Systemtheorie III: Steuerungstheorie

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Bereits die traditionellen Antworten auf diese Frage spiegeln die notwendige Paradoxie jeder Erziehung, die zuerst darin begründet lag, dass der Erzieher, und sei er Gott, auf der Freiheit zur Perfektion bestehen musste, ohne diesen Zwang zur Freiheit präzeptoral begründen zu können. Heute wird die Paradoxie präzeptoraler Absichten dadurch verschärft, dass auch der Zögling um dieses Dilemma jeder Erziehung wissen kann und deshalb auch Selbstveränderung nur noch Einsicht in die Notwendigkeit operationalisiert. Solange es nur um die Verhältnisse zwischen Personen ging, um Lehrer und Schüler, Aufklärer und Unwissende, Herrscher und Beherrschte, Freie und zu Befreiende, ließ sich die doppelte Paradoxie jeder Erziehung[39] im Wohlgefallen eines Fortschritts zur Mündigkeit auflösen. Aber mit der Verdichtung sozialer Strukturen und gesellschaftlicher Organisiertheit wurde Erziehung bereits im 19. Jahrhundert mit Hegel und Marx zu einer sich selbst dementierenden Aufklärung über Fortschritt, die Theodor Adorno dann auf den Begriff der »negativen Dialektik« brachte. Jedenfalls im Bereich sozialer Relationen und Operationen war Fortschritt nicht mehr von den Kosten des Fortschritts zu trennen und der Weg gesellschaftlicher Selbstbewegung von der Dialektik als Aufklärung zur negativen Dialektik gestaltete sich sehr kurz.

Auch Lindblom gesteht ohne Umschweife zu, dass die Versuche der politisch organisierten gesellschaftlichen Erziehung der Massen in der UdSSR, in China oder Kuba nicht besonders erfolgreich waren. Die Perversion der gemeinten Überzeugungsarbeit scheint bei Lindblom deutlich auf, wenngleich er die zugrundeliegende Paradoxie nicht bemerkt:

»Für die UdSSR, Kuba und China gilt gleicherweise, dass die Schablone für den neuen Menschen aus Elementen sozialistischen Gedankenguts, George Orwells Roman ›1984‹ und der Wertewelt des viktorianischen Englands modelliert worden ist … Bei dieser neuen Persönlichkeit sind zwei Eigenschaften unabdingbar: ›Erziehung‹ versucht Menschen zu schaffen, die kollektiven Interessen ›autonom‹ dienen, d. h. die aus eigener Initiative das tun, was man ihnen in anderen Gesellschaften befehlen oder wozu man sie überreden müßte. ›Erziehung‹ hat außerdem Menschen zu schaffen, die sich für besondere Aufgaben dem Staat und der Partei freiwillig zur Verfügung stellen« (Lindblom 1980, S. 103).

Heute, über 30 Jahre später, wissen wir genauer, wie selbstzerstörerisch diese Versuche waren. Dennoch erledigt diese Einsicht nicht die Relevanz des präzeptoralen Modells politisch-ökonomischer Organisation moderner Gesellschaften. Denn auch liberale Demokratien haben der Versuchung präzeptoraler Lenkung der Freiheit nicht widerstanden. Sie sind aber aufgrund ihrer Offenheit der Paradoxie von Überredung stärker ausgesetzt und mussten und konnten deshalb diese Paradoxie besser verstecken, was Lindblom in einem erstaunlich gebauten Argument konstatiert und zugleich zur Stützung der »Normalität« präzeptoraler Systeme nutzt: »Wenn sich Herrschaft und Autorität im liberalen Verfassungsstaat des Westens hinter einer Rhetorik der Partizipation und Initiative verbergen, dann darf es nicht überraschen, sie auch in einer präzeptoralen Ideologie verschleiert zu finden« (Lindblom 1980, 112). Aber er geht einen Schritt weiter und hebt diejenigen Aspekte der präzeptoralen Gesellschaftssteuerung hervor, die heute und auch im Fall liberaler Demokratien besonderes Augenmerk verdienen: Zum einen sind das einige bemerkenswert humane Elemente der präzeptoralen Vision sozialer[40] Organisation, die etwa in dem berühmten Wort Maos ausgedrückt sind, wonach von allen Dingen in der Welt Menschen das Kostbarste sind. Als Vision vom erzogenen und schließlich mündigen Bürger ist diese Formel nicht zwingend weniger attraktiv und weniger human als die nach wie vor dominanten Formeln vom marktrationalen und machtrationalen Bürger. Sie spiegelt den in allen präzeptoralen Versuchen durchscheinenden Vorbehalt gegen zu hohe Spezialisierung, Einseitigkeit und gegen Kästchendenken und trifft sich darin einerseits mit aktuellen Entwicklungen in der Organisationsund Unternehmenssteuerung (ausführlicher dazu Systemtheorie II, Kapitel 4); und andererseits mit neueren Überlegungen zu den Folgekosten und Risiken hochgetriebener Spezialisierung und Differenzierung moderner Gesellschaften (dazu Willke 1993b; (Willke 2007a; Willke 2009).

