Hohe Morde

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Die Frage, warum er bislang nie von einem ersten Absturz seiner Frau gesprochen habe, beantwortet Tourville: „Ich habe nicht daran gedacht.“ Und nun erzählte Henry de Tourville die Geschichte neu: „Wir gingen von Franzenshöhe eine Zeit lang zu Fuß herunter, während wir den Wagen vorausschickten. Wir blieben einmal stehen und sahen uns die Gegend an. Wir mögen in einer Entfernung von 4 – 5 Meter gegangen sein. Meine Frau stand in der Nähe von Pfosten oder Steinen, die bestimmt sind, die Wägen vor dem Hinunterfallen zu schützen. Auf einmal sah ich, wie meine Frau hinunterstürzte. Meine Frau fiel mit dem Kopfe voraus, und wenn sie nicht eine Menge falscher Haare, einen Chignon gehabt hätte, wäre sie schon damals todt geblieben. Sie fiel etwas tiefer als der Stock eines Hauses hoch ist, ich mußte einen ziemlichen Umweg machen. Ich fand sie auf dem Boden sitzend, mit der rechten Hand auf den Boden gestützt. Ich machte ihr Vorwürfe, wie sie denn an eine so gefährliche Stelle gehen und herunterfallen könne. Meine Frau gab mir keine Antwort, sie blutete an der Stirne, aber nicht stark. Sie war im Stande aufzustehen und, in mich eingehängt, weiter zu gehen. Die Entfernung von dem Punkte, von welchem sie hinunterfiel, bis zu jenem, wo ich sie fand, kann circa 150 Schritte in der Luftlinie betragen haben. Wir setzten unseren Weg 15 – 20 Minuten fort, worauf meine Frau über Müdigkeit klagte. Sie stützte sich auf einen Stützpfeiler. Ich sah mich um, ob ich einen Wagen oder Leute sehe. Es war mir schon damals der Gedanke gekommen, ob meine Frau nicht absichtlich hinuntergestürzt sei. Ich kehrte meiner Frau den Rücken, als ich plötzlich ein Geräusch von fallenden Steinen hörte. Ich schaute mich um und sah, meine Frau eine mäßig geneigte Ebene hinunterrollen. Sie rollte etwa 100 – 150 Schritte und fiel an einen alten Baumstrunk an, wo sie liegen blieb. Ich ging auf demselben Wege, welchen meine Frau im Rollen zurückgelegt hatte, zu ihr hinunter. Etwa 3 Schritte unter der Straße lag ihr Sacktuch und etwa 12 Schritte unter der Straße ihr Strohhut, welcher inwendig blutgetränkt war. Meine Frau, welche ich aufsetzte, war am Kopfe stärker verletzt und klagte, daß ihr linker Arm gebrochen sei. Ich kniete vor ihr auf dem Boden und wollte ihr aufhelfen. Meinen Sonnenschirm hielt ich in der Hand und zwar so, daß ich ihn bei dem Stofftheile ergriffen hatte. Ich hielt den Sonnenschirm schief, dessen Griff berührte den Boden. Meine Frau versuchte aufzustehen und stützte sich auf den Sonnenschirm, so daß der Griff abbrach. Meine Frau erklärte, nicht aufstehen zu können. Ich trage nach, daß ich, als ich zu meiner Frau das zweite Mal hinabgekommen war, ihr die heftigsten Vorwürfe machte, daß sie sich habe das Leben nehmen wollen. Dies war und ist noch jetzt meine Ueberzeugung.“ Selbstmord? Damit lässt sich manches nun erklären.

Nein, gestritten haben sich die Eheleute nicht. Für die Eintracht beim Spaziergang zwischen den Abstürzen kann Tourville Zeugen benennen. Zunächst zwei Touristen, die strammen Schrittes bergan wanderten und freundlich grüßten. Dann einen Hirten: „Wie ich mit meiner Frau nach dem ersten Falle hinabging, trieb auf dem andern gegen den Bach abfallenden Abhang ungefähr in gleicher Höhe mit uns ein Hirt Schafe vom Berge hinunter. Er mochte 3/4 Stunden von uns entfernt sein.“ Und dann habe er bei der Verletzten auf Hilfe gewartet, aber kein Mensch sei auf der Straße zu sehen gewesen. Den Hirten habe er nicht mehr erreichen können, der war bereits seinen Blicken entschwunden. So „sei er in seine Frau gedrungen, daß sie in ihrer damaligen Stellung bliebe“. „Yes“ habe sie darauf nur gesagt, „yes, yes“. Er selbst sei nach Trafoi, um endlich Hilfe zu holen.

