Die vermauerte Frau

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„Wem sie just passieret …“

Am Wochenende geht man tanzen. Das ist heute nicht anders als vor 150 Jahren. Im Sommer nahm Gustav Heinrich Wilhelm seine Johanne Auguste Abicht und führte sie nach Anger. Sie durchtanzten die Nacht. Am Morgen fand man beide entseelt am Feldrain. Erschossen. Ein Doppelselbstmord. Seit Jahrhunderten beeindruckt die Liebesgeschichte von „Romeo und Julia“. Bis heute gehen Paare gemeinsam in den Tod, weil sie zusammen keine Zukunft für sich sehen. Nicht über jedes dieser Liebespaare wird Weltliteratur geschrieben. Über die Toten auf der Sellerhäuser Flur schon.

„Diese Geschichte zu erzählen würde eine müßige Nachahmung sein, wenn sie nicht auf einem wirklichen Vorfall beruhte, zum Beweise, wie tief im Menschenleben jede jener Fabeln wurzelt, auf welche die großen alten Werke gebaut sind. Die Zahl solcher Fabeln ist mäßig: aber stets treten sie in neuem Gewande wieder in die Erscheinung und zwingen alsdann die Hand, sie festzuhalten.“ Die Geschichte von Sali und Vreni, von „Romeo und Julia auf dem Dorfe“, spielt „an dem schönen Flusse, der eine halbe Stunde entfernt an Seldwyl vorüberzieht“. Tatsächlich aber hatte sie sich am 16. August 1847 in Sellerhausen bei Leipzig zugetragen. Eine kurze Meldung in der Züricher Freitagszeitung vom 3. September hatte Gottfried Keller inspiriert: „Im Dorfe Altsellerhausen, bei Leipzig, liebten sich ein Jüngling von 19 Jahren und ein Mädchen von 17 Jahren, beide Kinder armer Leute, die aber in einer tödtlichen Feindschaft lebten, und nicht in eine Vereinigung des Paares willigen wollten. Am 15. August begaben sich die Verliebten in eine Wirthschaft, wo sich arme Leute vergnügten, tanzten daselbst bis Nachts 1 Uhr, und entfernten sich hierauf. Am Morgen fand man die Leichen beider Liebenden auf dem Felde liegen; sie hatten sich durch den Kopf geschossen.“ Noch immer bewegt diese Geschichte, und „wem sie just passieret, dem bricht das Herz entzwei“.

Die Existenz des Dörfchens Sellerhausens reicht ins 9. Jahrhundert zurück. Deutsche Bauern besiedelten im 12. Jahrhundert die fruchtbaren Auen der Rietzschke. 1525 wurde das Dorf an den Rat der Stadt Leipzig verkauft. Im Dreißigjährigen Kriege brannte es nieder. Die Apelsteine No. 41 und No. 48 erinnern an die Völkerschlacht. 1814 lebten in 18 Häusern 180 Einwohner. 1830 wurde auf dem heutigen Kirchplatz der Friedhof geweiht.

„Allgemeines Entsetzen erregte in und außerhalb unserer Gemeinden das schreckliche Ende des Gustav Heinrich Wilhelm und der Johanne Auguste Abicht, welche am 16. August auf Sellerhäuser Flur erschossen gefunden wurden“, berichtet das Leipziger Tageblatt am 15. September nach den bei dem „Königl. Kreisamte darüber ergangenen Acten mitgetheilt“ von Pastor M. Volbeding. „Gustav Heinrich Wilhelm, 18 Jahre alt, war ein nachgelassener Sohn des Schmiedemeisters Carl Gottlieb Wilhelm in Großböhla, dessen Mutter jetzt in Zävertitz lebt. Johanne Auguste Abicht, Tochter des Brodbäckers Heinrich Christian Abicht in den Straßenhäusern bei Volkmarsdorf, wurde geb. in Volkmarsdorf den 25. Febr. 1831. Zwischen Beiden fand seit längerer Zeit ein Liebesverhältniß Statt und obwohl Wilhelm von seinen Anverwandten gewarnt wurde, das Verhältniß aufzugeben, da er durch dasselbe zu einem Aufwande veranlaßt werde, welcher seinen Verdienst übersteige, so erneuerte sich dasselbe doch wieder. Am Sonnabend den 14. August wohnten Beide einem Tanzvergnügen im Odeon in Leipzig bei, und kehrten von demselben erst Sonntag den 15. früh um 7 Uhr zurück. Diesen Sonntag sollten sowohl Wilhelm als auch die Abicht zu Hause zubringen, von seinen Anverwandten war es wenigstens Wilhelm ausdrücklich untersagt, auszugehen. Nichts desto weniger nahmen Beide am Sonntag Abend an dem Tanze auf den drei Mohren, in Anger, Antheil. Das Mädchen in ihrer gewöhnlichen Hauskleidung. Bis nach 1 Uhr früh, Montag den 16., sollen sie in dem Saale anwesend gewesen sein.