Hier genau, im Bereich hochkomplexer liberaler Demokratien, könnte das Modell einer präzeptoralen Steuerung die Brisanz gewinnen, die es für unterentwickelte sozialistische Gesellschaften wie Kuba oder China längst verloren hat. Denn es ist kaum erkennbar, wie das Marktmodell gesellschaftlicher Selbstorganisation auf der einen Seite, das Machtmodell politischer Steuerung der Gesellschaft auf der anderen Seite ausreichen könnten, um die manifesten Funktions- und Steuerungsprobleme in den Griff zu bekommen, welche in wesentlichen Merkmalen auf eine wild gewordene Marktlogik einerseits, eine stumpf gewordene Machtlogik andererseits zurückgehen. Bei einer ganzen Reihe unzweifelhaft drängender, explosiver und risikoreicher Problemlagen wie etwa der gegenwärtig laufenden Zerstörung des tropischen Regenwalds und der schützenden Ozonschicht, aber auch bei Problemen wie dem der Abfallbeseitigung, des Raubbaus an endlichen Energieträgern, der Vergiftung von Boden, Wasser und Luft, des Drogenkonsums etc. verquicken sich zudem ökonomische Borniertheit und politische Machtlosigkeit, so dass es nicht viel Vorstellungsvermögen braucht, um zu erkennen, dass die Logiken des Marktes und der Macht allein für zu viele Problemlagen keine ausreichenden Lösungen in Aussicht stellen.

Tatsächlich spielt Lindbloms dritte Steuerungsform neben Macht und Markt gerade bei den genannten Problemen eine besondere Rolle. Die Bildung neuer individueller und kollektiver Verhaltensweisen ist einerseits unabdingbare Voraussetzung für nachhaltige Problemlösungsstrategien; andererseits wissen wir inzwischen aus Erfahrung, dass sich die erforderlichen Verhaltensänderungen weder befehlen noch kaufen lassen. Aufklärung und Erziehung sind deshalb notwendige zusätzliche Steuerungsformen, auch wenn längst nicht klar ist, wie dieses »people processing« wirksam gestaltet werden könnte, ohne die betroffenen Personen – und das sind in der Regel wir alle – zu Schulkindern zu degradieren. Die meisten staatlichen Aufklärungskampagnen sind eher abschreckende Beispiele. Andererseits gibt es[41] ermutigende Beispiele für erfolgreiche Lernprozesse in Teilbereichen des Umweltschutzes, der Abfallvermeidung, des Umgangs mit Aids, des Schutzes von Nichtrauchern etc. besonders dann, wenn die Kampagnen von privaten Organisationen und Betroffenengruppen getragen werden.

Vielleicht ist es der wichtigste Beitrag Lindbloms zum Projekt der Revision der Demokratie, dass er die beengende Alternative von Markt und Staat aufgebrochen und mit der Vision eines durch präzeptorale Elemente durchsetzten Systems angereichert hat. Nach vielen desillusionierenden Erfahrungen kann man heute wissen, dass alle bislang vorgeschlagenen »dritten Wege«, einschließlich Lindbloms präzeptoralem Regime, konzeptionell zu einfach angesetzt und gerade in weniger entwickelten Gesellschaften praktisch chancenlos waren. Eine Anreicherung der Demokratie setzt wohl eine bereits hochentwickelte Form von Demokratie voraus – eine Bedingung, die in China, Kuba oder Jugoslawien nicht gegeben war.

