Der taube Himmel

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Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
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3

Tora ging nach der Schule in den Supermarkt und kaufte zwei Pakete Binden. Sie steckte sie schnell in das Plastiknetz zu den Schulbüchern. Erst als sie auf dem Weg nach draußen war, fiel ihr ein, dass sie sich etwas zu essen hätte kaufen sollen. Aber sie konnte einfach nicht noch einmal hineingehen. Es roch da drinnen so stark nach Fleisch.

Den ganzen Tag hatte sie durch die Menschen hindurchgesehen. Sie lösten sich vor ihr auf.

Jeder hatte seinen Lichtschimmer. Meistens in bläulichen Nuancen. Aber auch in roten und gelben. Besonders um die Köpfe. Das machte sie unnahbar und unwirklich. Tora hielt sie von sich fern. Einmal strich Jon im Korridor an ihr vorbei. Er hatte ein weißes Licht um sich. Sie fühlte sich verschwitzt und schmutzig. Er hob eine Hand, als ob er sie anfassen wollte. Sie floh hinter die Toilettentür.

Sie fühlte wieder so etwas wie Einsamkeit. Saß dort, bis es zur Stunde schellte.

Alle standen in Gruppen oder zu zweit da. Ein paarmal streifte sie der Gedanke, dass sie nur in irgendeinen Kreis hineinzugehen und so zu tun brauchte, als ob sie dazugehörte. Aber es wurde nichts daraus.

In den beiden ersten Stunden war es ganz gut gegangen. Sie hatte die Entschuldigung abgeliefert. Die Pausen waren schlimmer. Meistens hielt sie sich auf der Toilette auf. Hoffte, der aufsichtführende Lehrer würde nicht merken, dass sie immer von dort kam, wenn es klingelte.

Frau Ring, die sie in Englisch hatten, kommentierte laut, dass sie noch nicht gesund aussehe. Ob sie nicht zu früh aufgestanden sei? Und das Licht um Frau Rings Kopf explodierte. Frau Ring fragte vorsichtig, ob sie Aufgaben gemacht habe, ob jemand mit den Aufgaben bei ihr gewesen sei.

Tora räusperte sich und sagte, dass sie ab den Aufgaben für Samstag drei Seiten weiter gelernt habe. Sie wurde starke Verben abgefragt. Konnte antworten. War froh, dass sie irgendwie mit dabei war.

»Danke!«, sagte Frau Ring und machte hinter Toras Namen ein Zeichen.

Die Wände beugten sich über Tora. Lange. Als sie aufsah, war sie nicht mehr im Kreis. Ihre Minute war vorüber. Alle Blicke hafteten an dem, der jetzt abgefragt wurde.

Da entdeckte sie es: dass die Telefondrähte, die von der Hauswand zu dem Pfosten bei der Eingangspforte führten, voller Spatzen waren. Spatzen! Winzig kleine Vögel, die zurückgekommen waren. Warum? Wozu kamen sie? Wussten sie nicht, was für ein Leben Vogeljunge heutzutage zu erwarten hatten? Und das Licht um Frau Rings Kopf wurde zu einem kleinen roten Nest aus Handtüchern, in dem ein bläulicher kleiner Vogel saß. Er pfiff ein bisschen heiser. Als ob er nicht genug Luft bekäme.

Tora dachte nicht an die englischen Verben.

Die Stimmen kamen und gingen, sie sah die Münder sich wie in einer Welle bewegen. Sie fing bei Frau Ring an und pflanzte sich durch die ganze Klasse fort. Aber sie konnte nicht hören, was gesagt wurde. Sie dachte an Frits. Er hörte auch nichts. Zum ersten Mal verstand sie, wie das war. Die Kugellampen schwankten leicht über ihrem Kopf. Im Takt, als ob jemand sie in Bewegung gesetzt hätte. Anne drehte sich zu ihr um, öffnete den Mund, und es wogte und wogte. Und es galt nicht ihr. Sie hatten alle ihr Licht, ihre Wellen.