Am Morgen des 16. August, Montag, sah die Ehefrau des Hausbesitzers Schmidt aus Sellerhausen, welche auf einem Stück Pachtfelde beschäftigt war, in einiger Entfernung Beide liegen, ohne sich indeß näher um sie zu bekümmern, da sie der Meinung war, es seien zwei schlafende Personen. Der Erste, welcher die Entseelten, ungefähr halb 10 Uhr Vormittags, fand, war der Gutsbesitzer Herr Axmann aus Sellerhausen. Dieser gewahrte neben den Leichnamen ein Pistol, einige Pappkästchen – in einem derselben war ein Haarband befindlich – und eine kleine Düte mit Schießpulver. Durch Herrn Axmann wurde der Gutsbesitzer und Gerichtsschöppe, Herr Fichtner, sogleich in Kenntniß von dem Geschehnen gesetzt und während durch denselben die Anzeige bei dem Königl. Kreisamt – welches die Obergerichte ausübt – erfolgte, war der zum Flurschutz in Sellerhausen anwesende Schütze als Wache zu den Leichnamen gestellt.

Die Leichname lagen in Sellerhäuser Flur an dem Fußwege, welcher von Anger nach Sellerhausen durch die Kohlgärten führt und zwar zur linken Seite dieses Weges, in der Richtung von Anger her. Dort lagen die beiden Körper dicht neben einander auf dem Erdboden lang ausgestreckt; sie lagen auf dem Rücken, das Mädchen zur rechten Seite, mit der Kopfseite zunächst an einigen Büschen. Der Nachtwächter Härtig aus Sellerhausen fand, ungefähr 15 Schritte von den Leichnamen entfernt, ein zweites Pistol auf und näher nach den Leichnamen lag der dazu gehörige Ladestock, so verbogen, daß er in dieser Krümmung zum Laden nicht mehr als tauglich betrachtet werden konnte. Da der Andrang von Menschen eine genauere Erörterung der Sache und Untersuchung der Leichen an Ort und Stelle unmöglich machte, so begab man sich nach Sellerhausen und die Leichname wurden daselbst im Spritzenhause niedergelegt.

Der zum Flurschutz in Sellerhausen anwesende Schütze gab an, daß er vergangene Nacht, ungefähr um 2 Uhr, drei Schüsse habe fallen hören, die beiden ersten in schneller Aufeinanderfolge, den dritten ungefähr 10 Minuten später; da indeß von den Flurwachen öfters geschossen würde, sei ihm dies nicht auffällig gewesen.

Die nähere Besichtigung und Untersuchung der Leichname ergab nun vor Allem das augenblicklich Tödtliche der Verwundungen, denn bei Wilhelm war der Kopf völlig zerstört; bei dem Mädchen dagegen war die linke Seite des Gesichts aufgerissen, die Kinnlade und die hintern Halsknochen zerschmettert und gänzlich zerstört, während der obere Theil des Kopfes ohne Verletzung war. In dem Gesichte war keine Spur von Pulverbrand zu sehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde das Mädchen von Wilhelm erschossen und dann entleibte er sich selbst. Seine Hände waren voll Blutflecken und von Pulver geschwärzt. Nach dem, was vorlag, so weit menschliches Urtheil reicht, war Wilhelm Mörder und Selbstmörder zugleich; sein Leichnam wurde an die Anatomie zu Leipzig abgegeben, während den Angehörigen der Abicht überlassen blieb, dieselbe, jedoch nur in der Stille, zu beerdigen.

Die Pistolen, deren sich Wilhelm zu dem Verbrechen bediente, waren zwei schwere Cavalleriepistolen; in der einen derselben, welche von Hrn. Axmann aufgefunden worden war, befand sich noch die Ladung und zwar so übermäßig stark, daß die Hälfte des Laufes vollgepfropft war; wenn daher die andere, mit welcher Wilhelm die That vollführte, eine gleich starke Ladung enthalten hatte, so läßt sich die entsetzliche Wirkung erklären und ebenfalls ist es augenscheinlich, daß das Pistol, nach dem Abfeuern, bis auf die angegebene Entfernung zurückgeschleudert werden mußte.

