Der gestohlene Bazillus

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Die Geschichte des † Mr. Elvesham

Ich zeichne diese Geschichte auf, nicht weil ich erwarte, daß man sie glauben wird, sondern um womöglich dem nächsten Opfer einen Weg zum Entrinnen zu bahnen. Ihm vielleicht wird mein Unglück Nutzen bringen. Mein eigener Fall, das weiß ich, ist hoffnungslos, und ich bin jetzt auch in gewissem Maße auf mein Schicksal gefaßt.

Mein Name ist Edward George Eden. Ich bin geboren in Trentham in Staffordshire, wo mein Vater Gartenbaubeamter war. Ich verlor meine Mutter mit drei und meinen Vater mit fünf Jahren. Mein Onkel, George Eden, nahm mich darauf an Kindesstatt an. Er war Junggeselle, hatte sich von unten heraufgearbeitet und war in Birmingham als unternehmender Journalist wohlbekannt. Er sparte nichts an meiner Erziehung, feuerte mich zum Ehrgeiz an, in der Welt vorwärtszukommen, und hinterließ mir bei seinem Tod, der vor vier Jahren erfolgte, sein gesamtes Vermögen, so ungefähr fünfhundert Pfund nach Ausbezahlung aller Abzüge. Ich war damals achtzehn. In seinem Testament riet er mir, das Geld zur Vollendung meiner Ausbildung anzuwenden. Ich hatte mir schon die Medizin zum Beruf erwählt, und dank seiner über das Grab hinausreichenden Großmut und dem Glück, das ich bei einer Bewerbung um ein Stipendium hatte, wurde ich Student der Medizin an der Universität in London. Zur Zeit des Beginns meiner Geschichte wohnte ich in University Street 11, in einer kleinen Dachstube, die sehr schäbig ausgestattet und zugig war und nach dem Hof zu ging. Der kleine Raum diente mir zum Wohnen und Schlafen, denn ich war entschlossen, meine Mittel bis zum letzten Pfennig möglichst nutzbringend zu verwerten.

Ich wollte eben ein Paar Schuhe zum Flicken nach einem Laden in Tottenham Court Road tragen, als ich zum erstenmal dem kleinen Mann mit dem gelben Gesicht begegnete, mit dem mein Leben jetzt so unentwirrbar verknotet ist. Er stand am Rand des Trottoirs und starrte, wie im Zweifel mit sich selbst, die Türnummer an, als ich öffnete. Seine Augen – es waren glanzlose, graue Augen mit roten Rändern – fielen auf mich, und sein Gesicht nahm sofort einen Ausdruck runzliger Liebenswürdigkeit an. »Sie kommen gerade im richtigen Moment!« sagte er. »Ich hatte die Nummer Ihres Hauses vergessen. Guten Tag, Mr. Eden!«

Ich war etwas erstaunt über diese vertrauliche Anrede, denn ich hatte den Mann mein Lebtag nicht gesehen. Ich ärgerte mich auch ein bißchen, daß er mich mit den Stiefeln unterm Arm überraschen mußte. Er bemerkte meinen Mangel an Herzlichkeit.

»Sie besinnen sich, wer zum Henker ich eigentlich bin, was? Ein Freund – seien Sie ganz versichert! Ich habe Sie schon früher gesehen, wenn auch Sie mich nicht gesehen haben. Kann ich irgendwo hier mit Ihnen reden?«

Ich zögerte. Die Schäbigkeit meines kleinen Zimmers droben war nicht für jeden ersten besten Fremden. »Vielleicht könnten wir die Straße entlanggehen,« sagte ich. »Ich bin leider verhindert –« Mit einer Handbewegung vollendete ich den unausgesprochenen Satz.

»Das trifft sich ausgezeichnet!« erwiderte er und wandte sich erst nach der einen, dann nach der andern Seite. »Nach welcher Richtung wollen wir gehen?«

Ich ließ meine Stiefel im Hausflur zu Boden gleiten. »Hören Sie mich an!« sagte er plötzlich. »Es handelt sich da um eine ganz langstielige Geschichte. Kommen Sie mit, Mr. Eden, und frühstücken Sie mit mir. Ich bin ein alter Mann und nicht besonders stark in Auseinandersetzungen; und bei meiner dünnen Stimme und dem Wagengerassel ...«

Dabei legte er überredend eine knochige, zittrige Hand auf meinen Arm.

