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Ein Opfer der Mutterliebe

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Ich fand Maria mit dem Kopf auf dem Bettchen des Kindes, das Kissen war naß von ihren heißen Thränen.

Welche Versuche sie auch machte, um mich über die Größe der Gefahr auszuforschen, ich konnte es nicht über’s Herz bringen, sie aufzuklären, sondern suchte durch hoffnungsvolle Worte ihr einigen Muth einzuflößen. Voraussehend, daß das Erscheinen eines zweiten Arztes sie sehr erschrecken würde, da solche Consultationen ja gewöhnlich oder fast immer einen äußerst gefährlichen Zustand andeuten, machte ich sie glauben, daß nur auf meinen Vorschlag unser Freund Vloebergs den alten Herrn Poels mitbringen würde.

Die Arznei war inzwischen besorgt worden und wir gaben sie dem Kinde der Vorschrift des Arztes gemäß ein; doch schien sein Leiden sich dadurch nur zu vermehren.

Ach welch’ schmerzliche, welch’ schreckliche Zeit! Welche Ewigkeit von Angst und Qual während der anderthalb Stunden, die bis zur Ankunft der Aerzte verlief! Beschreiben kann ich es nicht, die Noth steigerte sich von Minute zu Minute, und endlich lag unser armes Kindchen da, gewaltsam und krampfhaft nach Athem ringend als ob es im Augenblick ersticken sollte.

Maria gebärdete sich wie eine Wahnsinnige; sie rief alle Dienstboten zusammen, um sie nach Aerzten auszusenden, befahl ihnen gleich darauf wieder zu bleiben, stürzte am Bettchen nieder und erfüllte das Zimmer mit Hilferufen; dann wieder sank sie schwer in einen Sessel, als würde sie von einer Ohnmacht befallen. Aber in solchen Augenblicken, wenn sie fühlte, daß ihre Kräfte sie verließen, sprang sie wieder krampfhaft auf und begann in neuer Aufregung im Zimmer umher zu laufen.

Soll ich von mir selbst sprechen? In einem Abgrund von Gram lag ich versunken, ich, der bedroht war, zu gleicher Zeit mein geliebtes Kind und meine Frau zu verlieren! Und doch gaben Pflichtgefühl und Liebe mir die Kraft, Ruhe und Muth an den Tag zu legen.

Endlich kamen die Aerzte, ernst und selbst düster sahen sie drein. Ihre ersten Worte gingen dahin, meine Frau zu vermögen, das Zimmer zu verlassen und da sie sich weigerte, forderten sie es mit aller Strenge.

Was sie aber auch vorbrachten, Maria war nicht zu entfernen, sie wollte bei ihrem Kinde bleiben sagte sie, keine Macht der Erde würde sie zwingen, es auch nur einen Augenblick zu verlassen und wenn Gott es in den Himmel rufen würde, so wollte sie anwesend sein, um den letzten Seufzer von den kleinen Lippen zu küssen. Nichts war im Stande, sie wankend zu machen, mein Rath, meine dringenden Bitten blieben furchtlos.

Da begannen die Aerzte, die Augen auf das Kind gerichtet, Latein zu sprechen und ich bemerkte mit Entsetzen, wie jedes ihrer Worte und jede ihrer Bewegungen meine Frau vom Kopf bis zu den Füßen erzittern machte. Sie weinte nicht mehr, ihre Augen waren starr und funkelnd. Man hätte glauben sollen, daß sie die Doktoren für ihre Feinde hielt, die sie mit ihren Blicken tödten wolle.

Die Unterredung währte nicht lange. Gleich nachher gaben mir die Aerzte zu verstehen, daß sie mich allein zu sprechen wünschten und ersuchten mich, sie in ein anderes Zimmer zu führen.