Ueber die Ursachen des Mordes und Selbstmordes sind die verschiedensten, oft widersprechendsten Gerüchte im Umlauf; ebenso beschäftigt man sich eifrig damit, ob das Mädchen von dem Vorhaben unterrichtet gewesen und sie, mit ihrer eigenen Zustimmung, sich den Tod geben ließ, oder nicht. Alles dies sind immer nur Vermuthungen und können zu Nichts führen. So viel steht fest, daß zwischen den beiden jugendlichen Verirrten ein Verhältniß stattfand, wie es in ihren Jahren nicht stattfinden sollte und daß das Schaudererregende der That noch gesteigert wird durch die im Tanz durchschwärmten Nächte.“

Das Phänomen des Doppelsuizids ist nicht selten. Die juristische Bewertung pendelt. So brachte Heinrich von Kleist am 21. November 1811 am kleinen Wannsee bei Berlin auf deren Wunsch erst Henriette Vogel und dann sich selbst ums Leben. Da Kleist seine todeswillige, an Gebärmutterkrebs erkrankte geistige Freundin tötete, würde es strafjuristisch nicht als Doppelselbstmord gewertet: Es wäre eine Tötung auf Verlangen der Henriette Vogel und ein Selbstmord Kleists.

Der Gymnasiast Rudolf Dietzen kam 1909 nach Leipzig, da sein Vater ans Reichsgericht versetzt worden war. Rudolf galt als Außenseiter. Er schrieb einem verehrten Mädchen Liebesbriefe und denunzierte sich bei deren Mutter mit anonymen Schreiben selbst. Dietzens Vater nahm den Sohn von der Schule und versetzte ihn ins Internat nach Rudolstadt. Dort verabredete Rudolf mit seinem Freund Hanns Dietrich von Necker den gemeinsamen Freitod. Die Freunde tarnten das Vorhaben als Duell. Von Necker starb. Dietzen überlebte schwer verletzt, wurde strafrechtlich belangt und psychiatrisch behandelt. Wenn das Vorhaben der beiden wie geplant in die Tat umgesetzt worden wäre, wäre auch das kein Doppelsuizid, sondern als eine wechselseitig begangene Tötung auf Verlangen zu werten gewesen. Für seine schriftstellerische Laufbahn benannte sich Rudolf Dietzen nach grimmschen Märchen Hans Fallada. Sein erster veröffentlichter Roman „Der junge Goedeschal“ schildert die Affäre und zitiert die Liebesbriefe.

„Ohhh Einsamkeit! / Sieh, oh, das Feuermal meines Leids!“, schreit der „Ringende“ in Johannes R. Bechers Kleist-Hymne. Auch dieser Autor versuchte 1910 in München, sich und seine sieben Jahre ältere Geliebte zu töten. Er schoss verabredungsgemäß zuerst auf sie und dann auf sich selbst. Die Frau starb. Becher überlebte. Offensichtlich war die Tat dem Vorbild Kleists nachgetan. Becher wurde wegen Tötung auf Verlangen angeklagt. Er entging jedoch der Verurteilung, sein Vater war Richter am Landgericht München und ließ den Sohn für unzurechnungsfähig erklären. Jahrzehnte später überzeugte Becher Fallada, am Aufbau des Sozialismus in der sowjetischen Besatzungszone mitzuhelfen. „Fühlte bebend meine schmerzhafte / Einsamkeit und das grausam / Lohende Herz der Erde durch die Nacht.“

 

Die Beispiele solch zwiefachen Freitods sind fortzuführen. „Was nützt die Liebe in Gedanken“ folgt der Steglitzer Schülertragödie. Wegen der Ausweglosigkeit ihrer Liebesbeziehungen verabredeten sich vier Schüler 1927 zum gemeinsamen Selbstmord. Kronprinz Rudolf und Marie Vetsera, Stefan und Charlotte Zweig, Adolf Hitler / Eva Braun, Gert Bastian/Petra Kelly, Eberhard und Helga von Brauchitsch, Senta Berger und Bruno Ganz im Film „Satte Farben vor Schwarz“. Auch in Telenovelas, Soaps, der „Lindenstraße“ und dem „Tatort“ war Doppelselbstmord Thema. Die jungen Helden in Igor Bauersimas Zweipersonenstück „Norway today“ kommen übers Internet in Kontakt. Sie vereinbaren ein Treffen zu ihrem Sprung vom Preikestolen, einem 600 Meter hohem Felsplateau in Norwegen. Die letzte Regieanweisung lautet: „Beide ab.“

1. Januar 2004: „Eine junge Polizistin und ihr befreundeter Kollege haben sich in der Neujahrsnacht im schwäbischen Merching mit der Dienstwaffe erschossen. Die Leichen der 22-Jährigen und des zwei Jahre jüngeren Beamten der Bereitschaftspolizei wurden am Donnerstagmorgen auf einer Wiese nahe einem Wohngebiet der kleinen Gemeinde gefunden. Die beiden Berufsanfänger waren ledig, aber nach Angaben der Polizei eng befreundet. Als Motiv gilt eine Beziehungskrise. Die Frau hatte sich die Tatwaffe zuvor in ihrer Dienststelle geholt.“