Ich war noch nicht so alt, als daß ein alter Mann mir nicht hätte ein Frühstück anbieten dürfen. Trotzdem war ich nicht so ganz erfreut über die plötzliche Einladung »Ich möchte lieber –« begann ich. »Aber ich möchte lieber,« fiel er mir ins Wort. »Und eine gewisse Rücksicht dürfen meine grauen Haare ja wohl beanspruchen.« So willigte ich denn ein und ging mit ihm.

Er führte mich zu Blavitski. Ich mußte langsam gehen, um mich seinen Schritten anzupassen. Und bei einem Frühstück, wie ich es noch nie gekostet hatte, sah ich ihn mir, während er meinen einleitenden Fragen geschickt auswich, näher an. Sein glattrasiertes Gesicht war verfallen und runzlig, seine eingeschrumpften Lippen hingen über einem falschen Gebiß, und sein weißes Haar war dünn und ziemlich lang; er kam mir klein vor – freilich, die meisten Leute kamen mir klein vor – und seine Schultern waren rund und vorgebeugt. Während ich ihn beobachtete, mußte ich wohl oder übel bemerken, daß auch er mich musterte, indem er seine Augen, in denen ein sonderbarer Ausdruck von Gier lag, über mich hinlaufen ließ, von meinen breiten Schultern auf meine sonnverbrannten Hände und wieder hinauf zu meinem sommersprossigen Gesicht. »Und jetzt,« sagte er, als wir unsere Zigaretten ansteckten, »muß ich Ihnen sagen, um was es sich handelt.«

»Ich muß Ihnen vor allem sagen, daß ich ein alter Mann bin, ein sehr alter Mann.« Er hielt einen Moment inne. »Und der Zufall will, daß ich Vermögen besitze, das ich nun bald werde zurücklassen müssen, und daß ich kein Kind und niemand habe, dem ich es hinterlassen könnte.«

Mir kam der Gedanke an einen Vertrauenstrick, und ich beschloß, ein scharfes Auge auf den Rest meiner fünfhundert Pfund zu haben.

Er fuhr fort, sich über seine Einsamkeit zu ergehen und die Sorge, die es ihm mache, eine geeignete Verwendung für sein Geld zu finden. »Ich habe ja diesen und jenen Plan erwogen – Wohltätigkeitsanstalten, Stiftungen, Stipendien, öffentliche Bibliotheken – und bin am Ende zu dem Entschluß gekommen« – er heftete seine Augen auf mein Gesicht –, »daß ich mir irgendeinen jungen Menschen suchen will – von hohem Streben und reiner Gesinnung – und arm, gesund an Leib und Seele, und ihn kurzerhand zu meinem Erben machen, ihm alles geben, was ich habe.« Er wiederholte: »Ihm alles geben, was ich habe. So daß er mit einem Male aus aller Sorge und allem Kampf, in denen die harmonischen Kräfte seiner Natur sich entwickelt haben, zu Freiheit und Macht erhoben werden soll.«

Ich versuchte, möglichst wenig Interesse zu zeigen. Mit sehr durchsichtiger Heuchelei sagte ich: »Und ich soll Ihnen, etwa in meiner Eigenschaft als Mediziner, helfen, diese Persönlichkeit zu finden?«

Er lächelte und blickte mich über seine Zigarette weg an; und ich lachte auch ein bißchen, wie er so stillschweigend meine erkünstelte Bescheidenheit entlarvte.

»Was für eine Karriere könnte solch ein Mensch haben!« sagte er.

»Es erfüllt mich mit Neid fast, wenn ich daran denke, wie ich aufgehäuft habe, damit ein anderer verbrauchen kann –«

»Aber es sind Bedingungen dabei, selbstverständlich, Lasten, die er auf sich nehmen müßte. Er müßte zum Beispiel meinen Namen annehmen. Man kann nicht alles erwarten, ohne selbst etwas zu geben. Und ich müßte einen Einblick haben in seine sämtlichen Lebensverhältnisse, ehe ich ihn annehmen könnte. Er muß durch und durch gesund sein. Ich muß seine Vorgeschichte kennen, muß wissen, wie sein Vater und Großvater gestorben sind, die genausten Erkundigungen über sein Privatleben müssen eingezogen werden –«

Dies dämpfte meine geheime Selbstbeglückwünschung ein wenig. »Und verstehe ich also recht,« begann ich, »daß ich –?«

»Ja!« sagte er fast heftig. »Sie! Sie!«

Ich erwiderte kein Wort. Meine Phantasie führte wilde Wirbeltänze auf, und mein angeborener Skeptizismus war nicht imstande, ihren Rausch zu dämpfen. Ich empfand auch nicht die geringste Spur von Dankbarkeit. – Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, oder wie ich es sagen sollte. »Aber weshalb gerade ich?« fragte ich schließlich. – – – Er hätte zufällig durch Professor Haslar von mir gehört, sagte er, als einem typisch gesunden und verständigen jungen Menschen, und er wünsche nach Möglichkeit sein Geld jemand zu hinterlassen, dessen Gesundheit und Unbelastetheit verbürgt seien.

