliche Verschuldung etc. muten die herkömmlichen Mittel des Staates für regulative Politik an wie die Tomahawks der Indianer gegenüber den Winchester-Gewehren der Siedler.



Wichtiger ist als eine Revision der Mittel der Politik ist zunächst eine Revision der Form der Demokratie als gesellschaftliches Steuerungsmodell. Grob vereinfacht lässt sich sagen, dass die Form des Wohlfahrtsstaates sich an der Herausforderung entfaltet hat, die individuellen Leiden an den Kosten der Modernisierung zu lindern. Ein weitergehender Anspruch gesellschaftlicher Steuerung kommt zu seiner Form, wenn die Politik sich der Herausforderung stellt, die

kollektiven Leiden

 an den negativen Externalitäten der Arbeitsweise der aktiven Gesellschaft auf ein systemverträgliches Maß zu bringen. Die gravierendste Veränderung sowohl in der Form der aktiven Gesellschaft wie in der korrespondierenden Form aktiver Gesellschaftssteuerung sehe ich in der gegenüber früheren gesellschaftsgeschichtlichen Formationen einschneidend gestiegenen Bedeutung von

Wissen

. Die gesellschaftliche Produktion, Allokation, Dislozierung und Verwendung von Wissen ist zum Angelpunkt der Ausbildung der aktiven Gesellschaft geworden: »Processes long considered largely the domain of economic and coercive factors are increasingly influenced by the allocation, withholding, and management of knowledge« (Etzioni 1971, S. 134). Sie werden auch zum Angelpunkt der Antwort auf die Frage werden, ob es gelingt, eine dem Entwicklungsstand der Gesellschaft entsprechende Form aktiver Steuerung zu schaffen.

 



In Etzionis Theorie der aktiven Gesellschaft hat die Frage des Umgangs mit kollektivem Wissen als zentraler Ressource sozietaler Steuerung konstitutive Bedeutung. In der Anerkennung der formenden Rolle kollektiven Wissens kann er sich zwar auf wichtige Arbeiten der Wissenssoziologie berufen, doch bringt er insofern einen neuen Aspekt ins Spiel, als er in gesellschaftstheoretischer Absicht Wissen neben Macht und Geld als eigenständigen, in seiner Steuerungswirkung zumindest ebenbürtigen Faktor der säkularen Konstruktion gesellschaftlicher Realität ernst nimmt. Der erste Schritt hierzu ist ein Verständnis der Bedeutung des

kollektiven

 Wissens gegenüber dem gewöhnlich im Vordergrund stehenden individuellen Wissen. Das in den gesellschaftlichen Operationsmodus eingegrabene und institutionalisierte Wissen, von Konventionen, Regelsystemen, der Sprache über spezialisierte Steuerungsmedien bis hin zu den identitätsstiftenden Symbolen und geschichtlich gewordenen Selbstverständnissen, ist in eigensinniger Weise unabhängig von individuellen Wissensbeständen. Es unterliegt autonomen Entwicklungsbedingungen und Dynamiken und zeigt deshalb sozietale Wirkungen, die von den Wirkungen individuellen Wissens grundverschieden sind. Dies werde ich in Kapitel 7 ausführen. Festzuhalten ist hier, dass Existenz und Relevanz kollektiven Wissens mit hinreichender Plausibilität zeigen, dass eine auf Individualmerkmale und individuelle Eigenschaften reduzierte Beobachtung nicht nur nicht ausreicht, sondern sogar irreführend ist. Ihr entgehen diejenigen Momente von Gesellschaft, welche diese als emergente Ebene der Systembildung über die bloße Aggregation von Individuen hinaus zu einer eigenständigen »sozialen Tatsache« machen.