5. Dezember 2006: „Zwei Polizeibeamte haben in der Nacht zum Dienstag kurz vor Mitternacht einen Doppelselbstmord am Münchner U-Bahnhof Westfriedhof verhindert. Der Mann hatte zuvor bei der Polizei angerufen und erklärt, seine Freundin plane, sich dort vor die U-Bahn zu werfen. Vor Ort machte er den Eindruck, dies ebenfalls tun zu wollen. Hand in Hand schritten die beiden auf das Gleis zu, als die U-Bahn einfuhr. Sie konnten von den Beamten zurückgezogen werden.“

2. Juni 2007: „Vor einigen wahrlich entsetzten Augenzeugen sprang in Nürnberg-Langwasser ein junges Paar von einem der Hochhäuser der Zugspitzstraße in den Tod. Zeugenberichten zufolge hat es sich hierbei um eine 16-jährige und ihren wohl gleichalten Freund gehandelt. Die Polizei entdeckte nach weiteren Untersuchungen einen Abschiedsbrief. Nähere Details gab sie allerdings nicht bekannt. Unklar ist weiterhin, wie es den beiden möglich war, in das Hochhaus und vor allem auf das Dach zu kommen. Ein Pressesprecher der Polizei ließ lediglich verlauten, dass sich ein Doppelsuizid Jugendlicher ereignet habe.“

„‚Es ist so gut wie getan, es nimmt dich niemand mehr aus meiner Hand als der Tod!‘ rief Sali außer sich. Vrenchen aber atmete hoch auf, Tränen der Freude entströmten seinen Augen; es raffte sich auf und sprang leicht wie ein Vogel über das Feld gegen den Fluß hinunter. Sali eilte ihm nach; denn er glaubte, es wolle ihm entfliehen, und Vrenchen glaubte, er wolle es zurückhalten. So sprangen sie einander nach, und Vrenchen lachte wie ein Kind, welchen sich nicht will fangen lassen. ‚Bereust du es schon?‘ rief eines zum andern, als sie am Flusse angekommen waren und sich ergriffen; ‚Nein! Es freut mich immer mehr!‘ erwiderte ein jedes. Aller Sorgen ledig, gingen sie am Ufer hinunter und überholten die eilenden Wasser, so hastig suchten sie eine Stätte, um sich niederzulassen; denn ihre Leidenschaft sah jetzt nur das Rauschen der Seligkeit, der in ihrer Vereinigung lag, und der ganze Wert und Inhalt des übrigen Lebens drängte sich in diesem zusammen; was danach kam, Tod und Untergang, war ihnen ein Hauch, ein Nichts, und sie dachten weniger daran, als ein Leichtsinniger denkt, wie er den andern Tag leben will, wenn er seine letzte Habe verzehrt.“

Ein Hauch im Nacken

Öffentliche Hinrichtungen waren Volksfeste. Würstchen wurden verkauft, Bier ausgeschenkt. Der Bürgermeister sah sich veranlasst, zur Besonnenheit des Publikums aufzurufen. 1854 hatte man die Guillotine auf den Gerberwiesen vor Leipzigs Stadttoren aufgestellt. Carl August Ebert hatte in der Stadt geraubt und gemordet. Als man ihn endlich überführte, war sein Strafregister länger, und er war bereits andernorts „zum Tod durchs Rad von unten herauf“ verurteilt worden. In Leipzig vollstreckte man’s durchs Fallbeil. Es war die letzte öffentliche Hinrichtung in der Stadt. Unter dem Hurra der Massen fiel August Eberts Kopf. Todesurteile allerdings wurden in Leipzig bis 1981 vollstreckt.

„Das Schafott, zu welchem drei Stufen in die Höhe führten, war vielleicht vier- bis fünfhundert Schritt von dem Ufer der Parthe errichtet … Wagen und Stände mit Kaffee-, Bier- und Schnapsverkäufern; Händler mit Semmeln, Kuchen, Brot, Fleischwaren und Wiener Würstchen wechselten mit Kolporteuren, welche Mordtaten und Hinrichtungen in Poesie und Prosa laut zum Verkaufe anboten, ab. Alles lachte, drängte und machte mehr oder minder rohe und zweideutige Witze. Mehrere industriöse Leute waren mit ganzen Wagen voll Stühlen und Holztischen erschienen, welche sie an die Zuschauer vermieteten und wobei sie reißenden Absatz fanden.“ Ein Volksfest angesichts des Todes. „Trotz des regnerischen Wetters und des durchweichten Bodens des Platzes hatten sich doch 20 000 Menschen, eher mehr denn weniger, allein fast ausschließlich der unteren Classen angehörend, als Zuschauer eingefunden. Bei der Ankunft des Gerichtszuges begaben die richterlichen Personen sich auf die für dieselben errichtete Tribune. Der Delinquent, welchen Herr Archidiakonus Dr. Tempel bis an das Schafott begleitete, bestieg dasselbe anscheinend gelassen, und nach einer von Herrn Criminalrichter Dr. Rothe gehaltenen kurzen Ansprache an die Versammlung hatte die Execution ohne die mindeste Störung ihren ernsten und raschen Verlauf. Die versammelte große Menschenmenge verhielt sich ruhig und schweigsam und entfernte sich ebenso, ohne daß, wie rühmend anzuerkennen ist, die geringste Unzüglichkeit vorkam.“

