H. G. Wells – Gesammelte Werke

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5 – Die Fahrt zum Mond

Dann lösch­te Ca­vor das Licht aus. Er sag­te, wir hät­ten nicht über­mä­ßig viel Ener­gie auf­ge­spei­chert, und wir müss­ten fürs Le­sen spa­ren. Eine Zeit lang, ob es lan­ge oder kurz dau­er­te, weiß ich nicht, war nichts als lee­re Schwär­ze zu se­hen.

Eine Fra­ge schwamm aus der Lee­re her­auf. »Wie zei­gen wir?«, frag­te ich. »Wel­ches ist un­se­re Rich­tung?«

»Wir flie­gen ge­ra­de­wegs von der Erde fort, und da der Mond sei­nem drit­ten Vier­tel nahe ist, ge­hen wir ir­gend­wo auf ihn zu. Ich will eine Ja­lou­sie öff­nen –«

Es folg­te ein Klin­ken, und dann sprang ein Fens­ter in der äu­ße­ren Hül­le auf. Der Him­mel drau­ßen war eben­so schwarz wie die Dun­kel­heit in der Sphä­re, aber die Form des of­fe­nen Fens­ters wur­de durch eine un­end­li­che Zahl von Ster­nen mar­kiert.

Wer den Ster­nen­him­mel nur von der Erde aus ge­se­hen hat, kann sich sei­ne Er­schei­nung, wenn der un­be­stimm­te halb hel­le Schlei­er un­se­rer Luft ent­fernt ist, gar nicht vor­stel­len. Die Ster­ne, die wir auf der Erde se­hen, sind nur die zer­streu­ten Über­le­ben­den, die un­se­re neb­li­ge At­mo­sphä­re durch­drin­gen. Jetzt end­lich konn­te ich den Sinn der himm­li­schen Heer­scha­ren er­fas­sen!

Die­ser luft­lee­re, ster­nen­be­staub­te Him­mel! Von al­len Din­gen, glau­be ich, wird das eins der letz­ten sein, die ich ver­ges­sen wer­de!

Das klei­ne Fens­ter ver­schwand mit ei­nem Klin­ken, ein an­de­res da­ne­ben schnapp­te auf und schloss sich so­fort wie­der, und dann ein drit­tes, und einen Mo­ment muss­te ich we­gen des blen­den­den Glan­zes des ab­neh­men­den Mon­des die Au­gen schlie­ßen.

Eine Zeit lang muss­te ich Ca­vor und die weiß be­leuch­te­ten Din­ge um mich an­bli­cken, um mei­ne Au­gen wie­der ans Licht zu ge­wöh­nen, ehe ich sie auf je­nen blei­chen Glanz wer­fen konn­te.

Vier Fens­ter wa­ren of­fen, da­mit die Gra­vi­ta­ti­on des Mon­des auf alle Stof­fe in un­se­rer Sphä­re wir­ken konn­te. Ich sah, dass ich nicht län­ger frei im Rau­me schweb­te, son­dern dass mei­ne Füße in der Rich­tung nach dem Mon­de zu auf dem Gla­se ruh­ten. Die De­cken und Vor­rats­kis­ten kro­chen gleich­falls lang­sam am Glas hin­un­ter und ka­men dann so zur Ruhe, dass sie uns einen Teil des Aus­blicks ver­sperr­ten. Mir war na­tür­lich, ich blick­te hin­un­ter, wenn ich auf den Mond blick­te. Auf der Erde heißt hin­un­ter erd­wärts, wie die Din­ge fal­len, und hin­auf heißt die um­ge­kehr­te Rich­tung. Jetzt ging der Zug der Gra­vi­ta­ti­on auf den Mond zu, und nach al­lem, was ich wuss­te, war un­se­re Erde über uns. Und na­tür­lich war, wenn alle Ja­lou­si­en ge­schlos­sen wa­ren, hin­un­ter auf das Zen­trum un­se­rer Sphä­re zu, und hin­auf nach ih­rer äu­ße­ren Um­wan­dung ge­rich­tet.