Theoretisch gesehen, ist selbst in hochentwickelten Demokratien ein Erfolg präzeptoraler Elemente unwahrscheinlich, weil die Schwierigkeiten der verändernden Intervention in komplexe personale oder soziale Systeme sehr viel grundsätzlicher sind, als bislang angenommen. Erst auf dem Hintergrund einer elaborierten Systemtheorie, Kommunikationstheorie, Theorie der Beobachtung und einer Interventionstheorie lässt sich begreifen, wie voraussetzungsvoll gelingende Intervention ist – und mithin, wie schwierig die kontrollierte Veränderung sozialer Systeme.

Auch Etzioni schlägt eine Weiterentwicklung des Steuerungsmodells moderner Gesellschaften vor, um über die Beschränkungen der gegenwärtigen Form von Demokratie hinaus zu gelangen. Nicht zufällig zielt sein Vorschlag in eine ähnliche Richtung wie der Lindblom’sche, auch wenn er ein anderes Begriffsinstrumentarium verwendet. Sein Ausgangspunkt ist die Unterscheidung zweier Arten von Ressourcen der Systemsteuerung, Konsens und Kontrolle. Konsens erzeugt die Art von Kohäsion und Zusammenhang, die eher passive Sozialsysteme des Typs Gruppe und Gemeinschaft kennzeichnen, während Kontrolle das Hauptmerkmal eher aktiver und zielorientierter Sozialsysteme wie Organisationen und staatlicher Einheiten ist. Allerdings, so Amitai Etzioni, verfügen alle konkreten Sozialsysteme über beide Momente in unterschiedlichen Gewichtungen, so dass ein bestimmtes System im Laufe seiner Entwicklung unterschiedliche Mischverhältnisse ausbilden und so auch unterschiedliche Identitäten annehmen kann:

»Societal units may be thus viewed in terms of a ›two-dimensional activeness space‹. They may be characterized as commanding varying degrees of controlling and consensus-forming capacities. Above all, it is important to note that there is no necessary contradiction between cohesive units[42] and control networks; both are important for increasing the societal capacity to act, and active units command both cohesive and control elements« (Etzioni 1971, S. 109).

Etzioni überträgt diese Grundidee auf ganze Gesellschaften und kommt, je nach Mischungsverhältnis von Konsens- und Kontrollkapazitäten, zu vier idealtypischen Ausprägungen von gesellschaftlichen Systemen der Selbststeuerung (siehe Tabelle 2.1).

»To start with an elementary classification derived from the basic components of societal guidance, four types of societies suggest themselves: (1) those low in both control and consensus-building, passive societies, a type approximated by many underdeveloped nations; (2) those whose control capacities are less deficient than their consensus-building mechanisms, overmanaged societies, a type approximated by totalitarian states; (3) those whose consensus-building is less deficient than their control capacities, drifting societies, a type approximated by capitalistic democratic societies; (4) and societies effective in both realms, active societies, a type which is a ›future system‹ or societal design« (Etzioni 1971, S. 466).

 

Bemerkenswert ist die Einordnung gegenwärtiger demokratischer Industriegesellschaften als dahintreibend. Diese frühe Diagnose Etzionis, die vor allem vom Bild der USA geprägt und auf diese bezogen war, ist auch heute keineswegs überholt. Alle westlichen Demokratien haben sich von ihren je gegenwärtigen Problemen treiben lassen und ihre Zuflucht in kurzfristigem Krisenmanagement gesucht. Wäre der Gewöhnungseffekt nicht so massiv, so müssten wir entsetzt sein über die Steuerungsleistung moderner Demokratien: Sie schieben ein Millionenheer von Arbeitslosen vor sich her und Schuldenberge, die jedes Vorstellungsvermögen übersteigen; sie vergeuden knappe Ressourcen, als gäbe es kein Morgen und vernachlässigen Zukunftsinvestitionen, als gäbe es keine nächsten Generationen. Sie lassen sich von der Rücksicht auf den nächsten Wahltermin beherrschen und missverstehen diese Borniertheit als Herrschaft des Volkes. Sie unterwerfen sich Technologien – Beispiele: Autoverkehr, Energieerzeugung oder das globale Schattenbankensystem –, die den Verwertungsinteressen privater Anleger entsprechen, ohne die sozialen Auswirkungen, Folgekosten, Risiken und mögliche Alternativen ernsthaft zu prüfen.