Als er an den Unglücksort zurückkehrte und seine Frau nicht mehr gesehen habe, habe er sogleich gedacht, „daß sie sich hinabgestürzt, und daß er am Tage nachher bei der Begehung der Unglücksstelle die Ueberzeugung gewonnen habe, daß seine Frau um einen Selbstmord auszuführen, mehrere Male aufgestanden sei und sich mehrere Male hinabgestürzt habe“. Und anbei erklärt er, „daß er mit seiner Frau ganz gut lebte, daß sie nie von Selbstmord sprach, daß sie aber am 16. sehr lustig und aufgeregt war und lachte, wie eine Närrin, so daß der Kutscher sich öfters umgeschaut habe“.

Nach dieser Einlassung macht sich die Kommission erneut auf den Weg die Stilfserjochstraße hinauf zur ersten Absturzstelle. Zunächst scheint Tourville auch diese nicht zu finden. Doch dann liegt am Abhang der Sonnenschirm der Gattin, „und Tourville bezeichnete diese Stelle der Commission als die 1. Absturzstelle seiner Frau, eine Viertelstunde ungefähr unter Franzenshöhe und eben so weit von der Stelle an der Straße am Sitze, unter welcher die Leiche der Frau v. Tourville gefunden wurde. Die Höhe der Mauer, über welche Frau v. Tourville abgestürzt sein soll, beträgt 3,40 Meter. Tourville bezeichnete nun der Commission, die Stelle auf dem unter der Mauer liegenden Terrain, 1,50 Meter vom Ende der Mauer, auf welche seine Frau mit dem Kopfe aufgefallen. Der Platz war mit Gras bewachsen, jedoch befanden sich auch dort einzelne lockere Steine. Es ist aber nicht möglich, von der Straße aus diese Stelle zu sehen, wenn man nicht am Rande der Mauer außerhalb der Stützpfeiler Stellung nimmt. Das Terrain ist dort sehr abschüssig, zur Hälfte mit einer Steigung von 33°, die zur zweiten Hälfte bis zum Fußwege am Lärchbaume, wohin Frau v. Tourville abgefallen sein soll, mäßiger wird. Es beträgt die Länge des Terrains 75 Meter; die obere Strecke ist mit einzelnen lockeren Steinen und die untere mit Steingerölle bedeckt.

Dort fand nun die Commission die abgängigen Effekten und Werthgegenstände, die nebst einem Knäuel Garn – dieser ober der Sammttasche – zwei Büchschen, Bestandtheilen der Chatelaine, und einigen Glaskirschen vom Hute der Frau, die in kleinen und größeren Zwischenräumen an der Absturzlinie lagen. Eine Blutspur wurde nirgends entdeckt.“ Auch wenn der Abhang bis zur Talsohle stets steiler wird, kann auch ein Ungeübter den Lärchbaum gut erreichen. „Als Anton Thoeni auf dem angeblichen Absturzterrain die Uhr fand, und in die Höhe hob, um sie der Gerichtskommission zu zeigen, da brach Tourville in Thränen aus und schluchzte heftig, er begleitete damit wirksam den Eindruck, den das Auffinden der Effekten seiner Frau als Beweis der Wahrheit seiner Angaben auf die Gerichtskommission machen sollte.“


Tatortskizze mit Erklärung

Und Henry de Tourville liefert nun auch das Motiv samt dem Beweis, welches Madelines Selbstmord plausibel macht. Sie beide, frisch vermählt, befanden sich auf Reisen an der CÔte d’Azur, als Madeline am 30. Jänner ein Brief aus London erreichte. Warwick Hunt, ein guter Freund ihres verstorbenen Sohnes, teilt darin mit, dass er von seiner Gattin auf Ehescheidung verklagt wird und befürchtet, dass seine (mehr als?) mütterliche Freundin Madeline de Tourville nun „mit anderen Personen beschuldigt werde, mit Hunt Ehebruch getrieben zu haben. Seine Frau sei beim Durchlesen des Briefes blaß geworden und habe von dieser Zeit an oft Thränen vergossen. In Paris, wohin sie anfangs Februar gekommen und später in Clermont, sei ihre Aufregung in Folge von Correspondenzen in dieser Angelegenheit gestiegen, so daß sie es vorgezogen habe, Frankreich zu verlassen. Deßhalb sei eine Reise nach der Schweiz und nach Salzburg unternommen worden, wo am 9. Juli ein Brief seines Rechtskonsulenten Turner an seine Adresse vorgelegen sei, mit der Mittheilung, daß seine Frau in dem Ehescheidungsprozesse Hunt durch ein Edikt in den öffentlichen Blättern vorgeladen werden dürfte. Seine Frau habe von dem Briefe Kenntniß genommen und erklärt, daß sie mit Advokaten nichts zu thun haben wolle. Er habe längst beabsichtigt, nach England zurückzukehren, seine Frau habe aber den Wunsch ausgesprochen, ihn zu begleiten; die Rückkehr nach London sei daher unterblieben und die Reise ohne bestimmten Zweck fortgesetzt worden, um die Vorladung seiner Frau zum Prozesse zu vermeiden.“ Zum Beweis übergab Henry de Tourville den Ermittlern die Schriftstücke. Das entlastet den Ehemann in den Augen der Ermittler vollständig.