So kommt es z. B. für das Aktivitätsniveau und den Grad der Reflexionsfähigkeit sowohl von Gesellschaften wie von Organisation nicht nur auf die Wissensbestände und das Lernverhalten ihrer Mitglieder an. Zumindest ebenso bedeutsam sind die in »standing operation procedures« und unpersönlichen Satzungen und Regelwerken eingelassenen Definitionen von systemischen und systemisch relevanten Erwartungen, die das Handeln der Mitglieder steuern. Steuernd wirkt dabei die organisierte Selektivität der in den spezifischen Regelsystemen stabilisierten Erwartungsmuster, die bestimmte Anschlüsse fördern und andere erschweren und den Fortgang der Operationen so in eine eigensinnige Ordnung bringen. Regelstrukturen, Sprachspiele und semantische Ordnungen sind es auch, die festlegen, wie soziale Systeme mit ihrem kollektiven Wissen umgehen, es erarbeiten, aufbereiten, einsetzen und auch, wie dieses Wissen revidiert und veränderten Umweltbedingungen und -restriktionen angepasst wird. Die Folge ist z. B., dass es innovative und regredierende, risikobereite und risikoscheue, verknöcherte und responsive Sozialsysteme gibt und dass die Differenz in hohem Maße durch die Art der systemisch organisierten Informations- und Wissensverarbeitung bestimmt ist (siehe dazu Systemtheorie II, Kap. 4).



In der folgenden Tabelle fasse ich die hier hervorgehobenen vier Punkte der Konzeption Etzionis zusammen und beziehe sie einerseits auf die generelle Problemstellung einer Theorie aktiver Gesellschaften, auf welche sie antworten, und andererseits auf die spezifischen Steuerungsprobleme komplexer Sozialsysteme, die uns hier auch weiter beschäftigen werden.



Mit der Betonung

gesellschaftlicher

 Steuerungskonzeptionen (Lindblom, Etzioni) und der Vereinnahmung von

Demokratie

 als Form der Selbstorganisation komplexer Sozialsysteme habe ich eine – insbesondere von der Ökonomik gepflegte – Tradition überspielt, nach der als Hauptformen der Lösung komplexer Koordinationsaufgaben gewöhnlich nicht Demokratie und Hierarchie kontrastiert werden, sondern Markt und Hierarchie. Für die Wirtschaftswissenschaften mag dies sinnvoll sein, auch wenn Demokratie als Koordinationsmodell dabei herausfällt; für eine gesellschaftstheoretisch orientierte Soziologie ist diese Verkürzung des Interesses von der umfassenderen Form der Demokratie auf den Markt nicht nur widersinnig, sondern auch irreführend. Auf der anderen Seite muss sich allerdings auch eine soziologische Analyse der Steuerungsproblematik mit der Existenz des Marktes als Koordinationsmechanismus auseinandersetzen. Ich werde deshalb in einem Exkurs das Verhältnis von Demokratie- und Marktmodell unter Steuerungsgesichtspunkten beleuchten.



Tabelle 1.1:

 Die Konzeption Etzionis




Theorieproblem

Steuerungsproblem

Antwort Etzionis

trans-individuelle Handlungsebene

Mechanismen der Bildung kollektiver Identität

»collectivity« als eigenständige Systemebene

trans-individuelle Zurechnung von Kommmunikationen

organisierte Verantwortung

systemische Interaktion (»representational interaction«)

Wandel

Wandel trotz operativer Schließung

Selbsttransformation

Generalisierung und Speicherung individueller Erfahrung

Formung und Revision der systemischen Wissensbasis

kollektives Wissen



2.1 Exkurs zum Markt als Steuerungsform



Soziologisch gesehen ist der »moderne« Markt ein abgeleitetes Phänomen. Der auf der Kunstfigur des »Homo oeconomicus« aufbauende Markt, in dem isolierte Individuen nach rationalen Kalkülen private Güter tauschen, setzt die Transformation der traditionalen Gemeinschaft zur modernen, funktional differenzierten Gesellschaft voraus, als Bedingung der Befreiung des ökonomischen Kalküls von den Bindungen der Familie, der Freundschaft, der Moral, der Religion oder der Herrschaft. An die Stelle dieser traditionalen treten allerdings andere Bindungen, die überhaupt erst die Stabilität des Marktes garantieren. Es sind dies Durkheims berühmte »nicht kontraktuellen Teile des Kontrakts«, also die institutionellen Rahmenregelungen, welche erst den Freiraum für eine so unwahrscheinliche Konstruktion wie die des freien Marktes schaffen: im Kern eine moderne freiheitliche politische Ordnung und ein diese Freiheiten prozessual abstützendes modernes Rechtssystem. Besonders deutlich hat Mark Granovetter (1992) herausgearbeitet, dass auch noch moderne Märkte in diesem Sinne in die Institutionen der sie tragenden Gesellschaften eingebettet sind.