Ich brachte sie am Ende des Ganges in ein Gemach, worin ein Bett sich befand. Hier sagte der alte Herr Poels zu mir:

»Herr van Hochfeld, ich muß Sie bitten, all Ihren Muth zusammen zu nehmen, und mit Ruhe die Mittheilung entgegenzunehmen, die ich Ihnen jetzt zu machen habe. Jede Minute, die verfließt, kann die letzte Hoffnung auf Rettung vernichten. Das Kind bat die Halsbräune . . . «

Ich sah ihn mit verwirrtem Blick an, als ob ich ihn nicht verstünde.

»Das Kind hat die Halsbräune,« wiederholte er, »und zwar so stark und so gefährlich, daß es in weniger als einer Viertelstunde mit ihm zu Ende gehn kann, wenn wir nicht Hilfe schaffen. Ein Mittel nur bleibt uns noch, es zu retten, wenigstens die Rettung zu versuchen, wenn es nicht schon zu spät ist. Sind Sie damit einverstanden?«

»Großer Gott, was haben Sie vor?« rief ich aus.

»Wir müssen eine Oeffnung in die Kehle schneiden, um das Kind künstlich athmen zu lassen, sonst erstickt es ohne allen Zweifel. Wollen Sie uns Ihre Hilfe dazu leihen?«

»Gewiß, wenn es sein muß! Ach arme Mutter, unglückliche Maria!«

»Wir werden jetzt zu dem Kinde zurückkehren,« sagte der Arzt, und noch einmal versuchen, Ihre Frau zu entfernen, denn sie würde uns hinderlich sein; auch wäre es für sie selbst nicht ohne Gefahr, wenn sie das Blut ihres Töchterchens fließen sähe. Merken Sie nun wohl auf und seien Sie eingedenk Ihrer Pflicht als Gatte und Vater. Wenn sich Frau van Hochfeld noch ferner weigert, uns allein zu lassen, werde ich einen günstigen Augenblick erspähen, das Kind aus seinem Bettchen nehmen und mit ihm in dieses Zimmer flüchten. Sie müssen Ihre Frau zurückhalten, wenn es sein muß mit Gewalt, Sie müssen sie einschließen, bis unser trauriges Geschäft vollbracht ist. Das Leben Ihres Kindes kann möglicher Weise der Preis Ihres Starkmuthes sein; wird er sie verlassen bei solchem Ziel?«

Das Uebermaß des Leidens und der Gefahr gab mir plötzlich meine ganze Entschlossenheit zurück.

»Nein, nein,« rief ich aus, nur rasch, meine Herren, ich werde Ihnen zeigen, daß ich meine Pflicht erkenne!«

Sie folgten mir wieder in’s Schlafzimmer. Es ging, wie der alte Doktor vorausgesehen hatte, weder Bitten noch Gewalt konnten Maria bewegen, sich von ihrem Liebling zu trennen, ihr Mutterherz ahnte wohl, was vorgehen sollte.

Wie dem auch sei, – als sie sich wieder einmal an meinen Hals geworfen hatte, als wenn sie mich um Hilfe anflehn wolle, nahm der Arzt das Kind aus seinem Bettchen und lief eilig damit aus dem Zimmer.

Ein Schrei des Entsetzens entfuhr meiner Frau; sie hatte die Absicht des Doktors errathen. Rasend wie eine Löwin, der man ihre Jungen geraubt hat, sprang sie ihm nach, ich aber faßte sie um den Leib, Herr Vloebergs und eine kräftige Magd standen mir bei und so hielten wir sie wie an den Boden festgenagelt. Als sie den alten Doktor mit ihrem Kinde verschwinden sah, stieß sie noch einen Schrei aus, so schneidend, als ob das Herz ihr breche, und sank dann kraftlos und ohnmächtig in meine Arme.