Es war die letzte Stunde. Die Augen: Sandpapier auf einer Wunde. Sie trödelte lange, nachdem es geklingelt hatte. Wartete, bis alle gegangen waren. Als sie nach draußen an die Luft kam, hatte sie das Gefühl, tagelang die Treppen im Tausendheim geputzt zu haben, während die Haustür zu dem eiskalten Schnee hin offen stand, und hinter jeder Schmutzspur, die sie weggeputzt hatte, wurde neuer Schmutz gemacht.

Sie war in ihr Zimmer gegangen, hatte sich angezogen hingelegt und war eingeschlafen. Um vier Uhr kam Frau Karlsen in einem neuen schwarzen Kleid herauf und lud sie zum Kaffee ein. Tora hatte die Tür nicht abgeschlossen. Sie schaute schnell an sich hinunter, wie es ihr zur Gewohnheit geworden war, bevor sie Frau Karlsen bat hereinzukommen. Ob sie noch nicht gesund sei? Frau Karlsens Stimme klang aufgesetzt teilnahmsvoll. Ob sie ein paar Schnittchen nach oben haben wolle? Tora zwang sich zu antworten. Sie setzte sich auf und klagte, dass sie sich noch ziemlich elend fühle. Frau Karlsen möge bitte entschuldigen, aber sie könne nicht nach unten kommen …

Eine fremde Frau mit einem harten, stechenden Blick kam mit einem Tablett. Sie war in Schwarz, wie Frau Karlsen, und trug um beide Handgelenke schwere Armbänder. Sie sagte »Bitte« und »Lass dir’s gut schmecken« und versuchte ein paar Worte mit Tora zu wechseln, während ihre Augen wie Motten umherschwirrten – Tora erkannte ihre Stimme wieder. Sie hatte sie durch die Wand gehört. Sie glich einer der bösen Gestalten aus Alice im Wunderland. Oder war sie eine der Figuren, die auf den Spielkarten abgebildet waren?

Tora aß.

Noch hatte sie Ingrids Brief nicht geöffnet. Sie fasste den Entschluss, nie mehr auf die Insel zurückzukehren. Kaute die sorgfältig zurechtgeschnittenen Brote und dachte immer wieder daran.

Dann setzte sie sich an den Tisch und holte die Bücher hervor. Brauchte viel Zeit. Es flimmerte und barst vor ihren Augen. Ingrids Brief wuchs aus der Tischschublade und klebte sich an alles, was sie in die Hand nahm. Schließlich zog sie ihn langsam heraus und schlitzte ihn mit einer Stricknadel auf.

Ingrid schrieb vom Wetter. Vom Ausbleiben der Fische, so dass sie ohne Verdienst sei und Tora ein wenig auf das Geld warten müsse, das sie zum Leben brauche. Eine Woche? Die Buchstaben kamen ihr entgegen wie einsame blaue Spuren im Schnee. Kreisten um ihre Arme. Sie baten Tora zu sparen, so dass sie jedenfalls Ostern nach Hause kommen könne. Die Buchstaben schwebten um ihre schmerzenden Schultern, die sie bis zu den Ohren hinaufgezogen hatte. Sie musste den Kopf schützen. Warum las sie diesen Brief? Er hatte nichts mit ihr zu tun. Sie konnte und wollte diese Ingrid nicht erreichen.

Tora wechselte die Binde und lernte Geschichte.

Gegen Abend stiegen sie in Grüppchen die Treppe herauf, klapperten mit den Kofferdeckeln und raschelten in ihren Zimmern mit irgendwelchen Sachen. Sie war sich nicht ganz sicher, wie Frau Karlsen alles überstanden hatte. Sie hörte sie nicht, zunächst. Ein ungutes Gefühl beschlich Tora. Trugen sie nicht schwere Gegenstände durch die Halle? Schleppten sie nicht etwas hinter sich her? Überall war Durcheinander, und endlich hörte Tora Frau Karlsens erregte Stimme, die »gute Fahrt« wünschte. Dann fiel die Haustür ins Schloss, und die letzten Gäste verschwanden wie unwillige Krebse die Treppe hinunter und in ihren Autos. Kurz darauf hörte sie jemanden pfeifen, Love me tender, love me true. Es war Frau Karlsen.