Das war meine erste Begegnung mit dem kleinen, alten Mann. Mit sich selber tat er sehr geheimnisvoll; er wolle seinen Namen jetzt noch nicht nennen, sagte er. Und nachdem ich ihm noch einige Fragen beantwortet hatte, verließ er mich vor dem Eingang zu Blavitski. Ich bemerkte, daß er beim Bezahlen der Rechnung eine Handvoll Goldstücke aus der Tasche zog. Merkwürdig war es, wie er immer wieder die körperliche Gesundheit ganz besonders betonte. Wie wir es verabredet hatten, bewarb ich mich noch am selben Tag um eine hohe Lebensversicherung in einer ersten Versicherungsgesellschaft, und die ärztlichen Beiräte der Gesellschaft liefen mir in den nächsten acht Tagen fast das Haus ein. Aber auch das genügte ihm noch nicht, und er bestand darauf, ich müsse mich auch noch von dem berühmten Dr. Henderson untersuchen lassen. Es wurde Freitag in der Pfingstwoche, ehe er zu einer Entscheidung kam. Ganz spät am Abend – fast neun Uhr war es – rief er mich von den chemischen Gleichungen, über denen ich für mein Physikum büffelte, hinunter. Er stand im Hausflur unter der schwachen Gasflamme, und sein Gesicht war ein groteskes Durcheinander von Schatten. Er erschien mir noch zusammengefallener als das erstemal, und seine Wangen waren noch hohler.

Seine Stimme bebte vor Erregung. »Alles ist zu meiner Zufriedenheit ausgefallen, Mr. Eden,« sagte er. »Alles ist ganz und gar zu meiner Zufriedenheit ausgefallen. Und auf jeden Fall müssen Sie heute abend mit mir essen und Ihre – Thronbesteigung feiern.« Ein Hustenanfall unterbrach ihn. »Sie werden nicht lange zu warten brauchen,« fuhr er fort, sich mit dem Taschentuch die Lippen wischend, und griff mit seiner langen, knöchernen Klaue nach meiner Hand. »Ganz gewiß nicht mehr lange!«

Wir traten auf die Straße und riefen eine Droschke heran. Ganz deutlich besinne ich mich noch auf jede Einzelheit jener Fahrt – die rasche, angenehme Bewegung, der lebhafte Kontrast zwischen Gas- und Öllaternen und elektrischem Licht, das Menschengedränge in den Straßen, das Restaurant in Regent Street, zu dem wir fuhren, und das üppige Abendbrot, das uns serviert wurde. Anfänglich brachten mich die Blicke, die der Kellner auf meinen groben Anzug warf, ein bißchen aus der Fassung, und die Kerne der Oliven genierten mich; aber als der Champagner mein Blut erwärmte, lebte meine Zuversicht wieder auf. Erst sprach der alte Mann von sich selber. Seinen Namen hatte er mir schon in der Droschke genannt: er war Egbert Elvesham, der große Philosoph, dessen Name mir schon von meinen Schuljahren her vertraut war. Ich konnte es kaum glauben, daß der Mann, dessen Intellekt schon so frühzeitig den meinen beherrscht hatte, diese große Abstraktion, sich plötzlich in dieser gebrechlichen, vertrauten Erscheinung verwirklichen sollte. Ich denke mir, jeder junge Mensch, der plötzlich unter Berühmtheiten geraten ist, hat etwas von meiner Enttäuschung durchgemacht. Elvesham sprach mir jetzt von der Zukunft, die die schwachen Ströme seines Lebens in Bälde trocken zurücklassen würden – für mich –! Von Häusern, Autorrechten, Kapitalanlagen; nie hatte ich geahnt, daß Philosophen so reich sein könnten. Fast mit einem Anflug von Neid sah er mir zu, wie ich aß und trank. »Was für eine Fähigkeit zu leben Sie haben!« sagte er und fügte dann mit einem Seufzer – einem Seufzer der Erleichterung, kam es mir damals vor, – hinzu: »Lang' dauert es nicht mehr.«

 

»O ja!« sagte ich – der Kopf wirbelte mir schon vor Sekt – »ich habe ja vielleicht eine Zukunft vor mir – und zwar eine ganz besonders angenehme, dank Ihrer Güte! Ich werde von jetzt ab die Ehre haben, Ihren Namen zu tragen. Aber Siehaben eine Vergangenheit. Und eine Vergangenheit, die meine ganze Zukunft aufwiegt.«

Er schüttelte den Kopf und lächelte – wie es mir schien, mit einer halbtraurigen Anerkennung meiner schmeichelhaften Bewunderung. »Ihre Zukunft!« sagte er – »würden Sie sie – ganz ehrlich – wirklich eintauschen?« Der Kellner kam eben mit Likören. »Sie werden vielleicht nicht ungern meinen Namen, meine äußere Stellung annehmen; aber würden Sie tatsächlich – und gern – meine Jahre auf sich nehmen?«

»Mit all dem, was Sie geleistet haben – ja!« sagte ich artig.