Es lief auch son­der­bar ir­di­scher Er­fah­rung ent­ge­gen, dass das Licht zu ei­nem her­auf schi­en. Auf der Erde kommt das Licht von oben oder seit­lich schräg her­un­ter, aber hier kam es von un­ter un­se­ren Fü­ßen her, und um un­se­ren Schat­ten zu se­hen, muss­ten wir nach oben bli­cken.

Zu­erst ver­ur­sach­te es mir eine Art Schwin­del, dass ich nur auf dickem Gla­se stand und durch Hun­dert­tau­sen­de von Mei­len lee­ren Raums auf den Mond hin­abblick­te; aber die Übel­keit ver­ging sehr rasch. Und dann – der Glanz des An­blicks!

Der Le­ser kann es sich am bes­ten vor­stel­len, wenn er sich an ei­nem war­men Som­mer­abend auf den Bo­den legt und zwi­schen den Fü­ßen zum Mond em­por­blickt, aber aus ir­gend­ei­nem Grun­de, wahr­schein­lich, weil das Feh­len der Luft ihn so­viel leucht­kräf­ti­ger mach­te, schi­en der Mond schon be­trächt­lich grö­ßer als von der Erde aus. Die kleins­ten Ein­zel­hei­ten sei­ner Ober­flä­che wa­ren scharf zu se­hen. Da wir ihn nicht durch Luft sa­hen, war sein Um­riss hell und scharf, es lag kein Schein, kein Hof dar­um; der Ster­nen­staub, der den Him­mel be­deck­te, trat bis scharf an sei­nen Rand her­an und mar­kier­te den Um­riss sei­nes un­be­leuch­te­ten Teils. Und wie ich da­stand und zwi­schen mei­nen Fü­ßen hin­durch auf den Mond starr­te, kehr­te jene Emp­fin­dung des Un­mög­li­chen, die mich schon seit un­serm Auf­stieg im­mer wie­der be­fal­len hat­te, mit zehn­fa­cher Über­zeu­gung zu­rück.

»Ca­vor«, sag­te ich, »dies über­rascht mich wun­der­lich. Die­se Ge­sell­schaf­ten, die wir auf­tun woll­ten, und all das mit den Mi­ne­ra­li­en?«

»Ja?«

»Hier seh’ ich sie nicht.«

»Nein«, sag­te Ca­vor, »aber über all das wer­den Sie weg­kom­men.«

»Ich glau­be, ich bin da­nach ge­macht, wie­der die rech­te Sei­te nach oben zu tun. Aber dies – einen Mo­ment könn­te ich halb glau­ben, dass es nie­mals eine Welt ge­ge­ben hat.«

»Die Num­mer von Lloy­d’s News könn­te Ih­nen viel­leicht hel­fen.«

Ich starr­te das Blatt einen Au­gen­blick an; dann hielt ich es mir übers Ge­sicht und fand, dass ich es ganz leicht le­sen konn­te. Ich stieß auf eine Spal­te arm­se­li­ger klei­ner An­non­cen. »Ein Herr von pri­va­ten Mit­teln ist be­reit, Geld zu ver­lei­hen«, las ich. Den Herrn kann­te ich. Dann woll­te ein ex­zen­tri­scher Mensch ein Bi­cy­cle, »ganz neu und fünf­zehn Lire ge­kos­tet«, für fünf Pfund ver­kau­fen; und eine Dame in Not woll­te un­ter großem Op­fer über ei­ni­ge Fisch­mes­ser und Ga­beln, »ein Hoch­zeits­ge­schenk«, ver­fü­gen. Ohne Zwei­fel un­ter­such­te eine ein­fa­che See­le die­se Mes­ser und Ga­beln ver­stän­dig, ein an­de­rer fuhr tri­um­phie­rend auf je­nem Fahr­rad da­von, und ein drit­ter frag­te, noch wäh­rend ich las, ver­trau­ens­voll bei je­nem wohl­wol­len­den Herrn von Mit­teln an. Ich lach­te und ließ das Blatt aus den Hän­den schwe­ben.