Auch ihre letzten Zweifel kann der Verdächtige zerstreuen: „Die Behauptung Tourvilles, daß er sich dem Richter nicht verständlich machen konnte, und aus diesem Grunde von einem früheren Absturze seiner Frau nichts erwähnt hatte, die Vorlage der Briefe Hunt’s und Turner’s, die seinen Angaben über den Selbstmord seiner Gattin den Schein der Wahrheit verliehen, sein behaupteter großer Vermögensbesitz, das Auffinden der Effecten der Frau an der angeblichen ersten Absturzstelle, waren die Gründe, welche die Gerichtskommission zum Beschlusse führten, die Verfolgung Tourville’s zu sistieren, ihn in Freiheit zu setzen und die Verfolgung auszufolgen.“

Auch die Erklärung für den letztendlichen Tod scheint logisch: „Nachdem sich klar herausgestellt hat, daß die Unglückliche sich in selbstmörderischer Weise über eine an jener Stelle der Straße befindliche Mauer stürzte, von wo sie etwa 160 Schritte über Steingerölle kollern mußte.“ Der besorgte Gatte verließ die Selbstmörderin am kleinen Baum, weil er Hilfe holen musste, wie sonst wären sie dort weggekommen, Madeline konnte nicht mehr laufen. Er habe immer wieder auf sie eingeredet, aber … „Während seiner Abwesenheit muß Madeline von Tourville 200 Schritt über Stein und Gerölle gegen das Thal gekrochen sein, bis sie die Kräfte vollends verließen, und sie an jener Stelle, an welcher man sie schließlich traf, den Tod fand.“ Die Todesumstände sind geklärt: ein Selbstmord ohne Zweifel. Herr von Tourville ist nunmehr frei, und als freier Mann setzt er sein Leben mit dem Geld der toten Gattin als Bohemien auf Reisen und in London fort. Zunächst lässt der gute Gatte in Paris einen Sarg fertigen, der der Toten angemessen ist, und lässt Madeline am 9. August aus dem Grab im Bergdorf holen. Der kleine protestantische Friedhof in Meran ist der toten Madame de Tourville geografisch und konfessionell angemessener. Auch der Grabstein wird von ihm bestellt, schmuckvoll und groß.

 

Doch der Verdacht des Meuchelmords besteht, und Henry de Tourville kann diesen nicht entkräften. Leute, Fachleute und Zeitungen diskutieren in Tirol, in Österreich, in England. So gelangte gar „an den englischen Minister des Aeußeren ein anonymer Brief, welcher zur Einleitung von Erhebungen zu Tourvilles Vorleben den ersten Anstoß gegeben haben müßte. In diesem Briefe wird die Affäre am Stilfser Joch in einer Weise erzählt, die Tourville ganz unzweifelhaft als den Mörder seiner Frau erscheinen läßt und die Aufmerksamkeit der Polizei auf ihn lenken mußte. Ein zweites Schreiben an das englische auswärtige Amt behauptet Aehnliches.“

Ein Sachwalter von der City in London reiste einen Monat nach den spektakulären Ereignissen nach Spondinig und besuchte den Tatort und machte vor einem Richter Meldung. Herr Tourville nahm daraufhin auf Anraten seines Anwalts Turner medial Stellung und beteuerte seine Unschuld. Presse, Fachleute und Leute diskutieren mehr und mehr. Artikel und Tourvilles Konterfei erinnern den Londoner Anwalt Jonathan Oldfield an den Tod seiner Klientin Elisabeth Brigham vor sechs Jahren. Auch damals bestand Mordverdacht gegen einen Mann, der diesem ähnelt, wohl identisch ist. Doch war Henry de Tourville damals nicht sein Name.