Sie stand auf dem Gipfel des Veten und stürzte den Berg hinunter. Sie sah sich selbst in der Geröllhalde liegen. Nein, es war Almar! Ganz zerschlagen. Sie näherte sich ihm sehr schnell, und gerade als sie auf die großen grauen Steine stieß, sah sie das Vogeljunge. Jemand hatte es ausgegraben.

Sie kämpfte eine Weile mit der Decke, ehe sie ganz wach wurde. Dann ging sie zum Fenster, das nur einen Spaltbreit offen war, und öffnete es weit gegen die dunkle Nacht. Die Luft kam wie ein Schmerz auf sie zu. Eine Erinnerung an etwas, das sie früher empfunden hatte.

Allmählich wurde sie ruhig. Und die Wiese mit den Gänseblümchen wuchs vertrauensvoll bis hinauf an das Fensterbrett der ersten Etage. Sie nahm deutlich den Geruch wahr. Es tropfte gleichmäßig aus der Dachrinne.

Als sie sich wieder zum Raum umdrehte, sah sie direkt auf die Wand über dem Bett. Das abscheuliche Gemälde von dem Schiff im Sturm. Düstere Farben. Hässlich mit der polierten, verschönernden Gischt. Sie war augenblicklich beim Bett, nahm das Bild von der Wand, hielt es einen Moment vor dem Fenster hoch, bereit, es hinauszuwerfen. Sie stand ratlos vor dem offenen Fenster, das Gemälde über den Kopf haltend.

Es wurde ihr schwindlig vor Anstrengung. Die Arme sanken herunter.

Sie stellte das Bild mit der Vorderseite zur Wand draußen im Gang neben die Tür.

Sie hätte nach dem Vogeljungen in der Geröllhalde sehen sollen, aber es ging nicht. Denn da hätte sie alle Blumen zertreten müssen. Dass jemand das kleine Grab gefunden hatte, war wohl unmöglich. Der Löffel hatte gründliche Arbeit geleistet. Jedes Mal, wenn sie auf den Löffel schaute, der in der Schublade lag, war sie ihrer Sache sicher. Das Vogeljunge war gut verborgen. Niemand sollte es schänden können. Jedes Mal, wenn sie mit hoher Geschwindigkeit durch den Himmel fiel und das offene kleine Grab sah, gelang es ihr, sich zu wecken, ehe es zu spät war.

Der Himmel war überall so offen. Das war ihr unangenehm. Die Luft war so klar. Alles war durchsichtig und lastete wie ein Druck auf ihr. Jede Nacht jagte sie über den Himmel und hinunter auf die Geröllhalde. Jede Nacht endete sie vor dem offenen Fenster. Der Abfluss war so groß. Während sie dahinraste, spürte sie den Wind auf der Haut. Im Gesicht. War leer wie ein flatterndes Kopfkissen auf der Leine im Wind.

Sie stand in Frau Karlsens Badewanne. Das Wasser strömte an ihr herunter. Warmes Wasser. Ihr schwindelte in endlosen Augenblicken.

Langsam seifte sie sich ein. Die Haare. Den Körper. Spülte sich ab und seifte sich erneut ein. Es war schon lange her, dass sie etwas als so wohltuend empfunden hatte. Man konnte sich darin ausruhen. Die Muskeln und die Haut bekamen wieder Leben. Unter dem Wasserstrahl. Sie wärmte sich. Erfrischte sich. Sie war sie selbst, so wie sie es vorher nie gewesen war.

Ein paarmal spürte sie den Boden unter sich weichen, wenn sie in das Loch sah, durch welches das Seifenwasser mächtig schäumend und ruckweise in den Abfluss gesaugt wurde. Rosa. Sie konnte sich nicht an das viele Blut gewöhnen. Einmal musste doch Schluss sein. Sie sollte sich doch wohl nicht zu Tode bluten.

 

Seifengeruch. Sie spülte die Haare, die sich spröde und sauber anfühlten, wenn sie mit den Fingern durchfuhr. Der Dampf stand wie eine Wolke vor dem kleinen halboffenen Fenster hoch oben an der Wand. Der Plastikvorhang mit seinen grellen violetten Blumen hing steif herunter. Alles war fremd, aber schön. Sie hatte das Gefühl, es vorher nie gesehen zu haben.