Sogar Ökonomen würden vermutlich zugeben, dass ein preisgesteuerter Markt nicht ohne eine Fülle von Rahmenregelungen funktionieren kann. Diese müssen kollektiv verbindlich gelten, können also in einer modernen Gesellschaft nur von der Politik bereitgestellt werden: Rechtssicherheit, Vertragsfreiheit, Eigentumsrechte, Rechtsdurchsetzungsgarantien, Selbstbeschränkung politischer Macht etc.

Innerhalb

 dieser Einbettung erweisen Märkte ihre besondere Leistungsfähigkeit darin, unter der (keineswegs selbstverständlichen) Voraussetzung des freien Marktzugangs und des freien Austritts, über den Preismechanismus eine extrem schnelle und extrem kostengünstige Koordination zwischen Angeboten und Nachfragen zu bewerkstelligen.



Schnell ist die Koordination, weil sie einerseits in »Echtzeit« erfolgt: Anbieter und Nachfrager müssen im Prinzip nicht mehr lange über den angemessenen Preis verhandeln, sondern können auf kontinuierliche, mitlaufende Beobachtungen des Marktgeschehens zurückgreifen und daraus »auf der Stelle« den situativ angemessenen Preis errechnen; in den meisten Fällen ist sogar nicht einmal dies erforderlich, weil kontinuierlich angepasste Marktpreise feststehen, also überhaupt nicht mehr verhandelt werden. Zum anderen ist die Koordination wegen des kurzfristig organisierten Transaktionsgeschehens schnell: Idealtypisch gelten die Bedingungen der je gegebenen Situation, die Zukunft wird ausgeklammert oder diskontiert. (Dies lässt sich gut mit Vertragstypen vergleichen, bei denen die Zukunft eine bedeutende Rolle spielt, etwa Arbeits- oder Eheverträge).



Dass der moderne Markt anders als frühere Formen wie Palavern, Ringtausch oder Basaren, massive Zeitersparnisse und Tempovorteile ermöglicht, ist unbestritten. Schwieriger ist die Frage der Kostengünstigkeit. Zwar zweifelt kaum jemand daran, dass moderne Warenmärkte eine besonders kosteneffiziente Form der Koordination von Angebot und Nachfrage darstellen – sonst hätte sich diese Form nicht weltweit durchgesetzt und auch noch die machtgestütze Konkurrenz zentral verwalteter sozialistischer Quasi-Märkte aus dem Rennen geworfen. Auch stellt wohl niemand in Frage, dass es für »einfache« Güter und »einfache« Beziehungen zwischen Anbieter und Nachfragern keine effizientere Form als die des modernen Marktes gibt.



Die Zweifel an der Kostengünstigkeit des Marktes beginnen dort, wo ökonomische Transaktionen den Rahmen einfacher, freier, kurzfristiger, direkter und insofern für alle Beteiligten gut überschaubarer Beziehungen zwischen Anbietern und Nachfragern sprengen. Der Markt selbst war eine geniale Erfindung zur Reduktion der Komplexität sozialer Austauschbeziehungen auf »rational choice«. Aber offensichtlich lässt die gesellschaftliche Evolution einen solchen, durch Reduktion eroberten Freiraum nicht lange unbesetzt. Er dient nur als Treibhaus für den Aufbau neuer Komplexität. Je stärker Marktbeziehungen nun ihrerseits dem Moloch

Komplexität

 wieder anheimfallen, je komplexer sich die Produkte, Produktionsformen, Austauschbeziehungen, Zeithorizonte und Kosten-Nutzen-Kalküle von Anbietern und Nachfragern darstellen, desto problematischer wird die Annahme, dass der Markt kostengünstig ist, weil er praktisch ohne Transaktionskosten (ohne Verzögerung und ohne besondere Koordinationsanstrengung) funktioniert. »Invisible time« und »Invisible hand« als konstituierende Merkmale des idealen Marktes konnten gegenüber der Herausforderung durch Komplexität nicht bestehen.