Tabelle 2.1: Steuerungstypen nach Etzioni


Kontrolle Konsensschwachstark
schwachpassivübersteuert
starkdahintreibendaktiv

[43]Die gesellschaftliche Steuerungsleistung politischer Demokratie ist bewundernswert, vergleicht man sie mit derjenigen anderer real existierender politischer Formen. Aber sie ist miserabel, sobald man sich von diesem bequemen Maßstab löst. Gemessen an ihren selbsterzeugten Problemen gleicht politische Demokratie mit fortschreitender Entwicklungsdynamik moderner Gesellschaften einem Kamikazeunternehmen. Solange es möglich war, alle internen Widersprüche politischer Demokratie mit Verweis auf abschreckende Alternativen (und äußere Bedrohung) zu überspielen, war auch die Legitimität des Projekts nahezu selbstverständlich. Aber diese Automatik hat sich mit der Implosion des Sozialismus und der Explosion der sozialen und ökologischen Probleme moderner Demokratien überlebt (Rosenau 1999). Entweder die Demokratie als Steuerungsmodell korrigiert ihren Kurs oder sie gerät in Gefahr abzustürzen.

Die von Etzioni vorgeschlagene Kurskorrektur geht denn auch genau in Richtung einer verbesserten Fähigkeit zu Selbststeuerung. Sie soll dadurch erreicht werden, dass gegenüber den (weniger defizienten) Mechanismen der Konsensbildung »von unten nach oben« verstärkt Instrumente und Netzwerke der Kontrolle und Steuerung »von oben nach unten« etabliert werden. Etzioni hält es für geboten, die Regierungsfähigkeit demokratischer Systeme zu verbessern, weil ansonsten die in repräsentativen systemischen Kommunikationen formulierten Programme, Projekte oder gar Visionen keine Chance auf eine Realisierung haben. Eine zu stark gewichtete Konsens-Komponente überflutet das System mit Ansprüchen, Anforderungen, partikularen Interessen, Einzelvorhaben, Gruppenegoismen etc., ohne dass komplementäre Möglichkeiten bereitstünden, die Anspruchsinflation durch eine Konfrontation mit den Restriktionen der Durchführung und der Systemverträglichkeit zu dämpfen – Restriktionen wie zum Beispiel Durchsetzungsprobleme, Kosten, Widersprüche zwischen Programmen, mittelfristige Folgen für soziale, sozietale und ökologische Zusammenhänge.

Selbstverständlich kann eine einfache Vier-Felder Schematik (Etzioni) oder ein Drei-Formen-Modell (Lindblom) nicht die Problematik und die Tragweite einer Revision des Demokratiemodells einfangen. Sie können aber vielversprechende Richtungen aufzeigen und eingefahrene Alternativen – wie die zwischen Markt und Staat, zwischen Konsens und Kontrolle – überwinden[44] helfen. Die wichtigste Leistung beider Modelle scheint mir deshalb darin zu bestehen, Visionen einer »besseren« Demokratie zu entwerfen. Beide Autoren haben ein feines Sensorium für die Steuerungsdefizite sowohl des Marktes als auch des Staates, sowohl der konsensorientierten als auch der kontrollorientierten Modellen der Organisation komplexer Sozialsysteme. Sie beide präsentieren elaborierte Konzeptionen eines dritten Weges, der die humanen und emanzipatorischen Errungenschaften der traditionellen Form von Demokratie bewahrt, zugleich aber ihre Steuerungskapazität verbessern soll. Ohne eine solche Weiterentwicklung, das ist ihre gemeinsame Botschaft, läuft auch das so erfolgreiche Demokratiemodell Gefahr, an der neuen Wirklichkeit hochkomplexer, interdependenter und eigendynamischer Sozialsysteme zu scheitern.