1868 nannte er sich nicht gesellschaftsfähig Henry de Tourville, sondern Henry Perreau, „geb. am 2. Juli 1837, der Sohn des Pierre Perreau und der Marie Souplet aus Valenciennes in Frankreich. Perreau hatte eine gute Erziehung erhalten, da seine Eltern dem Anscheine nach in günstigen Verhältnissen waren, bei ihrem Tode blieb aber wenig Vermögen, weil Henry Perreau es verschwendet hatte. Perreau besuchte von 1850 – 1855 das Collegium, war durch 6 Jahre Commis bei dem Notar Alglave in Valenciennes und wollte selbst Notare werden, bald kam seine Reiselust zum Vorschein; er bereiste England, die Schweiz, Belgien und Deutschland. Der im Jahre 1867 erfolgte Tod seiner Tante Auguste Souplet, die ihn bis dahin unterstützt hatte, brachte ihm ein kleines Erbe – 840 Frcs. in Baarem und ein Haus in Valenciennes, das er um 700 Frcs. vermiethete und in der Folge verkaufte. Perreau war nun wieder in England und an den Versammlungsorten der fashionablen Welt, um eine reiche Erbin zu finden. Er machte im Lougham Hotel in London die Bekanntschaft der Witwe Elise Brigham und ihrer Tochter Henriette, gab sich als einen reichen Gutsbesitzer aus, warb und erhielt die Hand des Fräuleins und damit die Anwartschaft auf 70.000 Pfund Sterling, obwohl alle seine Freunde auf ihn als einen Abenteurer blickten. Im Heirathskontrakte zu der am 21. Dezember 1867 stattgehabten Vermählung ist die Mitgift seiner ersten Frau mit 30.000 Frcs., sein Eigenthum an Mobilien mit 17.000 Frcs. angegeben, obgleich Tourville kein Vermögen besaß. Er gab in Paris seine Adresse bald im Louvre Hotel, bald in der Rue de Rivoli an, hatte aber thatsächlich keine dieser Wohnungen innegehabt.

Von einer größeren Reise auf dem Kontinente zurückgekehrt, war Tourville am 11. April 1868 mit Frau und Schwiegermutter in Foxleyhall.

Es war 9 Uhr vormittags, Elise Brigham saß im Frühstückszimmer rechts am Tische, in einem Armsessel und hielt einen Brief in der Hand; Perreau beschäftigte sich vor dem Tische stehend scheinbar mit dem Reinigen eines Revolvers, die Köchin Margareth Gibbon hatte eben das Frühstück aufgetragen und seit 4 – 5 Minuten das Zimmer verlassen, als sie die Stimme Perreaus vernahm, der um den Doktor rief. Sie fand die Dame todt im Lehnsessel, Blut rann aus einer Schusswunde an der linken Schläfe.

Perreau gab vor der vier Tage nach dem Ereignisse versammelten Jury unter seinem Eide an, daß ihn seine Schwiegermutter ersucht habe, ihr zu zeigen, wie der Revolver gehandhabt werde. Er habe ihr den Mechanismus erklärt, auf die Frage, wie er geladen werde, den Hebel geöffnet und eine Ladung hineingesteckt. Dann habe ihn die Frau den Revolver aus der Hand genommen, den Hahn gespannt und die Nadel 4 oder 5 Mal gedrückt. Während sie nun die Waffe mit ihrer linken Hand, den Lauf gegen sich gerichtet, zurückgab, habe sich in dem Momente, als er den Griff in die Hand genommen, der Revolver entladen, und sei die Ladung der Frau in die Schläfe gedrungen.


Illustrierter Tod der Schwiegermutter in englischem Unterhaltungsblatt

Die höchste Unwahrscheinlichkeit, daß eine bejahrte Dame, welche die Handhabung der Feuerwaffe unbekannt ist, mit dem vor ihren Augen geladenen Revolver in der behaupteten Weise vorgeht, – die Thatsache, daß Perreau kurz vor dem Ereignisse ohne Grund einen Revolver kaufte, und daß er es für nothwendig fand, eine scharfe Patrone in die Waffe zu geben, nur um zu zeigen, wie sie gehandhabt wird, – das Ergebniß der Sektion, nach welcher die Kugel von Hinten nach Vorne in die Stirne drang und eine schiefe Richtung nahm, als wäre sie von rückwärts abgefeuert worden, – der Ausspruch des sachverständigen Gewehrfabrikanten Hygham, es sei nach seiner 40jährigen Erfahrung nicht möglich, daß Frau Brigham den Revolver abfeuern konnte, wie Perreau beschrieben hat, – vor allem aber die Verhältnisse im Hause der Schwiegermutter, welche, da ihre Tochter, die Gattin Perreau’s, geistesschwach und kränklich war, daß einzige Hinderniß für Perreau bildete, in den unbeschränkten Genuß ihres Vermögens zu gelangen, das durch den Tod beseitigt wurde, – berechtigen zur Annahme, daß Elisabeth Brigham der Genußsucht Perreau’s zum Opfer gefallen ist, durch die Hand Perreaus’s meuchlerisch erschossen wurde.