Er lächelte wieder. »Kümmel – zwei!« befahl er dem Kellner und wandte dann seine Aufmerksamkeit einem kleinen Papierpäckchen zu, das er aus der Tasche gezogen hatte. »Solche Stunden,« sagte er, »solche Nach-Mahlzeits-Stunden sind die Stunden der kleinen Dinge des Lebens. Da hab' ich ein Stückchen unveröffentlichter Weisheit.« Er öffnete das Päckchen mit seinen zitternden, gelben Fingern und zeigte mir ein kleines, mattrosa Pulver.

»Das –« fuhr er fort – »nun, Sie sollen selber raten, was es ist. Aber Kümmel – wenn man bloß die Spur von dem Pulver hier dareinstäubt – ist der reine Himmel!« Und seine großen, blaßgrauen Augen beobachteten mich mit einem unergründlichen Ausdruck.

Fast hatte es für mich etwas Verletzendes, daß dieser große Meister seinen Geist mit dem Aroma von Likören beschäftigen konnte. Trotzdem tat ich, als interessiere ich mich sehr für diese seine kleine Schwäche; ich war schon betrunken genug für solch kleine Kriechereien.

Er verteilte das Pulver in die kleinen Gläser, und indem er plötzlich mit seltsamer und unerwarteter Würde sich erhob, streckte er mir seine Hand entgegen. Ich tat es ihm nach, und die Gläser klangen zusammen. »Auf eine baldige Thronfolge!« sagte er und hob das Glas an die Lippen.

»Nicht darauf!« sagte ich hastig. »Nicht darauf!«

Er hielt inne. Das Glas war ungefähr in der Höhe seines Kinns, seine Augen flammten in meine.

»Auf ein langes Leben!« sagte ich.

Er zögerte. »Auf ein langes Leben!« wiederholte er dann mit einem plötzlichen bellenden Lachen; und – die Blicke ineinandergebohrt, leerten wir die kleinen Gläschen. Seine Augen hafteten fest in den meinen, und während ich das Zeug hinunterschluckte, hatte ich ein merkwürdig durchdringendes Gefühl. Der erste Tropfen auf meiner Zunge brachte mein Hirn in wütenden Aufruhr; es war, als empfände ich ein tatsächliches physisches Regen in meinem Schädel, und ein zischendes Brausen füllte meine Ohren. Ich fühlte nichts von dem Geschmack auf meiner Zunge, dem Aroma in meiner Kehle. Ich sah bloß die graue Eindringlichkeit seines Blicks, der in dem meinen brannte. Der Trank selbst, die Verwirrung meines Geistes, das Lärmen und Regen in meinem Kopf – – alles schien eine endlose Zeit zu dauern. Seltsame unklare Eindrücke von halbvergessenen Dingen wirbelten und schwanden an der Grenze meines Bewußtseins. Schließlich brach er den Bann. Mit einem plötzlichen hallenden Seufzer setzte er sein Glas nieder. »Nun?« sagte er.

»Wundervoll!« sagte ich, obschon ich das Zeug gar nicht geschmeckt hatte.

Mein Kopf wirbelte. Ich setzte mich. Mein Gehirn war ein Chaos. Dann ward mein Beobachtungsvermögen klar und scharf, als sähe ich alles in einem Konkavspiegel. Elveshams Benehmen hatte auf einmal etwas Nervöses, Hastiges. Er riß seine Uhr heraus und sah mit verzerrtem Gesicht darauf. »Sieben Minuten nach elf. Und ich muß heut' nacht ... – – sieben – fünfundzwanzig – Waterloo! Ich muß augenblicklich fort!« Er rief nach der Rechnung und kämpfte mit seinem Überzieher. Dienstbeflissene Kellner eilten herbei. Im nächsten Augenblick drückte ich ihm über dem Schutzleder einer Droschke zum Abschied die Hand – noch immer mit einem absurden Gefühl, als sei alles außergewöhnlich deutlich und scharf und einzeln ausgeprägt – so etwa – ja, wie soll ich es ausdrücken? – als sähe ich nicht bloß, sondern fühlte durch ein umgekehrtes Opernglas.