In neueren Arbeiten verdeutlichen beide Autoren, dass sie eine solche Gefahr als durchaus realistisch ansehen. Als Steuerungstheoretiker müssen sie sich mit der zutiefst paradoxen Erfahrung auseinandersetzen, dass nach einer gewissen Erschütterung der eingeschliffenen Regeln und Selbstverständlichkeiten in den westlichen Demokratien und einem gewissen Aufbruch der demokratischen Verhältnisse Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre in den dann folgenden 20 Jahren eine tiefgreifende Restauration formaler, repräsentativer, von den etablierten Parteien dominierter demokratischer Herrschaft stattfand. Für sich genommen, wäre dies wenig bemerkenswert: democracy as usual. Ihre Brisanz erhält diese Rückkehr zum Bewährten erst im Kontext einer gleichzeitig hereinbrechenden gesellschaftlichen Entwicklungsdynamik, welche in einem Schwung von »Postmodernisierung« das Gesicht moderner Gesellschaften verändert hat. Neue Technologien, neue Risiken, neue Wissensbestände und Wissensdefizite; Informatisierung, Digitalisierung und Vernetzung; Internationalisierung, Globalisierung und neue Regionalisierung; eine Ausweitung der wechselseitigen Abhängigkeiten und Unkalkulierbarkeiten, ein hitziger werdender Wettbewerb der (westlichen) ökonomischen, sozialpolitischen und technologischen Systeme bei gleichzeitiger intensiver Kooperation und transnationaler Verflechtung etc.; insgesamt eine dramatische Steigerung der Komplexität und Dynamik individueller, sozialer und gesellschaftlicher Kommunikationen in unterschiedlichsten Zeithorizonten und mit nicht mehr beherrschbaren kombinatorischen Folgen.

All dies überrollt die herkömmlichen Formen und Verfahren der Demokratie. Die Kluften zwischen Politikern und Experten, Repräsentanten und Betroffenen, nationalen Belangen und transnationalen Zwängen, Risikogebern und Risikonehmern, kurzfristigen und mittelfristigen Kalkülen, individuellen und kollektiven Rationalitäten etc. wachsen sich zu potenziellen Sprengsätzen eines Systems aus, von dem nicht mehr klar ist, was es im Innersten noch zusammenhält. Die Demokratie als Steuerungsform gerät[45] zwischen die Mühlsteine einer »postmodernen« Individualisierung einerseits (Welsch 1994, S. 20) und einer technologiegetriebenen Globalisierung andererseits – allerdings ohne dass dies den politischen Akteuren bislang besonders aufgefallen wäre (siehe dazu Willke 1993a).

Unter diesen Umständen ist es bemerkenswert, dass sowohl Etzioni wie auch Lindblom – wenn auch mit unterschiedlichen Gründen – in neueren Arbeiten von der Idee abrücken, gegenwärtige demokratische Gesellschaften wären kontrollierbar, planbar und in diesem Sinne steuerbar. Sie reagieren auf die angedeuteten Umwälzungen, indem sie aus ihren mehrdimensionalen Modellen demokratischer Steuerung das Element der auf Expertise gestützten Kontrolle und Belehrung nahezu gänzlich verschwinden lassen.

In einer resümierenden Arbeit über die Schwierigkeiten des Versuchs, Gesellschaften zu verstehen und zu formen, kontrastiert Lindblom (1990) nun die beiden Modelle einer wissenschaftlichen Gesellschaft (»scientific society«) und einer selbststeuernden Gesellschaft (»self-guiding society«). Er kritisiert alle Versuche einer »wissenschaftlichen« Gesellschaftssteuerung, von Platon über Saint-Simon und Marx bis zu modernen Systemanalytikern als illusorisch und irregeleitet, weil Vernunft Macht nicht ersetzen könne. Eine idealtypische Gegenüberstellung beider Modelle ergibt folgenden Befund:

»The one puts science, including social science, at center stage. In that model, social problem solving, social betterment, or guided social change (regarded as roughly synonymous) calls above all for scientific observation of human social behavior such that ideally humankind discovers the requisites of good people in a good society and, short of the ideal, uses the results of scientific observation to move in the right direction. Social science also of course studies and learns how to go where it has learned society ought to go. In contrast, the model of the self-guiding society brings lay probing of ordinary people and functionaries to center stage, though with a powerful supporting role played by science and social science adapted to the lay role in probing volitions. … The self-guiding society displays much less hostility to power; there, authorized power has a necessary and honorary contribution to make to problem solving, even if it often degenerates into playing politics« (Lindblom 1990, S. 214 u. 222).