»Sind wir von der Erde aus zu se­hen?«, frag­te ich.

»Wa­rum?«

»Ich kann­te je­man­den, der sich ziem­lich für Astro­no­mie in­ter­es­sier­te. Mir fiel ein, es wäre recht ge­lun­gen, wenn – mein Freund – zu­fäl­lig ge­ra­de durch ein Te­le­skop blick­te.«

»Es wür­de das mäch­tigs­te Te­le­skop der Erde dazu ge­hö­ren, uns jetzt noch als win­zi­gen Punkt zu se­hen.«

Eine Zeit lang starr­te ich schwei­gend auf den Mond.

»Es ist eine Welt!«, sag­te ich, »man fühlt das un­end­lich viel stär­ker als je auf der Erde. Vi­el­leicht sind Men­schen – –«

»Men­schen!«, rief er aus. »Nein! Ver­ban­nen Sie all das! Be­trach­ten Sie sich als eine Art ul­tra-ark­ti­schen Rei­sen­den, der die ödes­ten Orte des Raums er­forscht. Se­hen Sie hin!«

Er schwenk­te die Hand nach der leuch­ten­den Wei­ße un­ten.

»Er ist tot – tot! Un­ge­heu­re, er­lo­sche­ne Vul­ka­ne, La­va­wild­nis­se, über­ein­an­der­ge­türm­te Schnee­wüs­ten, oder ge­fro­re­ne Koh­len­säu­re, oder ge­fro­re­ne Luft, und über­all Erd­rut­schris­se und Spal­ten und Ab­grün­de. Nichts ge­schieht. Die Men­schen ha­ben die­sen Pla­ne­ten seit über zwei­hun­dert Jah­ren sys­te­ma­tisch mit Te­le­sko­pen be­ob­ach­tet. Was mei­nen Sie, wie viel Ver­än­de­rung ha­ben sie be­ob­ach­tet?«

»Kei­ne.«

»Sie ha­ben zwei un­be­streit­ba­re Erd­rut­sche kon­sta­tiert, einen zwei­fel­haf­ten Riss, und einen leich­ten pe­ri­odi­schen Farb­wech­sel, und wei­ter nichts.«

»Ich wuss­te nicht ein­mal, dass das kon­sta­tiert ist.«

»O ja. Aber Men­schen!«

»Ne­ben­bei«, frag­te ich, »wie klei­ne Din­ge wird das größ­te Te­le­skop auf dem Mon­de zei­gen?«

»Man wür­de eine mit­tel­große Kir­che se­hen. Auf je­den Fall könn­te man Städ­te oder Ge­bäu­de oder al­les, was von Men­schen­hand stamm­te, se­hen. Es könn­ten viel­leicht In­sek­ten vor­han­den sein, et­was wie Amei­sen zum Bei­spiel, die sich in tie­fen Bau­ten vor der Mond­nacht ver­ber­gen, oder ir­gend­ei­ne neue Art Ge­schöp­fe, die kei­ne ir­di­sche Par­al­le­le ha­ben. Das ist das Wahr­schein­lichs­te, wenn wir über­haupt Le­ben vor­fin­den soll­ten. Den­ken Sie an die Ver­schie­den­heit der Be­din­gun­gen! Das Le­ben muss sich an einen Tag an­pas­sen, der so lang ist wie vier­zehn Er­den­ta­ge, an eine wol­ken­lo­se Son­nenglut von vier­zehn Ta­gen; und dann an eine Nacht von glei­cher Län­ge, die un­ter die­sen kal­ten, schar­fen Ster­nen im­mer käl­ter und käl­ter wird. In die­ser Nacht muss eine Käl­te herr­schen! die äu­ßers­te Käl­te, das ab­so­lu­te Null, 273 Grad Cel­si­us un­ter dem ir­di­schen Ge­frier­punkt. Was auch an Le­ben noch vor­han­den ist, muss das durch­win­tern und je­den Tag wie­der auf­ste­hen.«