»Setzen Sie sie auf einen Stuhl,« sagte Herr Vloebergs, während er sich entfernte, »und lassen sie einige Augenblicke ganz in Ruhe, besprengen dann Stirn und Puls mit kaltem Wasser. Schließen Sie die Thür von innen; wenn Ihnen ihr Leben lieb ist, so tragen Sie Sorge, daß sie das Zimmer nicht verlasse.«

Da lag sie nun bleich und regungslos, und ich saß neben ihr; meinen entsetzten Augen erschien sie schon wie eine Leiche. Ich weinte nicht, nur die Zähne preßte ich ans einander in heftigem Schmerz, ich war wie von Sinnen . . . Die endlose Tiefe meines Leibes hielt mich aufrecht, und verlieh mir eine Art künstlicher oder vielmehr krankhafter Stärke.

Nach Verlauf einer kurzen Zeit begannen wir mit Wasser und Essig Versuche anzustellen, meine Frau aus ihrer Ohnmacht aufzuwecken. Lange blieb Alles wirkungslos, ich weiß nicht genau mehr was ich that, meine Seele war bei meinem Kinde, das ich im Geiste martern sah. Und ich konnte nicht fort, um es vielleicht vor nutzlosen Qualen zu schützen.

Endlich bemerkte ich an gewissen leichten Bewegungen, daß Maria aus der Besinnungslosigkeit erwachte. Ich theilte eilig der Magd meine Absicht mit, zu dem Kinde zu gehen und empfahl ihr dringend, gleich nach meiner Entfernung die Thür von innen zu schließen, den Schlüssel in ihrer Tasche zu verbergen, meine Frau aber glauben zu machen, daß ich von außen den Riegel vorgeschoben habe.

Ich flog durch den Gang und erreichte in wenigen Sätzen das unglückliche Zimmer, worin die Aerzte waren . . . Großer Gott, welche Finsternisse umgaben mich da! Ich sank nieder in einen Sessel und schlug mir krampfhaft die Stirn. Hatten meine Augen recht gesehn? Ja, ja, es war vollbracht: Dort lag mein armes Kind mit bleichem Gesichtchen und blauen Lippen! Kein Zweifel mehr! Mein Freund Vloebergs, selbst blaß vor Angst und Kummer, wollte mich beruhigen, doch seine Worte durchborten mir das Herz wie eben so viele Dolchstiche.

»Ein wenig Muth, unglücklicher Hochfeld,« sagte er, »Gott hat ihr Kind zu sich gerufen, es ist ein Engelchen im Himmel.«

Da brach die scheinbare Stärke zusammen, ich schlug die Hände vor die Augen und zerfloß in einen Strom von Thränen.

Während der alte Arzt beschäftigt war, so viel wie möglich die Blutspuren der Schnittwunde abzuwaschen oder zu verbergen, suchte Vloebergs durch Worte der Theilnahme mir einige Erleichterung zu bringen. Doch ich hörte nicht auf ihn und konnte nichts als in der tiefsten Verzweiflung den Namen meines todten Kindes murmeln, und den meiner armen Maria.

Plötzlich ertönte die klagende Stimme meiner Frau im Gange. Herr Vloebergs sprang hinzu um die Thür zu schließen, aber ehe er sie noch erreichen konnte, stürzte Maria mit fliegenden Haaren in das Zimmer – und Zähneknirschend, mit geballten Fäusten, rief sie dem alten Doktor drohend zu:

»Räuber! Scheusal! Ungeheuer! wo hast Du mein Kind? mein Kind!

Der Greis zeigte stumm auf die kleine Leiche.

»Dies mein Kind? mein Paulinchen? Ha, ha, welch’ abgefeimte Lüge!« lachte Maria höhnisch. »Du hast mein Kind geraubt, ich weiß es genau. Aber Du sollst es mir zurückgeben, oder ich reiße Dir die Augen aus dem Kopf! Schnell sofort, mein Kind! mein Kind!«

Und da Herr Poels wieder schweigend nach dem Bette wies, flog Maria auf ihn zu, kratzte mit ihren Nägeln ihm die Wangen blutig und riß ihm die Kleider vom Leibe.