Es war die letzte öffentliche Hinrichtung in Leipzig. Sie fand am 16. Juni 1854 auf den Gerberwiesen statt. Diese lagen hinter dem Gerbertor an den Gleisen der Magdeburger Eisenbahn und der Berliner Straße, „welche damals außer der Scharfrichterei und einem kleinen Häuschen der Damenbadeanstalten im Gerbergraben kein einziges Wohnhaus aufzeigte“. Enthauptet wurde der Brandstifter und dreifache Mörder Carl August Ebert durch die Guillotine.

„Sie spüren nicht den leisesten Schmerz, höchstens einen ganz kurzen Hauch über dem Nacken“, hatte Dr. Joseph Ignace Guillotin die von ihm erdachte Weiterentwicklung des Fallbeils der französischen Nationalversammlung vorgestellt. Paradoxerweise war der Namensgeber „an der eigentlichen Konstruktion gar nicht beteiligt. Es stellte sich nämlich heraus, daß er ein reiner Theoretiker war und nicht imstande, die von ihm so eifrig vorgeschlagene Köpfmaschine technisch exakt zu entwerfen. Der französische Generalprokurator Roederer mußte daher im Februar 1792 einen Kollegen Dr. Guillotins, den Chriurgen Dr. Louis, mit der Konstruktion beauftragen. Die technisch-handwerkliche Ausführung besorgte schließlich der deutsche Klavierbauer Tobias Schmidt, der mit 960 Livre das günstigste Angebot gemacht hatte. Am 25. Mai 1792 wurde die Guillotine zum ersten Mal in Gebrauch genommen: Der Raubmörder Nicolas-Jacques Pelletier wurde in Paris auf dem Grève-Platz geführt, wo ihm gemäß den Bestimmungen des Strafgesetzbuches mit dem Fallbeil der Kopf abgeschlagen wurde.“ Die aus humanitären Gründen neu erfundene Köpfmaschine war ein Instrument, „das im wesentlichen aus zwei Teilen bestand: einem Kippbrett, auf dem der Verurteile festgeschnallt wurde, und einem etwa fünf Meter hohen Gerüst, von dem das scharf geschliffene Fallbeil, von zwei seitlichen Schienen geführt, herabfiel und den Nacken des Verurteilten mit absoluter Genauigkeit traf. Das Kippbrett war beweglich. Der Delinquent wurde in der Regel aufrecht stehend daran festgegurtet und anschließend in waagerechte Position genau unter das Fallbeil geschwenkt. Der Kopf wurde dann noch mit einer Art Halsgeige festgehalten. Die Hinrichtung mit dem Fallbeil dauerte meist nur ein paar Minuten. Die Verurteilten hatten keine langen Todesqualen mehr zu erleiden, denn die Maschine funktionierte im wahrsten Sinne des Wortes mit tödlicher Sicherheit.“

Drei Morde, Brandstiftung und unzählige Diebstähle waren Carl August Ebert nachgewiesen, er hatte alles eingestanden. Jetzt erlitt er die dafür verhängte Strafe. Schon einmal war der Verbrecher „zum Tode durchs Rad von unten herauf“ verurteilt worden. Nur war es „Eberten am 28. August 1848 gelungen, aus dem Gefängnisse zu entweichen“.