Sie trocknete sich sorgfältig ab. Zog frische Wäsche an. Ließ das weite Hemd über den Jeans hängen. Hatte eine richtige Binde im Schritt, als ob sie ganz normal ihre Tage hätte.

Sie riss das Fenster wegen des Dampfes weit auf, wagte aber nicht, die Tür zur Küche zu öffnen. Frau Karlsen war nur einkaufen gegangen, sie konnte jederzeit zurückkommen. Tora hatte die Erlaubnis zu baden. Trotzdem durfte Frau Karlsen sie nicht im Bad sehen. Es half auch nichts, dass sie angezogen war. Die Spuren könnten sie verraten. Unerwartet. Katastrophal. Nur ein winzig kleines Detail.

Das Mädchen von der Insel spürte die Blicke im Nacken – auf dem Schulhof, in den Fluren oder auf der Straße. Sie war nie gesprächig gewesen. Aber jetzt schien sie die Sprache vollkommen verloren zu haben. Nur wenn sie die Aufgaben abgefragt wurde, brachte sie eine Art an sich selbst gerichtetes Flüstern zustande. Eine Stimme, die so wenig benutzt wurde, dass sie immer von neuem versuchen musste, einen Klang zu finden. Die Sätze kamen direkt aus dem Buch, durch das Mädchen hindurch und in den Raum. Es war, als ob ein Tonbandgerät in ihrem Magen säße. Aber im Übrigen konnte man von ihr nichts hören.

Vor allem Anne versuchte, Kontakt zu ihr zu bekommen. Ob sie ins Kino gehen wollten? Ins Café? Tora hatte tausend Entschuldigungen. Man kam nicht an sie heran. Seit sie damals im Herbst ohnmächtig geworden war, war in den Augen der anderen etwas Geheimnisvolles an ihr hängen geblieben. Sie sprach nie über sich selbst. Die anderen wussten kaum, wo sie wohnte. Sie war glatt wie ein Aal. Saß an ihrem Tisch. Ging in den Pausen hinaus. Erhob sich auf Kommando wie ein Soldat und leierte ihre Aufgaben herunter. Schrieb, was ihr diktiert wurde. Alles gleichermaßen ausdruckslos, wie ein Roboter.

4

Ingrid wartete auf Post von Tora. Schließlich wusste sie sich keinen anderen Rat mehr, als nach Bekkejordet zu gehen und Simon und Rakel zu fragen, ob sie das Telefon benutzen dürfe.

Nach Worten suchend, erklärte sie, dass sie Ingrid Toste sei. Toras Mutter. Ob Tora krank sei, weil sie nicht schreibe.

Frau Karlsen zeigte freundliche Teilnahme. Ja, Tora habe eine unangenehme Grippe gehabt und im Bett gelegen, aber das sei schon eine Woche her. Die Schulaufgaben hätten sie wohl am Schreiben gehindert. Sie sei immer zu Hause, immer ruhig und ordentlich. Ja, die beste Untermieterin, die sie je gehabt habe. Es sei schön, einen Menschen im Haus zu haben, wenn man Witwe geworden sei. Sie habe ja viele Jahre allein gelebt, natürlich, weil der Mann krank und bettlägerig und im Altersheim gewesen sei. Und das sei gutgegangen. Aber es sei doch etwas anderes, zu wissen, dass man allein war. Ingrid machte vorsichtig, aber entschieden Schluss und legte auf.

»Was hat sie gesagt?«, fragte Rakel und sah die Schwester fragend an.

»Dass sie Witwe geworden ist.«

»Witwe?«

»Ja, Frau Karlsen. Aber die Tora war nicht da. Sie lernt sicher so viel, dass sie keine Zeit zum Schreiben hat … Sie hat die Grippe gehabt …«

»Aber hat sie dir nicht gesagt, wann die Tora nach Haus kommt?«

»Ich hab vergessen zu fragen. Sie hat so viel geredet. Ich hab direkt Kopfschmerzen davon.«

Rakel lachte und schenkte noch mehr Kaffee ein. »Ja, ja, nun kommt sie Ostern wohl, du wirst schon sehn.«