»Ah bah – – dies Zeug!« sagte er und preßte die Hand gegen die Stirn. »Ich hätt' es Ihnen nicht geben sollen. Sie werden morgen ein rasendes Kopfweh haben! Warten Sie einen Augenblick. Da!« Er händigte mir einen kleinen, flachen Gegenstand ein, der aussah wie ein Brausepulver. »Nehmen Sie das in Wasser, eh' Sie zu Bett gehen. Das andere war ein Narkotikum. Erst wenn Sie zu Bett gehen, hören Sie! Das wird Ihnen den Kopf wieder klar machen. So! Und nun ein letztesmal Ihre Hand – Futurus!«

Ich ergriff seine verschrumpften Finger. »Leben Sie wohl!« sagte er. Und nach der Art, wie er dabei die Lider senkte, dachte ich, er stehe ebenfalls ein bißchen unter der Wirkung seines hirnverdrehenden Mittels.

Noch einmal fiel ihm – mit einem Ruck – etwas ein. Er faßte in seine Brusttasche und zog ein zweites Paket heraus, diesmal eine Rolle von der Größe und Gestalt eines Rasierbestecks. »Da!« sagte er. »Fast hätt' ich es vergessen. Öffnen Sie es nicht, eh' ich komme morgen; aber nehmen Sie es jetzt mit.«

Es war so schwer, daß ich es fast hätte fallen lassen. »Schon recht!« lallte ich, und er grinste mir durch das Droschkenfenster zu, während der Kutscher sein Pferd durch einen Peitschenflitz weckte. Es war ein weißes Paket, das er mir gegeben hatte, an beiden Enden und mitten herunter rot versiegelt. »Wenn das nicht Geld ist,« dachte ich, »so ist es Platina oder Blei.«

Ich steckte es mit vieler Sorgfalt in die Tasche und wanderte mit wirbelndem Kopf durch die Regent Street-Bummler und die dunkeln Seitenstraßen hinter Portland Road nach Hause. Ich entsinne mich noch ganz deutlich meiner Gefühle während dieser Wanderung, so seltsam sie auch waren. Ich war immerhin noch so weit ich selbst, daß ich meinen sonderbaren Geisteszustand merkte und mich fragte, ob das Zeug, das ich getrunken hatte, vielleicht Opium gewesen sei – ein Gift, das außerhalb des Bereichs meiner Erfahrungen lag. Es ist jetzt schwierig zu erklären, inwiefern dieser geistige Zustand so ganz besonders eigentümlich war; am ehesten könnte man es so ungefähr als eine Art geistiger Kreuzsprünge bezeichnen. Während ich Regent Street hinaufwanderte, hatte ich in mir eine sonderbare Überzeugung, als müsse es Waterloo Station sein, und zugleich einen unerklärlichen Impuls, ins Polytechnikum zu gehen, just als ob ich in einen Zug einstiege.

Ich rieb mir die Augen, und es war Regent Street. Wie soll ich es beschreiben? Ein geschickter Schauspieler sieht einen ganz ruhig an; er schneidet eine Grimasse – und plötzlich – ein ganz anderer Mensch! Ich weiß nicht, ob es zu übertrieben klingt, wenn ich sage, daß mir in jenem Augenblick Regent Street just so vorkam? Nachdem ich mich schließlich überzeugt hatte, daß es wirklich Regent Street war, verwirrten mich allerlei phantastische Reminiszensen, die auf unerklärliche Weise auftauchten. »Hier war es,« dachte ich, »wo vor dreißig Jahren ich und mein Bruder Streit hatten.« Worauf ich, zum Erstaunen und Wohlgefallen einer Gruppe von Nachtschwärmern, in Lachen ausbrach. Vor dreißig Jahren existierte ich gar nicht, und eines Bruders hatte ich mich mein Lebtag nicht rühmen können. Das Zeug mußte ganz einfach flüssiger Wahnwitz sein; denn ein stechender Schmerz um diesen verlorenen Bruder wollte und wollte mich nicht loslassen. In Portland Road nahm die Verrücktheit wieder eine andere Form an. Ich fing an, mich auf Geschäfte zu besinnen, die längst verschwunden waren, und die Straße von heute mit der, wie sie ehedem gewesen war, zu vergleichen. Wirres und verstörtes Denken läßt sich ja gewiß wohl erklären nach alledem, was ich getrunken hatte; aber was mich beunruhigte, waren diese seltsam lebendigen Fatamorganaerinnerungen, die sich da in meinen Geist eingeschlichen hatten. Und nicht bloß die, die sich eingeschlichen hatten, sondern auch die, die verschwunden waren. Ich blieb vor der Tierhandlung von Stevens stehen und geißelte mein Hirn geradezu, um herauszufinden, in welcher Beziehung er eigentlich zu mir stand. Ein Omnibus fuhr vorüber; es klang auf und nieder wie das Rattern eines Zugs. Es war, als müßte ich diese Erinnerung aus einem fernen, tiefen, dunkeln Schacht herausgraben. »Aber natürlich!« sagte ich endlich. »Er hat mir ja zu morgen drei Frösche versprochen! Komisch, daß ich das habe vergessen können!«