Mit Anwendung aller Gewalt gelang es uns endlich, sie von ihm fortzureißen; in ihrer blinden Muth würde sie ihn ermordet haben.

Entsetzliches Schicksal, sie war wahnsinnig, nichts konnte sie zur Besinnung bringen. Niemanden kannte sie mehr, auch Vloebergs und mich hielt sie für Räuber ihres Kindes.

Wie soll ich den unseligen Zustand beschreiben? Um die arme Wahnsinnige zu hindern, sich selbst und Andern ein Leid anzuthun, mußten wir zu gewaltsamen Mitteln unsere Zuflucht nehmen . . . Eine Stunde später stand ich wie vernichtet indem Gang, den Kopf in den zitternden Händen, in dem Zimmer an der einen Seite lag mein Kind, kalt und todt, in dem an der andern meine arme Frau, mit Stricken auf dem Bette festgebunden, tobend und heulend . . . Ach, wie vermag der Mensch solch herbe Schicksalsschläge zu überleben!

 

V

Am folgenden Tage war es den Aerzten durch stark wirkende Arzneien einigermaßen gelungen, die furchtbare Aufregung von Maria zu vermindern und ich begann zu hoffen, daß ihr Irrsinn nur vorübergehend sein würde. Gegen Mittag lösten wir ihre Bande und sie erkannte mich. Was sie sprach hatte aber keinen Sinn, ihr Gehirn schien gelitten zu haben.«

Auch im Uebrigen wurde unser Hoffen bald zerstörte Maria erlitt einen Anfall von Tobsucht und wollte über mich herfallen in dem Wahn, daß ich Herr Poels sei, der Räuber ihres Töchterchens.

So dauerte der entsetzliche Zustand mehrere Tage, mit Zwischenzeiten verhältnismäßiger Ruhe und wieder- kehrenden Wuthausbrüchen, die immer an Heftigkeit zunahmen.

Wir glaubten zu bemerken, daß das Bettchen, die Kleider, die Spielsachen des Kindes, ja selbst die Orte, wo es an ihrer Seite sich herumbewegt hatte, nachtheilig auf sie wirkten. Die Aerzte erklärten, daß an Besserung nicht zu denken sei, so lange, sie die Personen und Gegenstände um sich habe, die sie an die jüngste Vergangenheit erinnerten, ein Wechsel der Umgebung sei durchaus nothwendig. Wie schmerzlich es mir auch war, ichs mußte meine Zustimmung dazu geben, Maria für einige Zeit in einem Irrenhause unterzubringen.

Zum Glück befand sich eine solche Anstalt eine gute halbe Stunde von unserm Landhause. Meine Frau sollte dort mit der größten Sorgfalt, und so zart als möglich behandelt werden, ein Zimmer und ein besonderes Gärtchen für sich allein haben und mit den übrigen Irren niemals in Berührung gebracht werden. Dies war das einzige Mittel, welches noch Aussicht auf Genesung bot, die gänzliche Entfernung von der gewohnten Umgebung und die tiefste Einsamkeit würden allein vermögen, die übergroße Aufregung ihrer Nerven zu besänftigen. Aufschub und längeres Hinhalten war nicht thunlich, da jede verzögerte Stunde nur dazu dienen konnte, das Leiden tiefer einzuwurzeln.

Nur mit Entsetzen erinnere ich mich jener schrecklichsten Zeit meines Lebens, des unseligen Tages, da ich Morgens die Leiche meines Kindes zum Kirchhof geleitete und Nachmittags meine arme Frau zu dem andern Grabe, dem Irrenhause führte.

In namenloser Verzweiflung kehrte ich zurück zu unserm Landhause, wo die düstere Einsamkeit mir aus allen Zimmern entgegen grinste und mich wie ein Gespenst verfolgte.

Und der nächste Tag und die darauf folgenden Tage mußten noch elender sein. Ich durfte meine Frau nicht besuchen. Zwei Wochen zum wenigsten, vielleicht noch länger, sollte sie dort bleiben ohne Jemanden zu sehn, den sie vordem gekannt hatte.