Er sann. »Man kann sich et­was Wur­mar­ti­ges vor­stel­len«, sag­te er, »et­was, was sei­ne Luft in fes­tem Zu­stand zu sich nimmt, wie ein Re­gen­wurm Erde schluckt, oder dick­häu­ti­ge Un­ge­heu­er – –«

»Ne­ben­bei«, sag­te ich, »warum ha­ben wir kei­ne Flin­te mit­ge­nom­men?«

Er be­ant­wor­te­te mei­ne Fra­ge nicht. »Nein«, schloss er, »wir ha­ben eben ein­fach hin­zu­ge­hen. Wir wer­den ja se­hen, wenn wir da sind.«

Mir fiel et­was ein. »Na­tür­lich blei­ben mei­ne Mi­ne­ra­li­en, auf je­den Fall«, sag­te ich, »wel­ches auch die Be­din­gun­gen sind.«

Bald dar­auf sag­te er mir, er wün­sche un­sern Kurs ein we­nig zu ver­än­dern, in­dem er die Erde einen Au­gen­blick an uns zie­hen las­se. Er woll­te eine der Ja­lou­si­en erd­wärts auf drei­ßig Se­kun­den öff­nen. Er warn­te mich, mir wür­de der Kopf schwim­men, und er riet mir, die Hän­de ge­gen das Glas aus­zu­stre­cken, um mei­nen Fall zu hem­men. Ich tat, wie er sag­te, und stemm­te die Füße ge­gen die Bal­len der Nah­rungs­kis­ten und luft­dich­ten Zy­lin­der, da­mit sie nicht auf mich stürz­ten. Dann sprang das Fens­ter mit ei­nem Klin­ken auf. Ich fiel plump auf Hän­de und Ge­sicht und sah einen Mo­ment lang un­se­re Mut­ter Erde zwi­schen mei­nen schwar­zen, aus­ge­spreiz­ten Fin­gern – einen Pla­ne­ten am Him­mel un­ter mir.

 

Wir wa­ren noch sehr nah – Ca­vor sag­te mir, die Ent­fer­nung be­tra­ge viel­leicht acht­hun­dert Mei­len – und die rie­si­ge Erd­schei­be füll­te den gan­zen Him­mel. Aber schon war deut­lich zu se­hen, dass die Welt eine Ku­gel war. Das Land un­ter uns lag un­be­stimmt im Zwie­licht, aber west­lich leuch­te­ten die un­ge­heu­ren grau­en Flä­chen des At­lan­ti­schen Ozeans un­ter dem wei­chen­den Tag wie ge­schmol­ze­nes Sil­ber. Ich glau­be, ich er­kann­te die wol­ken­ver­dun­kel­ten Küs­ten­li­ni­en von Frank­reich und Spa­ni­en und Sü­deng­land, und dann schloss sich die Ja­lou­sie wie­der mit ei­nem Klin­ken, und ich merk­te, wie ich in ei­nem Zu­stand merk­wür­di­ger Ver­wir­rung lang­sam über das glat­te Glas hin­ab­glitt.

Als sich die Din­ge schließ­lich in mei­nem Geist wie­der be­ru­hig­ten, schi­en es ganz au­ßer Fra­ge, dass der Mond »un­ten« war und un­ter mei­nen Fü­ßen, und dass die Erde ir­gend­wo fern auf der Flä­che des Ho­ri­zon­tes lag – die Erde, die mir vom An­fang der Din­ge an »un­ten« und mit mir ver­wandt ge­we­sen war!