Ich weiß nicht, ob man den Kindern heutzutage noch sogenannte Nebelbilder zeigt? Bei denen – das weiß ich noch – tauchte immer ein Bild auf, wie ein undeutliches Gespenst, und wuchs, bis es das vorhergehende verdrängt hatte. Genau so – schien es mir – kämpfte eine ganze Reihenfolge von neuen Empfindungen mit denen meines altgewohnten Ich.

Verwirrt und ein bißchen beängstigt ging ich über Euston Road nach Tottenham Court Road und bemerkte kaum, was für einen ungewohnten Weg ich da machte; denn sonst kürzte ich immer ab durch das dazwischenliegende Netzwerk von Seitenstraßen. Ich bog in die University Street ein und entdeckte, daß ich meine Hausnummer vergessen hatte. Nur mit großer Mühe rief ich mir meine »11« ins Gedächtnis zurück, und auch dann kam es mir vor, als sei es etwas, das irgendein längst vergessener Mensch mir gesagt hatte. Ich versuchte, meine Gedanken zu festigen, indem ich mir die Einzelheiten des Diners zurückrief; aber ums Leben konnte ich mir kein Bild von dem Aussehen meines Gastgebers machen. Ich sah ihn bloß als schattenhaften Umriß, ungefähr wie man sein eigenes Bild in einem Fenster, durch das man schaut, sehen würde. An seiner Stelle sah ich dagegen wie in einer seltsamen Vision mich selber, erhitzt, mit glänzenden Augen und sehr redselig, an einem Tisch sitzen.

»Ich muß das andere Pulver nehmen,« sagte ich. »Das wird ja immer unmöglicher!«

Ich suchte meine Kerze und die Streichhölzer – auf der falschen Seite des Flurs – und war im Zweifel, auf welchem Stockwerk mein Zimmer eigentlich lag. »Ich bin betrunken,« dachte ich. »So sicher wie was!« Und ich stolperte ganz unnötigerweise auf der Treppe, um diese Behauptung möglichst zu bestätigen.

Auf den ersten Blick kam mir mein Zimmer ungewohnt vor. »Blödsinn!« sagte ich und starrte umher. Es schien, als ob dies Aufraffen mir mein eigenes Ich zurückbrächte, und als ob das seltsame Fatamorganagefühl wieder zu dem konkreten, vertrauten würde. Da war noch immer der alte Spiegel, in dessen Rahmen meine Notizen über Eiweiß steckten. Mein vertragener Werktagsanzug lag auf dem Fußboden umher. Und trotzdem – so recht wirklich war es nicht. Ich fühlte, wie sich in meine Gedanken ein ganz seltsames Empfinden schleichen wollte, als säße ich in einem Eisenbahnwagen, in einem Zug, der eben anhielt, und als ob ich durchs Fenster auf irgendeine unbekannte Station hinausblickte. Ich umklammerte energisch den Bettpfosten, um mich meiner selbst zu vergewissern. »Wer weiß – es ist vielleicht eine Art Hellsehen!« sagte ich. »Ich muß an die Gesellschaft für Psychische Forschung schreiben.«

Ich legte die Rolle auf meinen Waschtisch, setzte mich aufs Bett und begann, mir die Stiefel auszuziehen. Es war, als wäre das Bild meiner jetzigen Empfindungen über ein anderes Bild gemalt, das immer wieder darunter hindurchkam. »Verflucht!« dachte ich. »Verlier' ich denn den Verstand? Oder bin ich an zwei Stellen zu gleicher Zeit?« Halb entkleidet schüttete ich das Pulver in ein Glas und stürzte es hinunter. Es gärte und zeigte eine kalkig-gelbe Farbe. Noch eh' ich recht im Bett war, hatten meine Gedanken sich beruhigt. Ich fühlte noch das Kissen an meiner Wange; und gleich darauf muß ich eingeschlafen sein.