Zwei Wochen später stand August Ebert in Leipzig vorm Halleschen Thor, „barfuß und ein paar Schuhe in ein Tuch gewickelt, das er unter dem Arme trug. Er war schlecht gekleidet, hatte jedoch das Haar nach der Mode gekämmt und pomadisiert.“ Auf Fragen zur Person gab er verdächtige und widersprechende Antworten. Und da er „keine Legitimationspapiere bei sich hatte und sich einigen Anschein von Blödsinn zu geben suchte, so wurde er in polizeilichen Gewahrsam genommen. Es lag die Vermuthung nahe, daß er ein entsprungener Verbrecher sei; denn seine Angaben trugen das Gepräge der Erdichtung. Er nannte sich Friedrich Müller, wollte aus Frankfurt a. O. gebürtig sein und aus Amerika kommen. Er sagte, seine Eltern seien gestorben, den Vater habe er nicht gekannt, seit der frühesten Jugend habe er sich auf einem Segelschiffe befunden, welches zwischen Hamburg und Amerika hin- und hergefahren, und auf welchem seine Mutter Köchin, er selbst Schiffsjunge gewesen sei. Die Polizeibehörde zu Leipzig stellte umfassende Nachforschungen an, um die wahre Persönlichkeit dieses Menschen zu ermitteln. Jedoch ohne allen Erfolg.“ Man wies ihn in die Versorgungsanstalt zu Colditz ein, musste ihn alsbald daraus entlassen, denn seinen Erzählungen konnte niemand die Unwahrheit nachweisen. Friedrich Müller fiel der Stadt Leipzig als Heimatloser zu. „In ehrlicher Weise sein Fortkommen zu suchen, lag gar nicht in Müllers Willen, die äußere Freiheit ließ ihn wieder dem thierischen Triebe nach Raub nachhängen: er stieg ein und stahl“, wurde mit Gefängnis belegt, „und nach Verbüßung dieser Strafe von der Leipziger Polizeibehörde zur Correction ins Georgenhaus eingesperrt.“

Dann glaubten sich die Polizisten auf der Spur. Sie fanden, „daß in den Mittheilungen der Berliner Sicherheitspflege ein Steckbrief hinter einem Schneidergesellen Carl August Ebert aus Drossen noch unerledigt war“. Dieser war wegen Raubmordes, Brandstiftung und mehrerer Diebstähle zur Fahndung ausgeschrieben. Friedrich Müller entsprach dem Signalement nicht nur äußerlich, er hinkte wie beschrieben. Nur hatte man jenen Ebert bereits in Frankfurt am Main verhaftet. Ein Irrtum, wie sich herausstellen sollte, doch teilte man diesen den Leipziger Ermittlern nicht mit, „so geschah es, daß dieser verschlossene Bösewicht am 16. November 1852 aus dem Georgenhause zu Leipzig wieder entlassen werden mußte und nur in polizeilicher Aufsicht behalten wurde, während er mit Handarbeiten Verdienst suchte und bald da, bald dort in der Stadt in Schlafstelle lag. Selbst aber in dieser äußeren Freiheit, wo sein Thun und Treiben von der Behörde überwacht war, vermochte er nicht den räuberischen Trieb zurückzuhalten, der aller Gefahren spottete und noch weniger auf den Richter achtete.“

Die Georgenstraße befand sich im Bahnhofsviertel, Hahnekamm und Hans-Poeche-Straße verlaufen heute ähnlich. Damals war es eine „Sackgasse, welche auf die westliche Umfassungsmauer des Schützenhauses stößt; unterhalb dieses Stadtheils breitet sich nordwärts der Leipzig-Dresdener-Eisenbahnhof aus, so daß in geringer Entfernung sich täglich ein reges Leben entfaltet“. In jener Straße wohnte Witwe Friese. Das nur an wenige Leute vermietete Haus stand einzeln am hinteren Rand der Sackgasse und bot nur äußerst geringen Verkehr mit der übrigen Stadt, zumal im Winter. Am 5. Januar hatte man Witwe Friese zum letzten Mal gesehen. Mehrmals klopfte der Vermieter an ihre Stubentüre, fand diese jedoch stets verschlossen. Er war nicht der Einzige, der vergebens auf Einlass hoffte, so setzte er die Polizeibehörde davon in Kenntnis.

„Als diese die Stube öffnen ließ, fand man die Friese entseelt darin. Sie lag, Kopf und Gesicht mit Blut bedeckt, völlig angekleidet, mit dem Rücken auf einem Stuhle; der Kopf hing herab, beide Hände berührten ausgestreckt den Boden, und die rechte hielt ein scharfes blutiges Messer. Quer über den Hals verließ eine lange, weitklaffende Schnittwunde und eine Lache dicken, geronnenen Blutes tränkte den Boden. Nach Aufrichtung des, mit einer schwarzen Mütze bedeckten Kopfes zeigte sich der Schädel an mehreren Stellen auf furchtbare Weise zerschmettert und allmählich entdeckte man 16 mehr oder weniger bis in das Gehirn dringende Wunden, die augenscheinlich von einem harten, stumpfen Instrumente bewirkt worden waren.