Ingrid schaute auf die Tischdecke. »Ich glaub fast, dass sie nicht kommt!«

»Warum sollte sie denn nicht kommen?«

»Sie ist seit Weihnachten nicht mehr zu Haus gewesen. Ja, sie hat natürlich auch nicht genug Geld, um zu fahren. Geld hat sie von mir nicht grad viel bekommen.«

»Liebe Ingrid, da hätt sie ja wohl schreiben können, wenn sie blank ist.«

»Nein, die Tora nich.«

»Soll ich ihr denn ’n paar Kronen schicken?«

»Nein, was ich ihr geschickt hab, reicht bestimmt bis Ostern.«

Rakel fasste Ingrid am Arm. »Aber da haste doch getan, was du konntest. Und wenn sie nur Geld bis Ostern hat, dann muss sie ja nach Haus kommen.«

»Sie schreibt ja auch nicht.«

»Vielleicht hat sie sich verliebt.«

»Die Wirtin hat gesagt, dass sie nie fortgeht. Ich bin ganz unruhig deswegen. Ich denk überhaupt an nichts andres mehr, als was die Tora macht.«

»Das versteh ich gut.«

Wie so oft, wenn sie zusammensaßen und redeten, hielt Ingrid den Blick gesenkt. Es irritierte Rakel auch diesmal. Aber sie ließ es sich nicht anmerken. Ingrid hatte ihre Gründe.

Und Rakels Kümmernisse wurden dagegen zu einer Bagatelle. Wirklich kein Grund, sich wichtig zu machen. Das Geschäft blühte in dieser Saison wie noch nie. Den Schafen ging es gut im Stall, und der Frühling und der Almauftrieb standen bereits vor der Tür.

Rakel hatte weniger Schmerzen. Sie wusste wohl, dass das Übel noch da saß. Aber die Ärzte hatten ihr Leben und Gesundheit so gut wie versprochen. Sie reiste immer wieder zur Behandlung nach Oslo. Hatte sich schon fast ans Reisen gewöhnt.

Sie stellte sich vor, es sei eine Ferientour. Versuchte, nicht daran zu denken, dass sie ins Krankenhaus musste, zu Bestrahlung und Untersuchungen, Proben. Übernachtete in Bodø im Hotel, bevor sie das Flugzeug nach Süden nahm. Ging in Geschäfte. Ins Kino. Hatte in sich einen versiegelten Raum, in dem sie alles versteckte, was ekelhaft und krank war. Aber jedes Mal, wenn sie in den breiten Türen des Krankenhauses stand, war die Gerichtsverhandlung im Gange.

Auf dem Heimweg graute ihr bereits vor der nächsten Tour. Die Sehnsucht nach Simon war ein Garten voller Früchte, von denen sie nicht zu essen wagte. Sie schien sich einzubilden, dass sie dafür bestraft würde. Deshalb kaufte sie sich etwas zum Anziehen, statt ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Satinblusen. Moderne Faltenröcke mit glattem Hüftteil. Alle Arten von Schuhen. Je mehr Warnungen sie über die Krankheit bekam, umso mehr suchte sie Zuflucht in diesen Nichtigkeiten. Sie war sich selbst klar darüber. Lächelte bitter über ihr eigenes Verhalten.

Aber wenn sie Ingrids Sorgen sah, ihre Plackerei, damit es vorne und hinten reichte, wurden ihre eigenen Kümmernisse so klein.

Sie wünschte, sich in Ingrids Schoß ausweinen und Erleichterung finden zu können. Aber das war unmöglich. Ingrid würde auch das noch auf sich nehmen und Rakels Krebs der langen Kette von Schicksalsschlägen hinzufügen, die sie jeden Tag im Tausendheim in sich verschloss. Hätte Ingrid doch etwas mehr Fähigkeit zur Freude gehabt!

»Soll ich mal nachhören, wie es ihr geht? In der Schule anrufen?«, fragte sie vorsichtig.

»Nein«, sagte Ingrid müde.

»Ich find, du solltest das hier nicht so schwernehmen. Du wirst schon sehn, da ist irgendein Grund. Mach dir doch nicht solche Sorgen. Davon wird’s auch nicht besser.«

»Du hast gut reden«, murmelte Ingrid. Sie zog sich den verschlissenen Mantel an. »Du hast kein Kind, an das du denken musst.«

»Nein, da haste recht, Ingrid«, sagte Rakel mit flammenden Wangen.