 

Ich erwachte ganz plötzlich aus einem Traum von seltsamen Tieren. Ich lag auf dem Rücken. Jeder kennt ja wohl dieses schwere, aufgeregte Träumen, aus dem man zwar wach, aber seltsam niedergedrückt ersteht. Ich hatte einen sonderbaren Geschmack im Mund, ein müdes Gefühl in den Gliedern, ein Unbehagen über die ganze Haut. Ich ließ meinen Kopf regungslos auf dem Kissen liegen, in der Erwartung, daß dies Gefühl von Sonderbarkeit und Entsetzen wahrscheinlich bald wieder verschwinden, und daß ich wieder einschlafen würde. Statt dessen nahm das unheimliche Empfinden nur immer zu. Anfänglich bemerkte ich nicht, daß in meiner Umgebung irgend etwas nicht stimmte. Ein schwaches Licht war im Zimmer, so schwach, daß es sich kaum vom Dunkel unterschied, und die Möbel hoben sich als verschwommene Kleckse völligen Dunkels davon ab. Ich starrte, die Augen dicht über der Bettdecke, um mich.

Erst kam mir der Gedanke, es sei jemand ins Zimmer gedrungen, um mir meine Rolle Geld zu stehlen; aber nachdem ich ein paar Minuten still, regelmäßig atmend, um Schlaf zu simulieren, dagelegen hatte, erkannte ich, daß das bloße Einbildung war. Trotzdem ließ mich die unbehagliche Überzeugung nicht los, daß irgend etwas nicht stimmte. Mit einer Anstrengung hob ich den Kopf vom Kissen und spähte um mich ins Dunkel. Was es war, das begriff ich nicht. Ich blickte auf die undeutlichen Formen um mich her, die größeren und kleineren Finsternisse, die Vorhänge, Tisch, Kamin, Bücherständer usw. bezeichneten. Dann fing ich an, etwas Unvertrautes in diesen Formen der Dunkelheit zu entdecken. Hatte das Bett sich umgedreht? Dort drüben mußten doch die Bücherständer stehen; und etwas Verhülltes, Fahles erhob sich da, etwas, das unmöglich ein Bücherständer sein konnte, mochte ich es ansehen, wie ich wollte. Mein über einen Stuhl geworfenes Hemd konnte es nicht sein; dazu war es viel zu groß.

Ich überwand ein fast kindisches Grauen, warf die Betttücher zurück und fuhr mit dem einen Bein aus dem Bett. Anstatt von meinem Feldbett auf den Boden zu kommen, merkte ich, daß mein Fuß kaum den Rand der Matratze erreichte. Ich machte sozusagen einen zweiten Schritt und setzte mich am Rand des Bettes auf. Neben meinem Bett mußte auf dem zerbrochenen Stuhl die Kerze mit den Streichhölzern stehen. Ich streckte die Hand aus – – Nichts! Ich fuhr mit der Hand im Dunkeln herum, und sie schlug gegen ein Etwas von weichem, dickem Stoff, das bei der Berührung ein leises Rauschen ertönen ließ. Ich packte es und zog daran; es schien ein vom Kopfende meines Bettes herabhängender Vorhang zu sein.

Ich war jetzt völlig wach und fing an zu begreifen, daß ich in einem fremden Zimmer lag. Das verwirrte mich. Ich versuchte, mich der Umstände des vorhergehenden Abends zu entsinnen, und fand auf einmal, sonderbarerweise, daß sie mir ganz lebhaft in Erinnerung standen: wie wir zu Abend aßen, wie ich die kleinen Pakete in Empfang nahm, wie ich mich selber fragte, ob ich eigentlich betrunken sei, wie ich mich langsam auszog, wie kühl das Kissen sich gegen mein erhitztes Gesicht anfühlte. Ein plötzliches Mißtrauen überkam mich. War das gestern nacht gewesen oder die Nacht vorher? Jedenfalls – dies Zimmer war mir fremd, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich hierhergeraten war. Der undeutliche, fahle Umriß ward blasser, und ich bemerkte, daß es ein Fenster war, vor dem sich die dunkle Form eines ovalen Toilettenspiegels von der schwachen Andeutung von Morgendämmern, die durch die Gardine sickerte, abhob. Ich erhob mich; ein sonderbares Gefühl von Schwäche und Unsicherheit überraschte mich. Mit ausgestreckten, zitternden Händen ging ich langsam auf das Fenster zu, stieß aber trotzdem unterwegs mit dem Knie gegen einen Stuhl. Ich tastete hinter dem Spiegel, der groß und mit schönen Bronzeleuchtern versehen war, nach der Vorhangschnur. Aber ich fand keine. Zufällig kam mir schließlich die Quaste in die Hand, eine Feder schnappte, und die Gardine rollte in die Höhe.