Ich floh von dem Landhause fort nach Brüssel, um dort an dem Bette meines kranken Vaters einigen Trost zu finden. Doch was konnte der liebevolle Greis anders als mit mir weinen über den Tod unseres Kindes und das schreckliche Schicksal meiner Gattin.

Ein unwiderstehlicher Drang trieb mich nach Ukkel zurück. So weit von Maria mochte ich nicht leben, am dritten Tage war ich schon wieder auf dem Landgute.

Um für die mich bestürmenden hoffnungslosen Gedanken einige Ableitung zu suchen, wanderte ich durch die Felder, und gewöhnlich trugen mich meine Füße in die Nähe des Irrenhauses. Ich ging hin und her, immer von Neuem dahin zurückkehrend, ich betrachtete die Fenster mit klopfendem Herzen und weinte bei der schmerzlichen Vorstellung, daß meine heißgeliebte Frau wie eine Gefangene dort eingeschlossen saß . . . Vielleicht ohne alle Hoffnung, für immer . . .

Am fünften oder sechsten Tage nach meiner Rückkehr aus Brüssel war ich wieder des Morgens bis zum Irrenhause gegangen, ich hatte angeschellt, um den Arzt nach dem gegenwärtigen Zustande meiner Frau zu fragen. Er wußte mir keine tröstende Antwort zu geben, im Gegentheil. Maria hatte am Abend vorher in einem argen Wuthanfall ihn für den Räuber ihres Kindes angesehn und ihm einen heftigen Schlag auf den Kopf beigebracht. Jetzt war sie nun wieder beruhigt, aber man konnte der scheinbaren Fassung niemals trauen, da sie oft plötzlich in Raserei ausbrach. Der Arzt hatte wenig Hoffnung auf Heilung, das war mir nur zu klar.

Als ich in ihn drang um zu erfahren ob er mir kein Mittel zu nennen wüßte das noch versucht werden könnte, und sollte es unser ganzes Vermögen kosten, sagte er mir traurig:

»Nichts, ich weiß nichts; sanfte Behandlung und Ruhe, später Zerstreuung und Anleitung von ihren trüben Erinnerungen. Wenn ihre Krankheit eine andere Ursache hätte, wenn man ihr zurückgeben könnte, was sie verloren hat . . . Aber der Tod ist unerbittlich.«

»Mit diesem trostlosen Bescheid wurde ich entlassen; ich entfernte mich auf einem einsamen Wege, denn mein gepreßtes Herz war voll zum Ueberströmen, ich mußte mich ausweinen.

Während ich so trägen, wankenden Schrittes weiter ging, sah ich von fern einen alten Mann, dem Anschein nach einen armen Tagelöhner, auf einem Baumstamm sitzen. Was meine Aufmerksamkeit besonders auf ihn lenkte, war, daß er ein kleines Mädchen fest in den Armen hielt und sie tröstend zu streicheln schien.

Als ich näher herankam, ließ er das Kind los, und er sah mich an, mit Thränen in den Augen.

Warum blieb ich zitternd stehn, als ob ich vom Schlage gerührt sei? Was war es, das ein verwirrtes Lächeln, eine fast sinnlose Freude plötzlich in mir weckte? Sah ich wirklich mein Kind, mein Paulinchen in dieser ärmlichen Kleidung? Das waren ihre blauen Augen, ihr Korallenmündchen, ihr blondes Lockenhaar, dasselbe Alter, der nämliche Ausdruck! Etwas bleicher schien sie wie gewöhnlich, aber das war ja natürlich, das arme Kind hatte doch so viel gelitten!

Ich war der Spielball einer fremdartigen Täuschung, das fühlte, das wußte ich wohl; und doch war die Aehnlichkeit so hervortretend, daß mehrere Augenblicke vergingen, ehe ich von meinem unsinnigen Zweifel befreit wurde.