Es erstaunte sie jedes Mal, wenn Ingrid sie verletzte. Es war jedes Mal der gleiche Schock. Sie glaubte immer, es sei unmöglich, so etwas von Ingrid gesagt zu bekommen. Aber sie konnte ihr nicht widersprechen. Konnte es nicht, weil sie überzeugt war, dass die andere gar nicht ahnte, was sie Schlimmes gesagt hatte. Manche Menschen merkten nie, dass sie eine tödliche Lawine auslösen konnten.

Und Rakel, die sonst über alles ungeniert redete, sank in sich zusammen und verbarg ihre Wunden vor ihrer einzigen Schwester.

Rakel legte den Napfkuchen auf einen geblümten Teller mit gebogenem Rand. Sie hielt den Teller gegen das Licht und betrachtete ihn einen Augenblick. Als ob sie ihn auf Katzenhaare oder eine andere Unreinlichkeit hin inspizieren wollte. Dann stellte sie ihn entschlossen ab.

»Der Henrik sagt, das ist der Dank dafür, dass ich sie auf die Schule nach Breiland schick. Es steigt ihr zu Kopf. Zu Haus ist ihr nichts mehr gut genug. Er meint, dass sie schon Weihnachten bockig und trotzig war«, murmelte Ingrid.

»Ach so, der Henrik sagt das.« Rakel grinste nicht einmal.

Ingrid verstand trotzdem die Spitze und senkte den Kopf. Hatte gelernt, den Kopf zu beugen. Das konnte sie am besten.

»Ja, ich weiß, was du vom Henrik hältst. Er trägt in alle Zukunft einen Stempel. Aber du kannst ihm ja wohl gönnen, eine Meinung über die Sache zu haben.«

»Ich gönn dem Henrik alles Gute, meine Liebe. Und ich hab den Henrik bis zum Geht-nicht-mehr verteidigt, ob das nun bei dem Gerichtsverfahren war oder zu Haus, wenn ich mit dem Simon gestritten hab. Jetzt will ich davon nichts mehr hören. Aber ich hab nie gesehn, dass der Henrik sich bemüht hätte, anderen das Leben zu erleichtern. Das muss ich doch mal sagen, wenn wir schon dabei sind.«

»Was meinste?«

»Stell dich nicht so dumm! Hat er jemals auch nur den kleinen Finger gerührt, um für dich oder Tora irgendetwas zu tun? Das weißte wohl. Wie ihr miteinander auskommt, wenn ihr allein seid, das geht mich nichts an … Ich mein nur, du solltest dich von ihm scheiden lassen!«

Sie hatte es ausgesprochen. Ohne Einleitung. Hart. Ohne Umschweife. Der Nachklang war das Schlimmste.

Von Ingrid kam kein Laut.

»Ja! Liebste ihn denn etwa?«

Rakel schrie es heraus wie eine Anklage. Stand da, die Hände in die Seiten gestemmt. Mit halb offenem Mund. Bereit, den nächsten Satz herauszuschleudern. Bereit, Ingrid in Grund und Boden zu reden, wenn sie sich verteidigte. Sie zu überzeugen. Sie von sich selbst zu erlösen. Zum ersten Mal störte sie die schnurrende Katze auf der Torfkiste.

Ingrid legte den Kopf auf den Tisch, schützte ihn mit ihren dünnen Armen, so gut sie konnte.

Rakel betrachtete sich selbst. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut. Sie schämte sich so, dass ihre Wangen brannten. Wusste nicht, was schwerer wog: ihr eigener Hochmut – oder dass sie ihn dazu benutzt hatte, sich für einen gedankenlosen Satz über ihre Kinderlosigkeit zu rächen. Es ging ihr auf, dass es vielleicht nur wenige gab, die bereit waren, Mensch für andere Menschen zu sein. Dass sie da keine Ausnahme bildete. Aber sie war nicht fähig, die Hand auszustrecken und Ingrid zu berühren. Es war, als ob etwas sie festhielte.