 

Die Friese war als eine wohlhabende Frau bekannt gewesen, man fand in ihrer Wohnung mehrere Gegenstände von Werth, namentlich auch Documente und Schuldverschreibungen; dagegen nur wenig baares Geld, mit einigen Zwanzigkreuzern in einer Plüschtasche verwahrt, ungeachtet die Friese erst ein oder zwei Tage vor ihrem Tode eine nicht unbeträchtliche Summe an Zinsen, in Cassenbillets und Zweithalerstücken, erhalten hatte. Ebenso fehlten Ringe und Busennadeln, in deren Besitz die Friese nach den Angaben verschiedener Personen gewesen war. Erstere hatte sie an einen Faden gereiht, gewöhnlich in ihrer Commode liegen gehabt. So war es denn klar, daß die Friese auf gewaltsame Weise ihren Tod gefunden, daß sie unter Mörderhand gefallen, eines Theils ihrer Habseligkeiten beraubt und daß von dem Mörder mit kaltblütiger Besonnenheit und raffinierter Bosheit das erschlagene Opfer in eine Lage und Stellung gebracht worden war, die den Glauben erwecken sollte, als habe die Friese mit eigener Hand ihrem Leben ein Ende gemacht …

Nachdem der Leichnam der Friese aus der Stube entfernt worden war, durchsuchte man dieselbe genauer, um Gegenstände aufzufinden, die möglicher Weise von Interesse für die Untersuchung sein konnten. Hierbei fand man in dem in der Stube stehenden Bette der Friese zwischen den Matratzen und dem Unterbette ein altes, unter den Armen blau abgefärbtes und in auffallender Weise schmutziges Mannshemde von grober Leinwand. Es fanden sich zwar nun noch andere Mannshemden vor, diese lagen aber zerstreut in der Stube herum, waren auch von sehr feiner weißer Leinwand, frisch gewaschen, sauber genäht und trugen vorn an der Brust auf einem in Herzform eingenähten Stück Leinwand als Zeichen die roth eingestickten Buchstaben A. F. mit einer Zahl darunter. Offenbar also waren dieß Hemden, die von dem den Namen Andreas geführt habenden, verstorbenen Ehemanne der Friese herrührten, wie sie denn auch nachmals von einer Person, die diese Hemden in den Händen gehabt, als Friesesche Hemden bezeichnet wurden. Unter diesen Umständen erschien der Fund jenes Hemdes im Bette der Friese von Wichtigkeit; trug solches auch keine Buchstaben als Zeichen an sich, so war doch anzunehmen, daß es nicht der Friese gehört, und der Gedanke mußte nahe liegen, daß möglicher Weise der Mörder sich jenes alten, schmutzigen Hemdes entledigt und dafür eins von den in der Stube liegenden, frischgewaschenen schönen Frieseschen Hemden angezogen und mitgenommen habe.“

Die Hemden – eine erste Spur. Eine nächste ergibt sich, als zwei Nachbarinnen sich eines fremden Mannes entsinnen, „der in der letztern Zeit einige Male ins Haus gekommen und nach dem Logis der Friese hinaufgegangen war. Noch am letzten Tage, am 5. Januar wollten beide Zeuginnen diesen Mann im Hause gesehen haben … Sie beschrieben jenen Fremden als einen kleinen untersetzten Mann mit einer kurzen grünen Jacke, dunklen Beinkleidern, dunkelfarbiger Mütze, mit plumpen Gesicht und einem etwas hinkenden Gang.“

Zunächst ergeben die Nachforschungen nichts, bis man in Erfahrung bringt, „daß auf der Ulrichsgasse (Seeburgstraße) ein Mensch wohne, dessen Statur und Kleidung so ziemlich auf Jenen passe und der auch in der letzten Zeit in etwas auffälliger Weiser Geld ausgegeben habe. Am frühen Morgen des 14. Januar verfügte sich der mit dieser Ermittlung beauftragte Diener der Behörde in das Quartier des oben Bezeichneten und traf nun hier noch im Bette liegend jenen geheimnisvollen Unbekannten, den angeblichen Müller, den die Stadt Leipzig unter die Zahl ihrer Einwohner hatte aufnehmen müssen. Beim Eintritte des Beamten in die Kammer zog Müller sich das Deckbett über den Kopf weg, er wurde aufgefordert, sich zu erheben, und hierbei zeigte sich, daß er ein weißes Hemd von feiner Leinwand auf dem Leibe trug, das aber ebenfalls schon beschmutzt war. Auch noch ein zweites, diesem ganz gleiches Hemde fand sich im Besitze Müllers vor. Beide Hemden glichen in Stoff, Größe, in der Art, wie sie genäht waren, sowie in ihrer sonstigen Beschaffenheit genau denjenigen, welche in der Stube der Friese mit dem Zeichen A. F. und einer Zahl darunter vorhanden gewesen waren. Nur war an dem einen das Zeichen herausgetrennt, während bei dem andern an der correspondierenden Stelle ein Stück Leinwand weggerissen war. Nichtsdestoweniger erkannte man aber an den vorhandenen Spuren noch ziemlich deutlich die Formen der ausgetrennten Buchstaben und namentlich war es gerade der Buchstabe F. dessen Form am deutlichsten hervortrat. Nicht minder zeigte sich noch ziemlich deutlich die Spur eines in Herzform darauf genäht gewesenen Stückes Leinewand. Müller war durchaus nicht im Stande, einen Nachweis darüber zu geben, wie er in den Besitz dieser beiden Hemden gekommen sei; die Angabe, die er darüber machte, trug das offenbare Gepräge der Lüge und Erfindung.“