Die Größe des Verbrechens, die kaum zu fassende Kühnheit der Ausführung, die vollendete Verstellungskunst Perreau’s und vorzüglich der Umstand, daß scheinbar jedes Motiv fehlte, weil Perreau als reicher Gutsbesitzer galt, veranlaßte das Verdikt der (Tiroler) Jury auf Tod durch unglücklichen Zufall, ein Spruch der gewiß nicht erfolgt wäre, wenn die Geschworenen den als hochmüthig, finster und frech geschilderten Charakter und das Vorleben Perreau’s gekannt hätten. Denn Perreau hatte schon vor Jahren das Schicksal einer unbequemen Schwiegermutter bestimmt.“

Und die böse Absicht noch untermauernd, hatte Henry Perreau in Scarborough, wo er die Brighams kennenlernte, vor Zeugen ausgeführt: „Er würde seinen Revolver reinigen, würde sie bitten, den Mechanismus zu untersuchen, und der Revolver würde dann losgehen.“ Doch nicht nur dieses hätte Henry Perreau damals schon gesagt, er sagte weiter: „Seine Frau würde er mit sich aufs Festland nehmen, sie würde sich an einem Platze die Schönheit der Gegend ansehen und dann fallen! – Aeußerungen, welche den widerlichen Eindruck machten und den Zeugen bewogen, die Damen der ihm bekannten Kreise vor Henry Perreau, aus dessen Munde er wußte, daß er eine reiche englische Erbin zu heirathen beabsichtige, zu warnen. Und Elise Brigham verlor ihr Leben genau nach diesem Programme, dessen zweiter Theil an Madeline Miller, der zweiten Gattin Perreau’s, zur Ausführung gekommen ist.“

An den Tod der alten Dame erinnert sich Rechtsanwalt Jonathan Oldfield in London. Und Detective Chief Inspector George Clarke von Scotland Yard erinnert sich auch. „Deckt sich da nicht unwillkürlich der Gedankengang Tourvilles auf, daß wieder so ein böser Zufall das Leben der so widerlichen Gattin zu löschen vermochte, wie jener, der Miß Brigham tödtete? Ein so böser Zufall, der ihm ohne alle Gefahr den Genuß ihres Reichthums öffnete? Ist es da gewagt, wenn man behauptet, daß der Gedanke des Mordes, wie er ihn im Seebade zu Scarborough in Aussicht gestellt hatte, schon sehr bald in der verbrecherischen Seele auflebte?“ Scotland Yard Inspector Clarke ermittelte erneut in diesem Fall. Er war stets von der Schuld des Henry Perreau überzeugt. „Dem Tode der Schwiegermutter folgte die Besitznahme von der Erbschaft, und um den bedenklichen Perreau aus der Oeffentlichkeit zu schaffen, die Annahme des Namens de Tourville, wozu nicht die geringste Berechtigung vorlag, und die Tourville auch mit der ganz unwahrscheinlichen Behauptung, daß seine Gattin auf die Annahme des Namens gedrungen, nicht rechtfertigen kann.“ Und zwar, so führt Tourville nun aus, hatte ihm seine Frau versprochen, da sie aus einem der ältesten Geschlechter Englands stammte, „ihm die Einkünfte aus ihrem Vermögen unter der Bedingung zu überlassen und daß er diese Revenue wieder verlöre, wenn er aufhören sollte, den Namen de Tourville zu tragen“. So habe er im Zuge seiner Einbürgerung in England den Namen angenommen und getragen. „Am 30. Juni 1871 starb die Gattin Tourville’s, Henriette Brigham, und hinterließ dem einzigen Sohne William aus der Ehe mit Tourville ihr großes Vermögen. Im Frühjahre 1875 wurde Tourville der Frau Madeline Miller, Tochter des verlebten englischen Schiffskapitäns William Miller und Witwe eines Herrn Friedrich Picke, vorgestellt. Die Dame zählte bereits 47 Jahre, hatte ihren Sohn in der Blüthe seiner Jahre verloren und verfügte über ein Vermögen von 70.000 Pf. St. Tourville warb um ihre Hand, die alleinstehende Dame lehnte nicht ab. Der Bräutigam drang auf Errichtung eines Ehevertrages, die Braut weigerte sich, unterzeichnete aber am Vermählungstage, 11. November 1875, ein Testament, nach welchem sie ihren Gatten zum Universalerben einsetzte, wodurch Tourville nach ihrem Tode Herr eines Vermögens von 37.000 Pf. St. – 370.000 fl. werden sollte. Tourville kam seiner Gattin entsprechend entgegen, er errichtete wenige Tage nachher eine letztwillige Anordnung, in welcher er auf seinen Todesfall seiner Frau ein Legat von 60.000 Pf. St. – 600.000 fl. zuschrieb, ein Vorgang, der auch gegenüber seinem einzigen Sohne nicht zu entschuldigen war, obgleich Tourville kein Vermögen besaß, und seine Einkünfte aus dem Nachlasse der ersten Frau bei seinem Aufwande kaum Ersparnisse erlauben konnten.“