Sie ging zögernd durch den Raum und wischte die Krümel vom Küchenschrank, um Zeit zu gewinnen.

»Kümmer dich nicht um das, was ich sag, Ingrid.«

»Ich weiß nicht, was mit mir los ist, dass ich so wenig aushalte …« Ingrid hielt die Tränen zurück und zog ein Taschentuch hervor.

»Du hast es nicht gut, Ingrid. Du hast zu viel Verantwortung, zu viel Schinderei. Du solltest einen Mann haben, der ’n bisschen auf dich aufpasst, nicht einen, der kritisiert, dass die Tora auf die Schule geht, und der dir das Leben sauer macht.«

»Der Henrik hat’s auch nicht so leicht …«

Rakel hat plötzlich das ekelhafte Gefühl, sich zu langweilen. Sie weiß, dass sie ein paar tröstende Worte finden müsste. Ablenken davon, dass Tora weit weg und Henrik ewig schlechter Laune ist – bis irgendetwas Ingrids Stimmung wieder aufhellt. Aber sie steht einfach da und langweilt sich. Hat das Gefühl, dass sie mit Ingrid nicht wie mit einer Ebenbürtigen reden kann. Weiß nicht, warum sie sich doppelt so alt fühlt, obwohl Ingrid älter ist und viel, viel mehr erlebt hat. Sie hat immer mit Erstaunen festgestellt, dass Ingrid nie etwas aus all dem lernt, durch das sie hindurchmuss. Ingrid wird nur immer tüchtiger bei ihrer Arbeit. Hat keinen Drang zur Auflehnung, keinen Trotz, schluckt Hass und Groll herunter – und lässt sich immer wieder schlagen.

Ingrid raffte den alten Mantel um sich, stand auf und war bei der Tür. Sie sah Rakel mit einem seltsamen Blick an. »Nein, ich muss jetzt machen, dass ich wegkomm, es ist schon spät …«

Ihre Stimme klang wie gewöhnlich.

Rakel blieb stehen.

Sie sah, wie Ingrid die Gartentür öffnete und wieder schloss, ohne ein Auge auf das Haus oder das Küchenfenster zu werfen. Sah sie die Hügel hinuntergehen. Langsam. Stetig. Alles war gesagt.

Nichts war gesagt. Nichts war entschieden.

Kurz bevor Ingrid in dem Wäldchen verschwand, kam Rakel zu sich. Sie riss die Tür zum Windfang auf und ergriff das erste Beste, was sie da draußen fand. Simons Stalljacke. Schlüpfte in ein Paar abgeschnittene Stiefel und stürmte taumelnd auf dem matschigen Weg Ingrid nach. Erreichte sie schnell. Sprang sie von hinten an und hielt sie fest.

 

»Ich bin einfach schrecklich, Ingrid!«

Ingrid fuhr sich mit steifen Händen über das Gesicht. »Du willst doch nur in allem Ordnung haben. Ordnung …«

Rakel begleitete Ingrid die Hügel hinunter bis zu den ersten Häusern. Da kehrte sie um, weil sie nur die Stalljacke und die abgeschnittenen Stiefel anhatte. Sie zeigte an sich hinunter und lachte. Sie lachten beide ein wenig.

»Ich versuch, mehr über Tora zu erfahren, dann komm ich zu dir runter.«

Ingrid nickte. »Ich bin’s ja nur, die sich aufregt. Du hast ja recht. Was soll denn hier auf der Insel aus Tora werden? Ich bin auch mal von hier geflohn … Danach war’s zu spät. Es ist, als ob alles mich erstickt hätte – und es mir ermöglichte zu leben, ohne zu atmen.«

Sie hob die Hand zum Gruß. Eine schwerelose Bewegung. Ein heimliches Verstehen. Wie damals, als sie junge Mädchen gewesen waren und sich stritten, aber genötigt gewesen waren, wieder Freundinnen zu werden, weil sie nur einander hatten. Gemeinsamen Kummer. Gemeinsame Geheimnisse. Gemeinsame Schrammen und Träume.

Der Schnee war trotz allem zusammengeschrumpft auf den Wiesen und Äckern. Er schmolz am Waldrand und in den Gräben. Aber der Frost biss Rakel in die Ohren.