Aufschlussreich ist, dass die klarste Formulierung dieser Zweifel nicht im Rahmen einer Theorie des Marktes entwickelt wurde, sondern im Rahmen einer Theorie der Firma. 1937 veröffentlichte Ronald Coase einen inzwischen klassischen Artikel über ebendiese »Theorie der Firma« (1937). Ausgangspunkt dafür war Ronald Coases Verwunderung darüber, dass offenbar nicht der Markt die alleinige Koordinationsinstanz für ökonomische Transaktionen ist (wie es die Theorie des Marktes vorsieht), sondern dass

Firmen

 einen wichtigen Teil der notwendigen Koordination übernehmen. In einer von Märkten gesteuerten Ökonomie könnten diese nicht überleben, würden sie die von ihnen übernommenen Koordinationsaufgaben nicht effizienter verrichten als der Markt selbst: »Coase identified transaction-cost economizing as a primary reason for the existence of the firm (as an alternative to the

ad hoc

 purchasing of services within a market)« (Cyert und March 1992, S. 219). Diese Beobachtung führte zu Coases zentraler Idee: Er schlug vor, Märkte und Firmen als

alternative Modelle der Koordination ökonomischer Transaktionen

 zu verstehen und sie unter dem Gesichtspunkt ihrer Transaktions-Kosteneffizienz zu vergleichen. Transaktionskosten, so hat Douglas North (1990, S. 362) kompakt formuliert, sind die Kosten für die Schließung und Sicherung von Verträgen.



Über den engeren wirtschaftswissenschaftlichen Kontext hinaus ist Coases Theorem höchst brisant. Denn es postuliert gegenüber dem liberalistischen Dogma moderner Gesellschaften, das auf pluralistische und dezentrale Selbstorganisation in demokratischen und marktförmigen Strukturen setzt, eine in manchen Hinsichten überlegene Koordinationsleistung

hierarchischer Strukturen

. Zwar spezifiziert Coase diese Hinsichten nicht, weil er Begriff und Inhalt von Transaktionskosten nicht operationalisiert; aber dies macht sein Argument noch massiver, weil es so verstanden werden kann, dass für alle nicht trivialen, komplexen Transaktionen Hierarchie die bessere (d. h. kostengünstigere) Wahl sei.

 



Wie wir in Kapitel 3 sehen werden, stimmt Coases Theorem nahtlos mit Max Webers Idee der überlegenen Rationalität formal bürokratischer Steuerungsformen überein. Erstaunlicherweise wird auf diesen Zusammenhang bis heute kaum hingewiesen. Allerdings benötigten sogar die Wirtschaftswissenschaften über 35 Jahre, bis sie die Bedeutung der Ideen von Coase erkannten. Vor allem Oliver Williamson (1975; 1985; 1991) entdeckte zu Beginn der 1970er-Jahre Coase wieder und arbeitet seitdem am Ausbau und an der Operationalisierung einer Theorie der Transaktionen, Transaktionskosten und der Systeme der Koordination von Transaktionen. Für unseren Zusammenhang sind Coase und Williamson bedeutsam, weil sie direkt auf einen Vergleich der Koordinationsleistungen von Markt und Hierarchie zielen. Sollte sich herausstellen, dass für komplexe Transaktions- und Interaktionsbeziehungen mit hohen Transaktionskosten Hierarchie tatsächlich das überlegene Steuerungsmodell ist, dann hätte das Modell demokratischer Selbststeuerung im Kontext komplexer, wissensabhängiger Problemlagen schlechte Karten.