So ge­ring wa­ren die von uns er­for­der­ten An­stren­gun­gen, so leicht mach­te die prak­ti­sche Ver­nich­tung un­se­res Ge­wich­tes al­les, was wir zu tun hat­ten, dass uns fast sechs Stun­den lang nach un­se­rem Aufflug (nach Ca­vors Chro­no­me­ter) nicht das Be­dürf­nis kam, eine Er­fri­schung zu neh­men. Ich war über die Zeit, die ver­lau­fen war, ver­blüfft. Selbst da war ich mit sehr we­nig be­frie­digt. Ca­vor un­ter­such­te den Ap­pa­rat zur Auf­nah­me von Koh­len­säu­re und Was­ser und sag­te, er sei in ge­nü­gen­der Ord­nung, un­ser Ver­brauch an Sau­er­stoff sei au­ßer­or­dent­lich ge­ring ge­we­sen. Und da un­ser Ge­spräch vor­läu­fig er­schöpft war, wir auch wei­ter nichts zu tun hat­ten, so ga­ben wir ei­ner son­der­ba­ren Schläf­rig­keit nach, die uns über­fal­len hat­te, brei­te­ten un­se­re De­cken auf dem Bo­den der Sphä­re in der Wei­se aus, dass sie den größ­ten Teil des Mond­scheins ab­sperr­ten, wünsch­ten ein­an­der gute Nacht und schlie­fen fast un­mit­tel­bar dar­auf ein.

Und so fie­len wir, schla­fend und bis­wei­len plau­dernd und ein we­nig le­send, hin und wie­der auch es­send, wenn auch ohne jede Schär­fe des Ap­pe­tits,1 doch meis­tens in ei­ner Art Ruhe, die we­der Schlaf, noch Wach­heit war, einen Zeit­raum hin­durch, der we­der Tag noch Nacht ein­schloss, still, sanft und ge­schwind zum Mond hin­un­ter.

1 Es ist selt­sam, dass wir, so­lan­ge wir in der Sphä­re wa­ren, nicht das ge­rings­te Ver­lan­gen nach Nah­rung hat­ten, noch auch die Ent­beh­rung emp­fan­den, wenn wir fas­te­ten. Erst zwan­gen wir un­sern Ap­pe­tit, aber spä­ter fas­te­ten wir völ­lig. Im gan­zen ha­ben wir nicht den hun­derts­ten Teil der kom­pri­mier­ten Vor­rä­te ver­braucht, die wir mit­ge­nom­men hat­ten. Auch die Men­ge von Koh­len­säu­re, die wir aus­at­me­ten, war un­na­tür­lich nied­rig, aber warum das so war, bin ich gänz­lich au­ßer­stan­de zu er­klä­ren. <<<

6 – Die Landung auf dem Mond

Ich er­in­ne­re mich, wie Ca­vor ei­nes Ta­ges plötz­lich sechs un­se­rer Lä­den öff­ne­te und mich so blen­de­te, dass ich ihn laut an­schrie. Die gan­ze Flä­che war Mond, ein stu­pen­der Krumm­sä­bel wei­ßen Ta­ge­s­an­bruchs, des­sen Rand mit Schar­ten des Dun­kels aus­ge­zackt war, die halb­mond­för­mi­ge Küs­te ei­ner eb­ben­den Flut der Dun­kel­heit, aus der Spit­zen und Zin­nen in den Glanz der Son­ne em­por­ge­klet­tert ka­men. Ich neh­me an, der Le­ser hat Bil­der oder Fo­to­gra­fi­en des Mon­des ge­se­hen, so­dass ich die brei­te­ren Züge je­ner Land­schaft nicht schil­dern brau­che: jene ge­räu­mi­gen, ring­ar­ti­gen Ket­ten, wei­ter als alle ir­di­schen Ge­bir­ge, de­ren Gip­fel im Tage leuch­ten, de­ren Schat­ten scharf und tief ab­set­zen; jene grau­en, wir­ren Ebe­nen, die Gra­te, Hü­gel und Kra­ter­chen, die alle zu­letzt aus blen­den­der Be­leuch­tung in ein ge­mein­sa­mes Ge­heim­nis der Schwär­ze über­ge­hen. Quer über die­ser Welt flo­gen wir, kaum noch hun­dert Mei­len über ih­ren Käm­men und Gip­feln. Und jetzt konn­ten wir se­hen, was von der Erde aus kein Auge je­mals se­hen wird, dass un­ter der Glut des Ta­ges die schar­fen Um­ris­se der Fel­sen und Schluch­ten der Ebe­ne und des Kra­ter­bo­dens un­ter ei­nem dich­ter wer­den­den Ne­bel grau und un­deut­lich wur­den, dass das Weiß ih­rer er­leuch­te­ten Flä­chen sich in Klum­pen und Fle­cken brach, und wie­der brach und schrumpf­te und ver­schwand, und dass hier und dort selt­sa­me brau­ne und oliv­far­be­ne Töne wuch­sen und sich aus­brei­te­ten.