Diese Hinweise aus England überzeugen auch die Behörden in Tirol; der Haftbefehl wird erlassen. Doch werden in London rechtliche Bedenken angemeldet: Was hat der Unfall von Elise Brigham mit dem Tod der Madeline de Tourville am Stilfser Joch gemeinsam? Nicht viel, nur den Namen eines der Beteiligten. Höhere Beamte sehen Grund genug. Am 28. Oktober 1876 verhaftet Detective Chief Inspector Clark zum zweiten Male Herrn Henry Perreau namens Tourville in London. „Er sei um 7 Uhr Abends im Hause Tourvilles erschienen, die Magd habe ihm gesagt, der Herr sei nicht anwesend. Da er sich selbst überzeugen wollte, trat er in ein Zimmer, und da fand er den zu Verhaftenden. Da er diesem seinen Auftrag erklärte, sagte Tourville: Bah Unsinn! Der Ober-Inspector verlas hierauf den Verhaftsbefehl und nahm Tourville auf das Polizei-Amt mit, dort habe er angegeben, daß er unschuldig und in Tirol freigesprochen worden sei.“ Henry Tourville wird per Schiff über Hamburg ins Gefängnis Bozen überstellt. Der Prozess gegen ihn wird vorbereitet. Er sollte zum Ereignis werden.

Penibel listet die Anklageschrift unerklärliche Widersprüche zwischen den Fakten und Tourvilles Einlassungen auf: „Die Darstellung der Ereignisse vom 16. bis 23. Juli in Verbindung mit dem Ergebnisse der wiederaufgenommenen Untersuchung und der Verantwortung des läugnenden Angeklagten schaffen nun die volle Ueberzeugung, daß Henry Tourville seine Gattin am 16. Juli meuchlerisch ermordet hat, daß er vorerst einen zufälligen Tod seiner Gattin geltend machen wollte, aber schon vor Verübung des Verbrechens beschlossen hatte, für den Fall, als seine Angaben über den Tod durch Zufall nicht Glauben finden sollten, die Behauptung eines Selbstmordes folgen zu lassen, und daß er zu diesem Zwecke schon unmittelbar nach der Ermordung seiner Gattin die Effekten und Pretiosen derselben auf ein höher gelegenes Terrain der Straße getragen hat, um durch die Fiktion eines vorausgegangenen Versuches seiner Frau, sich das Leben zu nehmen, den Selbstmord am Thatorte glaubwürdig zu machen. Schon das energische Vorgehen des vor Ort stationierten Finanzwache-Oberaufsehers Johann Zoller am Abende des 16. Juli, der laut gewordene Verdacht, daß Frau v. Tourville durch einen Gewaltakt das Leben verloren, und die Ergebnisse des Augenscheines am 17. Juli hatten Tourville überzeugen müssen, daß sich die Behauptung eines zufälligen Absturzes nicht halten lasse.“ Dass der Verdächtige seine Angaben den Fakten anpasste, lässt sich vielmals beweisen, sagt die Anklagevertretung. Unwahrscheinlichkeiten kommen hinzu: Nach dem ersten Absturz trug seine Frau den Hut noch auf dem Kopfe, während sie viele ihrer Schmuckstücke verlor, säuberlich verteilt. Der Weg, den Tourville heraufgekommen sein will, ist bei 43° Neigung von Menschen nicht begehbar. Ein 3 1/2 Meter tiefer Sturz, Kopf voraus, hätte Frau Tourville bewusstlos werden lassen müssen und andere Verletzungen zur Folge, meinen die Sachverständigen. Und „sie stellen unzweifelhaft hin, daß die im Wohlleben erzogene, stark beleibte Dame, wenn sie auch nach dem Sturze über die hohe Mauer eine Beschädigung nicht erlitten und nur in die Nähe des Fußweges gekollert wäre, abgesehen von den vielen schweren Verletzungen, die durch das Abstürzen auf der wenigstens 75 Meter langen, mit vielen Steinen besetzten Strecke entstehen konnten, mit zerfetzten Kleidern, und an allen Körperstellen, die mit den Steinen in direkte Berührung kamen, aufgeschunden, somit aus zahlreichen Wunden blutend, am Fußwege angekommen wäre“. Vielmehr deuten die Spuren, ihrer Meinung, darauf hin, dass Frau Tourville zum Ufer des Klammbachs hingezogen wurde. Auch finden sich am ersten Absturzort, wo sich Frau Tourville die Kopfverletzung zugezogen habe, keine Blutspuren. Doch ursächlich für den Tod war ein Riss der Schläfenarterie. Sie blutete stark, an der zweiten Absturzstelle findet sich die Lache. Entsprächen Tourvilles Schilderungen der Wahrheit, hätte seine Frau unmöglich die physische Kraft besitzen können, zur zweiten Absturzstelle hinzulaufen. Doch zwei Zeugen bestätigen, dass dies Madame de Tourville in guter Verfassung getan habe. „Die Touristen grüßten, der Gruß wurde erwiedert, und nichts war ihnen aufgefallen, was auf einen vorausgegangenen Unfall schließen ließ.“ Auch der Hirte vom gegenüberliegenden Hange zum Klammbach sah weder den Unfall noch hörte er Wehklagen oder Schreie. Tourville, der ihn gesehen hatte, rief ihn auch nicht um Hilfe, wo er doch verzweifelt auf Menschen oder Wagen gewartet hätte. Andererseits hatten die gastronomischen Einrichtungen an jenem Tage Ruhetag, mit weniger Touristen und möglichen Zeugen war da ohnehin zu rechnen. Widersprüche. Zweifel. Lügen. Mehr Widersprüche. Mehr Zweifel. Noch mehr Lügen.