Meine Aufregung bezwingend, näherte ich mich dem Alten und fragte ihn theilnehmend:

»Ihr seid traurig, mein Freund? Euer Kindchen hat geweint? Was bedrückt Euch?«

»Ach Herr,« sagte er, »mich dauert unser gutes Thereschen. Ihr Vater ist lange todt, er war mein Sohn, und nun ist auch die Mutter vor ein paar Wochen gestorben. So ist sie nun ohne Eltern und muß in’s Waisenhaus, denn sehen Sie, Herr, ich bin lahm mit dem linken Fuß, ich wohne in einem Kämmerchen, nicht viel größer wie ein Kamin und verdiene täglich kaum genug um nicht Hungers zu sterben.«

Während der alte Mann also klagend zu mir sprach, hielt ich den Blick unverwandt auf das süße Gesichtchen des armen Kindes gerichtet. Der stille Glanz dieser himmelblauen Augen übte einen unbeschreiblichen Zauber auf mich, und wieder entstand in mir die sinnlose Frage, ob ich nicht meine kleine Pauline lebend und in voller Gesundheit wiedersah. Seltsame Empfindungen waren es, die mich bestürmten, eine wunderbar verlockende Hoffnung senkte sich mir in’s Herz.

»Doppelt fühle ich jetzt das Unglück, arm zu sein,« fuhr der Greis fort. »Ich bin ihr Großvater, ich sollte für sie sorgen, aber ach, ich kann es nicht! Mein armes Thereschen im Waisenhaus! Vielleicht ist es gut dort für Kinder, aber . . . «

Und er begann still zu weinen. Das kleine Mädchen schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihm die Thränen von den Wangen.

Ich setzte mich neben ihn auf den Baumstamm und erfaßte seine Hand. – Nicht aus Mitleiden, es war ein anderes Empfinden, das mich gänzlich beherrschte.

»Wie heißt Ihr;« fragte ich, »und wo wohnt Ihr?«

»Ich heiße Thomas Bloempap, Herr,« war die Antwort. »Ich wohne zu Brüssel, im Paddengang, und bin Steinhauer, wie auch Thereschens Vater war.«

»Könnt Ihr das Kind nicht einige Augenblicke von uns entfernen?« flüsterte ich ihm in’s Ohr. »Ich möchte mit Euch über Etwas sprechen, das Euch wahrscheinlich Freude machen wird.«

Der Mann sah mich verwundert an, doch zeigte er sich bereit meinen Wunsch zu erfüllen.

»Thereschen,« sagte er, »sieh dort, in der Wiese jenseits des Weges, stehen viel schöne Blumen; geh, und pflücke davon, bis ich dich rufe. Dieser Herr hier hat die Blumen so gern.«

»Jawohl, mein liebes Kind,« fügte ich bei, »geh’ und bring mir bald einen Strauß, dann schenke ich Dir eine große schöne Puppe.«

Hüpfend und jauchzend lief das erfreute Kind der Wiese zu.

»Guter Alter, Ihr seht hier neben Euch einen Mann so kummervoll, daß sein Leid nicht mit Worten zu beschreiben ist. Ich hatte ein Kind, ein liebes kleines Mädchen, wie Euer Thereschen, sie war das Licht unserer Augen, die Freude unserer Seele, die Waldrose ist nicht frischer und blühender. Vor zehn Tagen befiel sie eine plötzliche Krankheit und sie starb . . . Meine arme Frau wurde durch diesen furchtbaren Schlag so tief getroffen, daß sie von Sinnen kam und wir sie, um fernerem Unglück vorzubeugen, in’s Irrenhaus bringen mußten. Was mich betrifft, so könnt Ihr denken, wie bitter, wie unerträglich mein Leben geworden ist. Ich stehe jetzt allein in der düstern, einsamen Welt wie in einer Wüste.«

»Ach, Herr, welch’ schweres Unglück,« seufzte der Greis theilnehmend.