Aber wir hat­ten jetzt kei­ne Zeit zum Beo­b­ach­ten. Denn jetzt wa­ren wir zu der wirk­li­chen Ge­fahr un­se­rer Rei­se ge­kom­men. Wir muss­ten dem Mond, wie wir dar­um kreis­ten, im­mer nä­her sin­ken, muss­ten un­se­re Ge­schwin­dig­keit ver­lang­sa­men und auf un­sern Au­gen­blick war­ten, bis wir es schließ­lich wa­gen konn­ten, uns auf sei­ne Ober­flä­che fal­len zu las­sen.

Für Ca­vor war es eine Zeit in­ten­si­ver An­stren­gung; für mich war es eine be­sorg­te Un­tä­tig­keit. Es schi­en, ich ging ihm fort­wäh­rend aus dem Wege. Er sprang mit ei­ner Be­hän­dig­keit, die auf der Erde un­mög­lich ge­we­sen wäre, in der Sphä­re von Punkt zu Punkt um­her. Er schloss und öff­ne­te wäh­rend die­ser letz­ten, er­eig­nis­rei­chen Stun­den die Ca­vo­rit­fens­ter be­stän­dig, stell­te Be­rech­nun­gen an und blick­te mit Hil­fe der Glüh­lam­pe auf sei­nen Chro­no­me­ter. Eine lan­ge Zeit hin­durch hat­ten wir all un­se­re Fens­ter ge­schlos­sen und hin­gen schwei­gend im Dun­kel, wäh­rend wir durch den Raum jag­ten.

Dann tas­te­te er nach den Ja­lou­sie­knöp­fen, und plötz­lich wa­ren die Fens­ter of­fen. Ich tau­mel­te und hielt mir die Au­gen zu, über­flu­tet und ver­sengt und ge­blen­det von dem un­ge­wohn­ten Glanz der Son­ne un­ter mei­nen Fü­ßen. Dann schnapp­ten die Lä­den wie­der zu, und mir schwamm das Ge­hirn in ei­nem Dun­kel, das mir auf die Au­gen drück­te. Und dar­auf schwamm ich wie­der in ei­ner un­ge­heu­ren, schwar­zen Stil­le.