Gegenüber seinen eigenen früheren Vorstellungen einer (auch) präzeptoralen Gesellschaftssteuerung gewinnt das Element der machtgestützten Durchsetzung der – hauptsächlich von den betroffenen Laien und nicht von fernen Experten – beschlossenen politischen Veränderungsvorhaben die Oberhand. Lindblom begründet dies vor allem mit der Erfahrung, dass eine ganze Reihe von Großproblemen im Kontext der gegebenen Institutionen, Prozesse und Routinen unlösbar geworden sind. Nicht, weil dafür keine vernünftigen, wissenschaftlich[46] fundierten Lösungsvorschläge vorlägen, sondern weil im Rahmen der geltenden demokratischen Entscheidungsprozesse niemand die für eine Problemlösung nötige Kosten tragen möchte und die nötige Mobilisierung leisten kann oder will. Probleme wie die Reform des Gefängnissystems, die Jugendkriminalität in Städten oder die Zerstörung der Umwelt sind theoretisch durchaus lösbar, aber es fehlt der politische Wille, sie zu lösen – und dieser politische Wille lässt sich nicht durch Expertise ersetzen:

»For such problems, all solutions remain closed off unless and until people experience sufficient distress to induce them to reconsider the institutions, social processes, or behavioral patterns up to that moment regarded as parameters. Expert opinion and social research on policies for such problems come to nothing in the absence of a reconsideration of volitions, nor can social scientists or experts of any other kind themselves accomplish the reconsideration. … If people do not feel an aversion to a situation or state of affairs, they cannot formulate it as a problem, nor will they seek to escape from that state of affairs, nor is there any reason why they should or would« (1990, S. 217, Hervorhebung H. W.).

Lindblom kommt hier zu Schlussfolgerungen, die ziemlich frappierend den systemtheoretischen Konzeptionen der Selbststeuerung komplexer Sozialsysteme und der Unwahrscheinlichkeit gelingender Intervention in komplexe Problemlagen entspricht (siehe dazu ausführlich Systemtheorie II, bes. Kap. 5). Allerdings scheint seine Perspektive zu sehr von den Erfahrungen misslingender oder gar unmöglicher Reformen (in einem amerikanischen Kontext) geprägt zu sein, so dass an manchen Stellen der Eindruck entsteht, er schütte das Kind mit dem Bade aus. Zur besseren Übersicht kontrastiere ich die unterschiedlichen gesellschaftlichen Steuerungmodelle von Lindblom in Abbildung 2.1.

Insbesondere scheint mir zu kurz zu kommen, dass moderne Demokratien wesentlich von einer fortgeschrittenen funktionalen Differenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme geprägt sind. Fortgeschrittene funktionale Differenzierung bedeutet, dass sich die Funktionssysteme (Politik, Ökonomie, Wissenschaft, Erziehung, Gesundheitssystem etc.) nicht nur aufgrund ihrer Eigensinnigkeit und Eigendynamik politisch schwerer erreichen und steuern lassen, sondern dass sie auf der anderen Seite eigenständige interne Problemlösungskapazitäten ausbilden, einschließlich spezifischer professioneller und organisatorischer Expertise. Es ist deshalb gar nicht nötig, aus der (berechtigten) Ablehnung des »wissenschaftlichen« Modells heraus nun Selbststeuerung vorrangig oder gar ausschließlich auf die schwachen Schultern von Laien zu verlagern. Die Hauptlast der Selbststeuerung tragen in hochorganisierten Gesellschaften nicht isolierte Einzelne, sondern organisierte und korporative Akteure, die in der Lage sind, kollektives Handeln in differenzierten, lokalen und vernetzten Organisationen und Gruppierungen zu mobilisieren.