»Euer Thereschen,« fuhr ich fort, »gleicht so sehr unserm verstorbenen Töchterchen, daß ich im ersten Augenblick zweifelhaft war, ob ich es nicht vor meinen Augen neu erstehen sah. Ihr beklagt das Schicksal des Kindes, das die Eltern verloren, ich dagegen betrauere den Verlust meines einzigen Kindes. Gott hat es wohl gefügt, daß wir uns begegnen mußten. Es gibt einen Weg, Thereschen für ihr Leben glücklich zu machen und zugleich mir einige Hoffnung, einiges Licht zurückzugeben in die Dunkelheit meines trüben Verlassenseins.«

Wieder ergriff ich seine Hand und sagte beinah flehend:

»Ueberlasset mir das Kind, ich will es lieb haben wie mein eignes, will es aufziehn und unterrichten. Es wird schöne Kleider haben, und Spielsachen und Leckereien; in einem schönen großen Hause soll es wohnen, in der Kutsche spazieren fahren, bedient werden durch Knechte und Mägde . . . Werdet Ihr Euch weigern?«

Das Gesicht des alten Mannes war sehr ernst geworden, er schien vor meinem Vorschlag zu erschrecken und schüttelte nachdenkend den Kopf.

»Ihr weist solch’ beneidenswerthes Geschick für Euer armes Thereschen zurück?« rief ich aus, »Ihr wollt sie lieber in’s Waisenhaus bringen? Und glaubt noch, sie gern zu haben?«

»Das ist es nicht, Herr,« brummte der alte Steinhauer. »Wer seid Ihr? Euch soll ich das Kind meines Sohnes abtreten? Ich kenne Euch nicht . . . «

»Ihr wißt doch, daß an dieser Landstraße, ungefähr zehn Minuten von hier, ein Landhaus steht mit zwei steinernen Löwen vor dem Thor?«

»Gewiß, gewiß,« antwortete der Mann, »ich habe an den Ringmauern des Hofes mit gearbeitet. Da wohnt der Herr van Hochfeld.«

»Haltet ihr denn die Hochfelds für brave Leute?«

»Die wohlthätigsten Menschen von der Welt,« versicherte der Greis, »die Frau besonders ist weit und breit bekannt wegen ihrer Milde und Güte.«

»Nun denn« mein Freund» sagte ich« »da wird Euch die Nachricht nicht unangenehm sein, daß Ihr gegenwärtig mit dem Herrn van Hochfeld sprecht.«

»Sie? Sie Herr van Hochfeld? der Eigenthümer des schönen Hauses? Und Sie wollen mein Thereschen annehmen als ihr eigenes Kind? So reich, so glücklich soll sie werden? O Gott sei gepriesen, der Ihnen den Gedanken eingab!«

»Also Ihr seid einverstanden?«

»Ich küsse in tiefster Dankbarkeit Ihre Hand,« gnädiger Herr!«

»Damit sind wir aber noch nicht fertig,« fügte ich bei, ich habe keine Kinder und meine Verhältnisse gestatten mir, zugleich auch für Euer Wohlergehn Sorge zu trugen. Ihr seid alt und gebrechlich, das Arbeiten muß Euch schwer fallen; Ihr verdient wohl zwei Franken täglich?«

»Nicht jeden Tag, Herr.«

»Das bleibt sich gleich. Von jetzt an, und so lange Thereschen bei mir ist, erhaltet Ihr jede Woche 15 Franken; so werdet Ihr Eure alten Tage in Ruhe und Frieden zubringen können. Außerdem werde ich suchen, Euch ein Pöstchen als Aufseher oder so etwas zu verschaffen, und was Ihr dadurch verdient, soll dazu beitragen, Eure Mittel noch zu vermehren. Ihr scheint mir nicht zu trauen? Nehmt hier das Goldstück von 20 Franken, das ist für die erste Woche, den Rest mögt Ihr als extra Gottesspende betrachten.«