Wohlgemerkt sprechen sowohl Coase wie auch Williamson nicht von Demokratie, sondern vom Markt als Gegenmodell zur Hierarchie. Aber das ist die übliche Einseitigkeit von Ökonomen – und wohl auch die berechtigte Angst davor, mit der Bevorzugung von Hierarchie Demokratie als Modell zu diskreditieren. Für eine soziologische und insbesondere für eine steuerungstheoretische Betrachtungsweise allerdings ist demokratisches Pathos wertlos, wenn sich nicht genauer begründen lässt, warum und in welchen Hinsichten Demokratie als Steuerungsmodell komplexer Gesellschaften vorzuziehen ist. Im folgenden Abschnitt werde ich zeigen, dass es eine Reihe guter Gründe gibt, der überkommenen Idee von Demokratie als Steuerungsmodell kritisch zu begegnen. Aber auch am Modell hierarchischer Steuerung lässt sich grundlegende Kritik üben – sogar gerade im Kontext hochkomplexer Transaktions- und Interaktionsbeziehungen (siehe

Kapitel 3.1

). All dies führt dazu, gegenüber der Routine dogmatischer Rechtfertigungen gegenwärtiger Formen von Demokratie und Hierarchie konsequent und geduldig nach »dritten« Formen zu suchen, die der Herausforderung hoher organisierter sozialer Komplexität besser gewachsen sind.



Sicherlich unterscheiden sich Demokratie und Markt als Steuerungsmodelle für die Koordination komplexer sozialer Systeme. Vor allem, darauf hat mich Fritz Scharpf in einem hilfreichen Kommentar hingewiesen, geht es im Fall des Marktes um die individuelle Verfolgung individueller Zwecke, während Demokratie die individuelle Partizipation an kollektiven Entscheidungen über kollektive Ziele meint. Da mich hier Markt ebenso wie Demokratie vorrangig als Modi der Systemsteuerung interessieren, betone ich eher die Gemeinsamkeiten der Makroeffekte beider Steuerungsformen. Sie liegen in den

systemischen

 Effekten einer dezentralen, verteilten Koordination, die sich in beiden Fällen nicht in bloßer Aggregation erschöpft, sondern in einer Transformation der unterliegenden Rationalität – auch wenn sie sich in beiden Fällen »hinter dem Rücken der Akteure« vollzieht. Bei gutem Verlauf erzeugen beide Koordinationsformen aus der Interaktion rationaler Egoisten dann »public virtues« (genauer: nicht beabsichtigte Kollektivgüter), wenn erwartet werden kann, dass die Interaktionen sich kontinuierlich in eine absehbare Zukunft fortsetzen werden (Axelrod/Keohane 1985).



Gegenüber den durchaus vorhandenen und wichtigen Unterschieden zwischen den Formen Markt und Demokratie hebe ich also hier ihre grundlegenden Affinitäten hervor, ihre funktionalen und strukturellen Übereinstimmungen. Der Markt lässt sich als »demokratisches« Modell eines Güteraustausches (»eine Mark = eine Stimme«) verstehen, der von den Rücksichten auf Stand und Klasse, Moral und Religion, Familie und Freundschaft befreit und nach dem Prinzip »eine Person, eine Stimme« (bei der Bildung des Preises) organisiert ist. Demokratie kann als Markt für politische Herrschaft gelten, strukturiert nach dem Prinzip »eine Person eine Stimme« (bei der Bildung politischer Repräsentation). Auf diesem Markt konkurrieren »politische Unternehmer« um Anteile an der Übertragung öffentlicher Macht (Schumpeter). Tatsächlich hat die letztere Sichtweise zu einer weitverzweigten und in Teilen überzogenen »Ökonomischen Theorie der Demokratie« geführt.