 

[47]

Quelle: Eigene Darstellung

Abbildung 2.1: Evolution der gesellschaftlichen Steuerungsmodelle nach Charles Lindblom

Korporative Akteure können sich – und sie tun dies in der Regel auch – von den Interessen und Absichten ihrer Mitglieder unabhängig machen, obwohl es diese Mitglieder sind, welche den korporativen Akteur zunächst schaffen:

»Once individual actors create a corporate actor – vest authority and resources in it and entrust it with the right to represent them, to act and negotiate in their name – this actor usurps new competences, mobilizes new resources and engages in new fields of activity in pursuit of its own interest in survival and power« (Flam 1990, S. 9).

Aus diesem Grund ist es unabdingbar, neben Personen auch korporativen und anderen kollektiven Akteuren eine eigenständige Handlungs- und Strategiefähigkeit zuzuschreiben.

Hinzu kommt, dass moderne Demokratien eine ganze Reihe von komplexen Sachfragen von Mehrheitsentscheidungen freigestellt und professionellen Organisationen oder Einrichtungen überantwortet haben. Gerichte bis hin zum Verfassungsgericht, Untersuchungskommissionen, Zentralbanken, Regulierungsbehörden (»regulartory agencies«), Ethikkommissionen im Forschungssystem etc. setzen zur Erfüllung ihrer Aufgaben »eher auf Qualitäten[48] wie Expertise, Professionalismus, Unabhängigkeit und Kontinuität (…) als auf direkte demokratische Verantwortlichkeit« (Majone 1993, S. 104).

Insofern ist in meiner Sicht die Stoßrichtung der Lindblom’schen Kritik zwar richtig und berechtigt. Er lässt sich aber von der etwas grobschlächtigen Dichotomie von wissenschaftlicher und selbststeuernder Gesellschaft zum entgegengesetzten Extrem einer Laienherrschaft hinreißen, die angesichts der unwiderruflichen Verwissenschaftlichung, Technisierung, Komplizierung und Vernetzung aller Momente gesellschaftlicher Wirklichkeit hoffnungslos alteuropäisch erscheint. Zwar gibt es seit einigen Jahren eine unüberhörbare Diskussion über die Einführung oder Erweiterung von Möglichkeiten des Volksentscheids in westliche Verfassungen (Beedham 1993) – dem würde Lindbloms Argument entsprechen. Aber die meisten der in der Debatte für Volksentscheide angeführten Argumente sprechen weniger für eine Stärkung direkter Demokratie als für eine Stärkung des Subsidiaritätsprinzips. Kernpunkt der Auseinandersetzung ist deshalb gerade nicht Laienherrschaft, sondern die Selbststeuerung der in einer bestimmten Sache oder Problemlage betroffenen und kompetenten Sozialsysteme. Die überkommene Form repräsentativer Demokratie bewegt sich auf der Grenzlinie zwischen einer latenten und einer manifesten Krise, nicht weil sich »oben« die Experten befinden und »unten« die Laien, welche nach Lindblom nun ihren Leidensdruck selbst in Veränderungsenergie umsetzen müssen, sondern weil in den politischen Zentren Repräsentanten ohne Expertise und ohne professionelle Schulung für ihre spezifische Aufgabe sitzen, welche die Sprache der dezentral verteilten Experten, Involvierten und Professionellen gar nicht mehr verstehen können.

Den Hauptmangel von Lindbloms revidiertem Modell einer selbststeuernden Gesellschaft sehe ich deshalb darin, dass er die »mittlere« intermediatisierende Ebene der Gruppierungen, Organisationen und Korporationen vernachlässigt. Betont man diese Ebene, dann verliert der Gegensatz von wissenschaftlicher und selbststeuernder Gesellschaft seine Schärfe. Dann kommt in den Blick, dass auch eine selbststeuernde Gesellschaft auf eine möglichst intelligente Verknüpfung von dezentraler Expertise und dezentraler Mobilisierung von Macht zur Durchsetzung wissensbasierter Veränderungsstrategien angewiesen ist. Das Großproblem Umweltzerstörung bietet dafür einen harten Anschauungsunterricht: Es ist schwer zu sehen, wie etwa im Bereich alternativer Verkehrssysteme der »normale« Bürger als Laie zu Vorstellungen und dann zur Mobilisierung von politischer Macht kommen könnte, um in diesem extrem komplexen und verschachtelten Problemfeld umweltverträglichere Lösungen herbeizuführen. Nicht nur sind einige der folgenreichsten Risiken des Individualverkehrs wie Zerstörung der Ozonschutzschicht, Zerstörung der Wälder oder Vergiftung der Luft gerade nicht unmittelbar erfahrbar, so dass auch kein unmittelbarer Leidensdruck entsteht; [49]vielmehr scheinen praktische Verbesserungen deshalb so schwer durchsetzbar zu sein, weil jede Lösung zunächst mehr Verlierer als Gewinner, mithin mehr Widerstand als Zustimmung, mehr Kosten als Nutzen erzeugt.