Dann dreh­te Ca­vor das elek­tri­sche Licht auf und sag­te mir, er schla­ge vor, ge­gen den Stoß un­se­rer Lan­dung all un­ser Ge­päck mit den De­cken dar­um zu­sam­men­zu­bin­den. Wir ta­ten dies bei ge­schlos­se­nen Fens­tern, weil sich un­se­re Wa­ren da von sel­ber im Zen­trum der Sphä­re an­ord­ne­ten. Auch das war ein son­der­ba­res Ge­schäft; wir zwei Män­ner, die lose in die­sem sphä­ri­schen Raum schweb­ten und pack­ten und Stri­cke zo­gen! Man stel­le es sich vor, wenn man es kann! Kein oben oder un­ten, und jede An­stren­gung mit un­er­war­te­ten Fol­gen! Bald wur­de ich mit der vol­len Kraft von Ca­vors Stoß ge­gen das Glas ge­schleu­dert, bald trat ich hilf­los in eine Lee­re hin­ein. Bald war der Stern des elek­tri­schen Lichts zu Häup­ten, bald zu Fü­ßen. Bald schwam­men mir Ca­vors Füße vor den Au­gen her­um, und bald la­gen wir ver­quer ge­gen­ein­an­der. Aber schließ­lich wa­ren un­se­re Gü­ter in ei­nem großen, wei­chen Bal­len si­cher zu­sam­men­ge­bun­den, nur zwei De­cken mit Knopflö­chern blie­ben drau­ßen, da­mit wir uns hin­ein­wi­ckeln konn­ten.

Dann öff­ne­te Ca­vor auf einen Blitz ein Fens­ter mond­wärts, und wir sa­hen, dass wir auf einen rie­si­gen Zen­tral­kra­ter mit ei­ner An­zahl klei­ne­rer Kra­ter in eine Art Kreuz hin­ein­grup­piert, zu­fie­len. Und dann öff­ne­te Ca­vor un­se­re klei­ne Sphä­re von neu­em der sen­gen­den, blen­den­den Son­ne. Ich glau­be, er be­nutz­te die An­zie­hungs­kraft der Son­ne als Brem­se. »Wi­ckeln Sie sich in eine De­cke«, rief er, in­dem er sich von mir fort­s­tieß, und einen Mo­ment lang ver­stand ich nicht.

Dann zog ich mir die De­cke un­ter den Fü­ßen her­vor und zog sie mir über Kopf und Au­gen. Plötz­lich schloss er die Lä­den wie­der, schnapp­te einen an­de­ren auf und wie­der zu, und dann be­gann er sie un­ver­mit­telt alle auf­zu­schnap­pen, je­den si­cher in sei­ne Stahl­rol­le. Es gab einen Krach, und dann über­schlu­gen und über­schlu­gen wir uns, flo­gen ge­gen das Glas und den großen Bal­len un­se­res Ge­päcks und klam­mer­ten uns an­ein­an­der, und drau­ßen spritz­te ein wei­ßer Stoff, als roll­ten wir einen Schnee­hang hin­ab …

Kop­f­über, bumps, plumps, bums, plumps, kopf­über …

Dann kam ein Stoß und ich war halb un­ter dem Bal­len un­se­res Be­sit­zers ver­gra­ben, und eine Zeit lang war al­les still. Dann konn­te ich Ca­vor schnau­ben und grun­zen hö­ren, und das Schnap­pen ei­nes La­dens in sei­nem Ge­schie­be. Ich mach­te eine An­stren­gung, warf un­ser de­cken­um­wi­ckel­tes Ge­päck zu­rück und tauch­te von dar­un­ter auf. Un­se­re of­fe­nen Fens­ter wa­ren eben als ein mit Ster­nen be­setz­tes tiefe­res Schwarz sicht­bar.

Wir wa­ren noch am Le­ben und wir la­gen im Dun­kel des Schat­tens der Mau­er des großen Kra­ters, in den wir ge­fal­len wa­ren.

Wir sa­ßen und ver­schnauf­ten uns und fühl­ten nach den Quet­schun­gen auf un­sern Glie­dern. Ich glau­be, wir bei­de hat­ten so raue Be­hand­lung, wie wir er­hal­ten hat­ten, nicht ge­ra­de sehr deut­lich er­war­tet. Ich ar­bei­te­te mich müh­sam auf die Füße. »Und jetzt«, sag­te ich, »auf die Mond­land­schaft hin­aus­zu­bli­cken! Aber –! Es ist schau­er­lich dun­kel, Ca­vor!«