 

„Das Gutachten der Sachverständigen bezeichnet nach dem Ergebnisse des Sektionsbefundes als die den Tod der Madeline Miller zunächst bewirkende Ursache die durch den großen Blutverlust und durch die Gehirnerschütterung herbeigeführte Gehirnlähmung, – den Blutverlust und die Gehirnerschütterung aber als unmittelbare Folgen der am Kopfe der Leiche vorgefundenen mit Anwendung bedeutender Gewalt gesetzten Verletzungen. Ihr Spruch geht dahin, daß die Wunden am Hinterkopfe im Zusammenhange mit den Verletzungen an der Stirne und der Schläfe, sieben an der Zahl, im Hinblicke auf die Terrainverhältnisse unmöglich durch einmaliges oder wiederholtes Fallen entstanden sein konnten, und daß die Entstehung dieser nur auf einer Seite des Kopfes vorkommenden tödtlichen Wunden dem gewaltsamen Einwirken einer dritten Person mit einem scharfkantigen harten Instrumente, wie durch wuchtig geführte Schläge mit einem Steine, zugeschrieben werden muß. Und nun vereinigen sich die objektiven Erhebungen mit den Zeugenaussagen und mit dem Beweise der Nichtigkeit der Angaben Tourville’s über die Todesart seiner Gattin als mächtige Träger der Thatsachen und Umstände, welche die Ueberzeugung schaffen, daß in dieser dritten Person nur der Gatte der getödteten – nur Henry Tourville erkannt werden kann. Dort, wo die Reihe der Straßensäulen gegen das Kreuz am Sitze noch vier derselben zählt, stieß Henry Tourville seine Gattin plötzlich und unversehens von der Straße auf das Steingerölle, sprang im nächsten Momente nach, führte einen wuchtigen Schlag mit einem Steine, ein zweiter folgte – das Opfer widerstand nicht, – und rasch wiederholte er die Schläge auf die Unglückliche, welche der plötzliche Fall und der Schrecken lautlos, die Schläge aber in wenigen Secunden bewusstlos gemacht hatten. Der Mord wurde demnach auf eine Art und unter Umständen ausgeführt, welche Vorsicht und Vertheidigung geradezu unmöglich machten, es war ein Meuchelmord.“