Solange es nicht gelingt, qua Überzeugung, Expertise, Ausgleichsmaßnahmen, Verhandlungskunst und generalisierter politischer Macht aus dieser Mechanik der Verhinderung von Veränderung auszubrechen und eine zumindest mittelfristige Perspektive der Problemlösung – und das heißt der Verteilung von Nutzen und Kosten – zu etablieren, solange bleiben auch bei einer verstärkten Beteiligung von Laien und einer verstärkten Berücksichtigung von (durch Betroffenheit generierten) individuellen Machtpotenzialen die gegenwärtigen Großprobleme unlösbar.

Einen anderen Weg back to basics verfolgt Amitai Etzioni in seinen späteren Arbeiten. Angesichts einer manifesten Unfähigkeit selbst entwickelter Demokratien zu aktiver und prospektiver (d. h. zukunftsweisender und zukunftsverantwortlicher) Selbststeuerung teilt er mit Lindblom das Ziel, neue Formen und Verfahren der demokratischen Aktivierung von Machtpotenzialen zu entwickeln. Während Lindblom gegenüber einer als zu gewichtig eingeschätzten Rolle von Wissenschaftlichkeit, Vernunft und Sachverstand nun den »gesunden Menschenverstand« des Laien ins Spiel bringt, setzt Etzioni auf Moral. Beide Auswege aus der Steuerungskrise des Demokratiemodells müssen systemtheoretisch aufgeklärten Europäern Schauer über den Rücken jagen. Aber in den USA funktionieren Begriffe und Konzeptionen anders (Ackerman 1991, Kap. 1). Dort hat die Erneuerung der Demokratie aus der Erneuerung von Familie, Kommune und »communities« eine Tradition, die bis zur Landung der Mayflower zurückreicht. Die »praktische Vernunft« des einfachen Bürgers ebenso wie die »kommunitarischen Werte« der primären Lebensgemeinschaften sind sicherlich die stärksten Wurzeln der amerikanischen Demokratie – und insofern ist es schon weniger verwunderlich, dass sowohl Lindblom wie auch Etzioni darauf zurückkommen.

Lindblom sieht die Intelligenz der Demokratie durch die partikulare Intelligenz der Experten und Wissenschaftler graduell ausgehebelt; er plädiert deshalb für eine Verstärkung der Mechanismen der Selbststeuerung und dafür, die Aktivitäts- und Machtpotenziale der vielen Laien besser zu nutzen. Komplementär dazu postuliert Etzioni eine folgenreiche Verzerrung unseres Verständnisses kollektiver Entscheidungsfindung durch die massive Vorherrschaft des »rational-choice-Modells«, also eines Modells der Person als isoliertem rationalem Akteur. Er argumentiert, dass es für die Konstruktion eines viablen (lebensfähigen) Steuerungsmodells moderner Gesellschaften nicht ausreiche, wenn rationale Individuen gemäß ihrer je privaten und egoistischen Kosten-Nutzen-Kalküle zwischen Optionen auswählen; denn in diesem Prozess gesellschaftsweit summierter Egoismen verkümmerten gemeinschaftliche[50]Werte und die Rücksicht auf gemeinschaftliche Güter. Zugleich aber kritisiert er »starke« Kommunitaristen wie Sanders, MacIntyre oder Walzer, die wiederum einseitig auf die Steuerungswirkung gemeinschaftlicher Moral setzten und darüber das Individuum und seine individuellen Rechte vernachlässigten.