Ich blickte auf eine Landschaft, die mir vollkommen fremd war. Der Himmel war bedeckt, und durch das fedrige Grau der Wolkenmassen sickerte ein schwaches, dämmeriges Halblicht. Ganz am Rand des Himmels zeigte die Wolkendecke einen blutroten Saum. Unten war alles undeutlich und verschwommen, dunkel; in der Ferne ineinanderlaufende Hügel, eine nebelhafte Masse von Gebäuden, die gleich Zinnen emporragten, Bäume – wie verschüttete Tinte – und unter dem Fenster ein Geschnörkel von schwarzen Büschen und bleichgrauen Wegen. So gar nicht vertraut war es mir, daß ich im Augenblick glaubte, ich träume noch. Ich befühlte den Toilettentisch; er schien aus irgendeinem polierten Holz gearbeitet und war ganz üppig ausgestattet – kleine Fläschchen aus Kristall und eine Bürste lagen darauf. Auch ein sonderbarer kleiner Gegenstand war da – hufeisenförmig fühlte er sich an, mit glatten, harten Vorsprüngen –, der auf einem Teller lag. Streichhölzer oder eine Kerze konnte ich nicht finden.

Ich wandte meine Augen wieder aufs Zimmer. Nun, da die Gardine aufgezogen war, traten die Möbel gleich bleichen Gespenstern aus dem Dunkel hervor. Ein riesiges Himmelbett stand da, und der Kamin an seinem Fußende hatte eine große, weiße Verkleidung, die wie Marmor schimmerte.

Ich lehnte mich gegen den Toilettentisch, schloß die Augen, öffnete sie wieder und versuchte zu denken. Das alles war viel zu wirklich, als daß es ein Traum hätte sein können. Fast neigte ich zu der Annahme, daß irgendwo in meinem Gedächtnis noch eine Lücke sein müsse – eine Folge jener seltsamen Flüssigkeit, die ich getrunken hatte. Vielleicht hatte ich meine Erbschaft schon angetreten und hatte die Erinnerung verloren an das, was zwischen heut' und dem Tag lag, an dem mir mein Glück verkündet worden war. Vielleicht, wenn ich noch ein bißchen wartete, würden die Dinge von selbst wieder klarer werden. Und doch – mein Abendessen mit dem alten Elvesham stand jetzt ganz merkwürdig lebendig und frisch in meiner Erinnerung. Der Sekt, die beflissenen Kellner – das Pulver – die Liköre. – – Ich hätte meine Seele darauf wetten können, daß all dies sich erst vor wenigen Stunden ereignet hatte.

Und dann geschah etwas – etwas so Alltägliches und doch für mich so Entsetzliches, daß mich noch heute beim bloßen Gedanken an jenen Moment schaudert. Ich sprach laut. Ich sagte: »Wie des Teufels bin ich denn hierhergeraten?«

... Und die Stimme war nicht meine Stimme.

Es war nicht meine Stimme! Die Artikulation war verwischt – die ganze Resonanz meiner Schädelknochen war anders ... Um mich meiner selbst zu vergewissern, strich ich mit der einen Hand über die andere ... Ich fühlte lose Hautfalten, die knöcherne Schlaffheit des Alters ... »Ganz gewiß –« sagte ich in der fürchterlichen Stimme, die sich da irgendwie meiner Kehle bemächtigt hatte, »ganz gewiß – – es ist nur ein Traum!« Plötzlich, als täte ich es unwillkürlich, fuhr ich mir mit den Fingern in den Mund. Meine Zähne waren weg. Meine Fingerspitzen glitten über eine welke Oberfläche ebenen, verschrumpelten Zahnfleisches. Mir ward übel vor Ekel und Entsetzen ... Ich empfand den leidenschaftlichen Wunsch, mich selber, mein eigenes Ich zu sehen, die unheimliche Veränderung, die mit mir vorgegangen war, auf einmal und in ihrem vollen Grauen mir klarzumachen. Ich wankte nach dem Kamin und tastete auf dem Sims nach Streichhölzern. Während ich dahinstolperte, überfiel mich ein bellender Husten, und ich packte das dicke Flanellnachthemd, das um mich schlotterte. Streichhölzer waren auch da keine. Und ich merkte plötzlich, daß ich kalte Hände und Füße hatte. Pustend und hustend und vermutlich auch leise vor mich hingreinend tastete ich mich zu meinem Bett zurück.