Sachverständige und Staatsanwalt rekonstruieren den Tathergang. „Auf dem Terrain zwischen der Stelle, wo der Hut der Ermordeten lag und der Straße, wurde die That vollbracht, und nun schritt Henry Tourville zur Verschleppung der Sterbenden. Er faßte sie an den Händen und zog sie, selbst vorausgehend, über das Steingerölle nach Abwärts. Bald war der Körper aus der Sichtweite der Straße gebracht, dann nahm er demselben die Werthsachen und Effecten ab, und rasch ging es nun über das bald mehr, bald weniger geneigte Terrain in die Tiefe zu bis zum Abhange 113 Meter unter der Straße. Hier trennte sich Tourville von seiner Gattin, ein Stoß und sie mußte in das Sandlager und den fast eben eingelagerten Felsen bei einer Neigung von 35 – 41'Graden von selbst dahin abfallen, wo sie als Leiche gefunden wurde. Der Verschleppung des Körpers folgte die Uebertragung der Effecten und Pretiosen, die Tourville bis auf den Sonnenschirm in seinen Kleidern unauffällig verbergen konnte, auf die angebliche 1. Absturzstelle, endlich die Rückkehr nach Trafoi.“

Und hier in Trafoi zeigt der Gatte auffallend geringes Engagement, Madame de Tourville zu retten. Er trinkt Wein. Er bestellt Speisen. Er spricht von unbedeutenden Verletzungen der Gattin. Kopfweh. Und er sorgt „eine halbe Stunde für seine eigene Erholung“. Dann ist er erschrocken. Zwei der Männer sind bereits zur Absturzstelle unterwegs. „Denn trotz der gewaltigen Schläge, die sein Opfer trafen, hatte er doch die Furcht, daß er mit der Hilfe zu früh an den Thatorte gelange, daß seine Frau noch am Leben sein dürfte.“ Er lässt den Wagen 15 Minuten weiterfahren, bevor er Mannschaft und Wagen zur Absturzstelle zurückkehren lässt. Dann bietet er den Helfern Geld, wenn sie die Leiche rasch hinauf- und wegschaffen. Einige haben Geld von ihm genommen. Auch die Beamten hat er bestechen wollen. „Nehmen Sie die Ringe, ich werfe die Etuis in einen Fluß!“ Sie verweigerten die Annahme. Indizien seiner Schuld? Henry de Tourville bestreitet die Vorwürfe. Er bestreitet sie vehement. Nichts als danken habe er wollen. Das ist der Dank.

Auch das Mordmotiv ist der Anklagevertretung allzu offensichtlich: „Sollte er in der That die Weigerung seiner Braut, einen Ehevertrag abzuschließen, mit der Errichtung eines Testamentes zu ihren Gunsten in solcher Ziffer belohnt haben, wenn sie ihm nicht mitgetheilt hätte, daß er zum Haupterben ihres Vermögens eingesetzt sei? Und darum behauptet die Anklage, daß die Wissenschaft um den Inhalt der Urkunde in Verbindung mit dem Umstande, daß seine Frau ihr Vermögen überwachen ließ, als wenn sie unverheirathet geblieben und begleitet von der Abneigung, die er gegen die fast 10 Jahre ältere Dame hegte und unverhohlen aussprach, zweifellos der Motor war, welcher den Mordgedanken in seine Seele gerufen hat. Um diesen Verdacht auszuschließen, erklärte Tourville am 22. Juli, daß er sein Testament widerrufen, weil ihm seine Frau den Inhalt ihrer letztwilligen Verfügung nicht gezeigt habe und setzt die Ziffer des auf ihn fallenden Erbes auf 12.500 Pfund, somit auf den dritten Theil des wirklichen Erbanfalles, welcher 37 – 38.000 Pf. St. beträgt. So mag Tourville schon im Jänner den Gedanken getragen haben, sich seiner Frau durch einen Sturz über den Felsen zu entledigen.“

Einen Anlass zur Ausführung der Mordtat bot „Warwick Hunt, Beamter im englischen Kriegsministerium, kaum über 30 Jahre alt, er war ein intimer Freund des verblichenen Sohnes der Frau v. Tourville. Die Erinnerung an ihren Sohn hatte ihm das Wohlwollen der Mutter bewahrt. In dem Briefe, den Frau Tourville am 30. Jänner in Nizza erhielt, klagt Hunt über seine ehelichen Zerwürfnisse und theilt ihr mit, daß seine Frau wegen Mißhandlung und anderen Ursachen auf Ehescheidung klagen werde. Schon vor drei Jahren habe sie ihn, wegen allerhand Aufführung, beschuldigt und ihren, Madame Tourvilles Namen, in abscheulicher Weise hineingemengt.“

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