Das Glas war be­taut, und wäh­rend ich sprach, rieb ich es mit mei­ner De­cke. »Wir sind eine hal­be Stun­de oder so vor dem Tage«, sag­te er. »Wir müs­sen war­ten.«

Es war un­mög­lich, ir­gend et­was zu er­ken­nen. Wir hät­ten nach dem, was ich se­hen konn­te, in ei­ner Stahl­sphä­re sein kön­nen. Mein Rei­ben mit der De­cke ver­schmier­te das Glas ein­fach, und so schnell ich auch rieb, es wur­de wie­der vor frisch kon­den­sier­ter Feuch­tig­keit un­durch­sich­tig, die sich mit ei­ner wach­sen­den Men­ge von De­cken­haa­ren misch­te. Na­tür­lich hät­te ich die De­cke nicht ge­brau­chen dür­fen. Bei mei­nen An­stren­gun­gen, das Glas zu klä­ren, glitt ich auf der feuch­ten Flä­che aus und ver­letz­te mir das Schien­bein an ei­nem der Sau­er­stoff­zy­lin­der, der aus dem Bal­len her­aus­rag­te.

Die Sa­che war auf­re­gend – es war ab­surd. Hier wa­ren wir ge­ra­de auf dem Mond an­ge­kom­men, mit­ten un­ter wir wuss­ten nicht wel­chen Wun­dern, und al­les, was wir se­hen konn­ten, war die graue und le­cken­de Wand der Bla­se, der Bla­se, in der wir ge­kom­men wa­ren.

»Zum Hen­ker!«, sag­te ich, »aber auf die Art hät­ten wir zu Hau­se blei­ben kön­nen;« und ich hock­te mich auf den Bal­len hin, zit­ter­te vor Käl­te und zog mei­ne De­cke dich­ter um mich zu­sam­men.

Plötz­lich ver­wan­del­te sich die Feuch­tig­keit in Eis­flit­ter und Blu­men. »Kön­nen Sie den elek­tri­schen Hei­zer er­rei­chen«, frag­te Ca­vor. »Ja – der schwar­ze Knopf. Sonst er­frie­ren wir.«

Ich ließ mir das nicht zwei­mal sa­gen. »Und jetzt«, sag­te ich, »was sol­len wir an­fan­gen?«

»War­ten«, sag­te er.

»War­ten?«

»Na­tür­lich. Wir wer­den zu war­ten ha­ben, bis un­se­re Luft wie­der warm wird, und dann wird dies Glas klar wer­den. Bis da­hin kön­nen wir nichts tun. Hier ist jetzt Nacht; wir müs­sen war­ten, bis der Tag uns ein­holt. Un­ter­des – spü­ren Sie kei­nen Hun­ger?«

Eine Zeit lang ant­wor­te­te ich ihm nicht, son­dern saß da und wü­te­te. Ich wand­te mich nur wi­der­stre­bend von der ver­schmier­ten Glas­s­tel­le ab und starr­te ihm ins Ge­sicht. »Ja«, sag­te ich, »ich bin hung­rig. Ich füh­le mich ir­gend­wie un­ge­heu­er ent­täuscht. Ich hat­te er­war­tet – ich weiß nicht, was ich er­war­tet hat­te, aber dies nicht.«

Ich nahm mei­ne Phi­lo­so­phie zu­sam­men, schlang mei­ne De­cke von neu­em um mich, setz­te mich wie­der auf den Bal­len und be­gann mei­ne ers­te Mahl­zeit auf dem Mond. Ich glau­be nicht, dass ich sie vollen­det habe – ich weiß nicht mehr. Als­bald kam, erst stel­len­wei­se, dann rasch in wei­te­re Flä­chen aus­ein­an­der­lau­fend, die Klä­rung des Gla­ses, kam die Auf­he­bung des Ne­bel­schlei­ers, der un­sern Au­gen die Mond­welt ver­bor­gen hat­te.

Wir späh­ten auf die Land­schaft des Mon­des hin­aus.