Friedrich Müller wird in Haft genommen, die Beweise seiner Schuld sind erdrückend. Mehr als 20 Taler hatte er ausgegeben „theils in Cassenbillets, theils in Zweithalerstücken, theilweise aber auch in Zwanzigkreuzern“, genau wie sie der Witwe Friese ausgezahlt worden waren. Nach der Tat, „in den Nachmittagsstunden des 5. Januar war er zu einem seiner Bekannten gekommen und hatte zu demselben goldene Ringe, an einen Faden gereiht, sowie Busennadeln gebracht, vorgebend, er habe diese Dinge gefunden“. Und er hatte sich mit jenem Bekannten dahingehend verabredet, „daß dieser für den Fall etwaiger Nachforschungen von Seiten der Behörde nur sagen solle, er, Müller, habe das Geld von ihm bekommen, da er es ihm schuldig gewesen sei“. Die Zeuginnen erkennen in Friedrich Müller jenen Mann, den sie am Tattag beobachtet hatten. „Nicht genug, es wurde auch durch die umfassendsten und genauesten Erörterungen zu fast unumstößlicher Gewißheit erhoben, daß das im Bette der Friese aufgefundene Hemde ihm gehöre, ja daß er es noch am 5. Januar auf dem Leibe getragen habe.“ Es war in der Besorgungsanstalt zu Colditz gefertigt worden.

Und die Ermittler haben Zweifel, dass Friedrich Müller tatsächlich Friedrich Müller heißt. Sie senden an die betreffende Königlich Preußische Behörde die nötige Mitteilung und fügen dieser ein lithografiertes Bild des Täters bei. Zwei Beamte nehmen Müller vor Ort in Augenschein und „erkannten auf das Bestimmteste“ in ihm den Mörder August Ebert. Am 26. April 1853 gesteht Friedrich Müller seine falsche Identität und den Mord an Witwe Friese und nicht nur das.

Carl August Ebert wurde am 12. Juni 1822 zu Drossen (Ośno Lubuskie) geboren. Der Sohn eines Tagelöhners hat seinen Vater nie gekannt, die Mutter früh verloren. Ein kurzer Schulbesuch lehrte ihn notdürftig Lesen und Schreiben. Bereits als zehnjähriger Knabe begann er zu stehlen. Ebert arbeitete als Ochsenjunge, später erlernte er das Handwerk eines Schneiders. 1844 begab er sich auf Wanderschaft. „Im März desselben Jahres kam er in das Dorf Tschiefer (Przyborów) bei Neusalz (Nowa Sól) an der Oder, und hier blieb er in Arbeit bis zum 7. Juni 1846. Er hatte hier ein vertrautes Verhältniß mit der Tochter eines Einliegers angeknüpft und mit ihr ein Kind erzeugt und gab vor, daß er sie heirathen wolle. Er war der Volljährigkeit nahe und hatte sich für vermögend ausgegeben.“ Er wollte vor Ort nicht länger bleiben. Mit dem gleichgesinnten Schiffsknecht Gutsche beschloß er, den alten Ausgedinger Schulze „zu berauben und nöthingenfalls auch zu ermorden. Es war nicht unbekannt, daß der alte Mann im Besitze eines Vermögens von etwa 3 000 Thalern war, und nachdem einige Zeit vorher die beiden Bösewichte schon einen vergeblichen Versuch gemacht hatten, stiegen sie in der Nacht vom 6. zum 7. Juni 1846 durch das Strohdach in die Wohnung des Greises ein. Als dieser, vom Geräusch erwacht, in den Hof ging, erschlugen sie ihn mit einem mitgebrachten Beile, schleppten ihn in die Wohnung zurück und steckten das Haus in Brand, nachdem sie des Erschlagenen Vermögen vergebens gesucht und nichts weiter als 16 Pfennige gefunden hatten, welche sie nebst einigen Stücken Fleisch als die ganze Beute mitnahmen.“ Beim Löschen des Feuers stand Ebert in erster Reihe und half löschen. Unter den Trümmern fanden sich die 3 000 Taler, das Opfer hatte sie eingemauert.

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