Über diese Ähnlichkeit hinaus scheint mir die wichtigere Affinität von Demokratie und Markt darin zu bestehen, dass es homologe Formen der Koordination sind, die prinzipiell durch Selbstorganisation, Dezentralität, verteilte Intelligenz, weitgehende Autonomie der Teilsysteme, inkrementale Entscheidungsfindung, leichte Reversibilität der getroffenen Entscheidungen und insbesondere durch formale

Gleichheit

 der Entscheider /Nachfrager/ Konsumenten/Wähler gekennzeichnet sind. Charakterisiert sind beide Formen durch Kurzfristigkeit der Entscheidungslogik, Diffusität der Verantwortlichkeit, Anfälligkeit für Stimmungen, Moden, Trends und massenmediale Werbung und insbesondere eine immanente, schwer kontrollierbare Selbstgefährdung durch organisationale Verdichtung und Marktmachtbildung, die das konstituierende Prinzip des freien Wettbewerbs untergräbt.



In Kapitel 3 werden wir feststellen, dass demgegenüber Hierarchie spiegelbildlich auf die jeweils andere Seite der Medaille setzt, also auf Fremdorganisation, Zentralisierung, hierarchisierte Intelligenz, Beschränkung der Autonomie der Teile, Top-down-Planung als Form der Setzung von Entscheidungsprämissen, Blockierung der Reversibilität der Entscheidungen und insbesondere auf die formalisierte Ungleichheit der Mitglieder auf den unterschiedlichen Ebenen der Hierarchie. Entsprechend ist Hierarchie anfällig für ihr »internes« Gegenmodell der informalen Organisation, der Verwischung hierarchischer Grenzen und Stufen, der Aufweichung klarer Verantwortlichkeit in »organisierter Unverantwortung« (Beck) und der Chaotisierung durch Informationsüberflutung.



Spannend wird es erst bei der Frage der Mischformen von Demokratie und Hierarchie, etwa des Einbaus von internen Märkten in (hierarchische) Organisationen oder des Einbaus von kontextueller Steuerung in die Institutionen der Demokratie – also bei der Frage, ob die reinen Typen von Demokratie und Hierarchie, Markt und Organisation sich zu viablen »dritten« Formen der Steuerung hoher organisierter Komplexität fortentwickeln lassen. Ich werde in Kapitel 4 diesen Faden wieder aufnehmen.



Wie schon erwähnt, werde ich in den Kapiteln 5 bis 7 die steuerungstheoretische Bedeutung der Steuerungs- und Transaktionsmedien Macht, Geld und Wissen ausführlich erörtern. Zuvor aber sind mehrere Lücken zu füllen. In einem ersten Schritt möchte ich unterschiedliche Vorschläge für eine Revision des Steuerungsmodells demokratischer Gesellschaften auswerten. Danach präsentiere ich in Kapitel 3 Hierarchie als zweites zentrales Steuerungsmodell für komplexe Sozialsysteme. Auch hier schließt sich ein Abschnitt über die Frage der Revision des Hierarchiemodells an. In Kapitel 4 diskutiere ich im Rahmen des allgemeinen Problems der Koordination die Frage, ob Verhandlungssysteme die gesuchte dritte Form der Steuerung sein könnten.



2.2 Ideen zur Revision der Demokratie als Steuerungsmodell



Wir haben bereits gesehen, dass Lindbloms Vermutung nicht gerade bestätigt worden ist, die Demokratie könne sich zwischen der Skylla des Marktversagens und der Charybdis des Versagens eines autoritären, hierarchischen Staates fortentwickeln zu dem »präzeptoralen System« einer belehrten und lernenden Gesellschaft. Dennoch bleibt seine Idee wertvoll und aufschlussreich. Denn in dieser dritten Form kommt ein alter Traum politischer Erneuerung zum Ausdruck, der Rousseau ebenso bewegt hat wie John Stuart Mill, Hobbes ebenso wie Tocqueville Er wird immer dann besonders virulent, wenn sich einmal mehr gezeigt hat, dass weder Autorität noch Tausch, weder physischer Zwang noch materieller Anreiz genügen, um jene humane Qualität gesellschaftlicher Organisation zu erreichen, die reflektiert, dass sowohl Menschen wie soziale Systeme ihre Kommunikationen auf

Expertise und Unterscheidungsvermögen

 aufbauen und insofern wissensbasiert operieren. Wie