Totenstille am See

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„Wieso bist du hier an diesem Tatort in Troisdorf?“, frage Susanne, nachdem auch sie ihre Überraschung überwunden hatte.

„Das ist eine lange Geschichte. Ich bin vor zwei Monaten nach Bonn versetzt worden. Und du? Du warst doch in Stuttgart?“

„Ach ja, auch das ist eine lange Geschichte. Ich bin seit fast einem halben Jahr hier in Bonn in der Rechtsmedizin und es gefällt mir recht gut – viel besser als in Stuttgart.“

Es entstand eine peinliche Pause. Eisenstein fühlte sich unwohl, in der Situation. Nicht nur um die Pause zu überbrücken, sondern auch aus wirklichem Interesse, meinte er spontan: „Wir können ja mal ein Bier zusammen trinken.“

Fast hätte er hinzugefügt: „So wie früher.“

„Dann hätten wir Zeit, auch für lange Geschichten“, fuhr er stattdessen fort.

Irgendwie brachen alte, verdrängte Gefühle bei Eisenstein wieder auf. Wahrscheinlich hatte Susanne die damalige Trennung gut verkraftet und hegte keinen Groll mehr gegen ihn. Er war sich seiner Sache, oder besser gesagt, seiner Gefühle nicht so sicher.

„Okay. Machen wir. Ich ruf dich an“, entgegnete Susanne ebenso spontan.

Eisenstein war überrascht – und erfreut über diese Zusage. Doch wie sagte man hier im Rheinland? „Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps.“

Und jetzt war er im Dienst.

„Prima. Doch jetzt zu unserem Toten hier. Kannst du bereits etwas sagen?“

„Nein. Ich kann nicht viel sagen. Wir müssen den Mann erst einmal an Land ziehen. Ich schlage vor, du wartest noch die Obduktion ab. Im Augenblick kann ich nur sagen, dass der Tod in der letzten Nacht, vielleicht so gegen Mitternacht eingetreten ist. Mord oder Unfall kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Wenn ich das alles hier so sehe, die leeren Bierflaschen, würde ich fast auf einen Unfall tippen.“

„Okay, ich verstehe. Es sieht tatsächlich so aus, als ob er zu viel getrunken hat, stolperte und in den See fiel“, stimmte Eisenstein zu.

„Konntest du feststellen, wer der Tote ist?“, fragte Eisenstein.

„Ja, ich bin ein, zwei Meter ins Wasser hineingegangen. Der See ist hier am Ufer sehr flach. Dort konnte ich immer noch stehen. In der Innentasche seiner Jacke habe ich seine Angelpapiere gefunden. Sein Name ist Franz Bertram. Vierundfünfzig Jahre alt. Hier die Papiere. Die Anschrift kannst du daraus entnehmen. Er wohnt drüben in Troisdorf-Müllekoven“, gab Susanne als Auskunft und reichte ihm die Angelpapiere, die durch das Wasser aufgequollen waren. Zum Glück war die Schrift noch lesbar.

„Ich würde sagen, wir sehen uns morgen bei der Obduktion. Solltest du heute noch neue Erkenntnisse gewinnen oder den Termin der Obduktion für Montag konkret festgemacht haben, ruf mich an“, entgegnete Eisenstein, der im Stillen hoffte, dass sie mit dem Anruf bis morgen warten würde. Er wollte sich heute noch mit Inka um die Wohnung kümmern. Zumindest wollten sie sich eingehend besprechen. Vor allem aber musste er diese Begegnung verdauen und sich über seine Gefühle klar werden.

Eisenstein drehte sich abrupt um und verließ den Leichenfundort. Susanne schüttelte leicht ungläubig ihren Kopf. Charmant, wie sie ihn kannte, hatte Eisenstein ihr zu verstehen gegeben, dass er Ergebnisse wollte, und die möglichst schnell. Sie würde wohl Montag die Obduktion der Leiche vornehmen. Geplante andere Termine musste sie verschieben, denn Eisenstein konnte grantig werden, wenn er auf wichtige Ergebnisse warten musste.

Im Grunde ihres Herzens freute sich Susanne, dass sie Frank getroffen hatte. Wahrscheinlich würden sie in Zukunft öfter miteinander arbeiten. Damals war sie enttäuscht und hasste ihn, da sie seine Gründe für die Trennung nicht verstand und nicht akzeptieren konnte. In den vier Jahren hatte sie viel erlebt. Die eine oder andere Beziehung war zerbrochen und sie konnte heute verstehen, warum Eisenstein damals kurz nach seiner zweiten Scheidung keine Beziehung mehr wollte. Die Angst vor einer weiteren Enttäuschung sitzt in solchen Situationen sehr tief. Ihr ging es jetzt genauso.

Aber wieso sollte sie keine Freundschaft mit einem vertrauten Kollegen eingehen? Sie würde ihn Montag anrufen. Die Zusage zu einem Bier mit ihm war ihr ernst. Sie freute sich darauf.

„Man wird sehen, wie sich das mit Frank weiterentwickelt“, sagte sie sich zuversichtlich.

Eisenstein betrat wieder den Pfad, der am See entlangführte. Inzwischen hatte er sich wieder einigermaßen im Griff und vom unerwarteten Zusammentreffen mit Susanne erholt. Sein Kollege Manfred Schmitz kam ihm entgegen. So einfach wie sein Name, war auch sein Wesen. Er war zwar sehr willig, aber Kombinationsgabe oder gar eine Spürnase besaß er nicht. Außerdem konnte er den oft unregelmäßigen Dienst nicht mit seinem Familienleben vereinbaren. Immerhin war er mit Leib und Seele Vater von drei Töchtern im Alter von zwei, drei und fünf Jahren, denen er gerne seine freie Zeit widmen wollte. Nach einem ausführlichen Gespräch mit seinem Vorgesetzten, hatte er daher bereits vor längerer Zeit ein Versetzungsersuchen für den Innendienst gestellt. Seine Stelle als Kommissar war bereits ausgeschrieben, und sobald ein geeigneter Bewerber gefunden war, würde seinem Versetzungswunsch stattgegeben werden.

Wie fast immer trug er eine fleckige Jeans und eine zerknitterte Schimanski-Jacke.

„Guten Morgen“, begrüßte er Eisenstein.

„Dort drüben steht der Jogger, der den Toten gefunden hat. Möchten Sie mit ihm sprechen?“ Schmitz zeigte mit dem Arm weiter den Pfad entlang, auf dem sie standen.

„Haben Sie bereits mit ihm gesprochen?“

„Natürlich. Aber der kann nichts Wesentliches sagen. Während seiner Joggingrunde um den See hat er die Angelstelle von der gegenüberliegenden Seite gesehen. Da er den Verdacht hatte, eine Person liege im Wasser, ist er zur Angelstelle gerannt und hat dort den Toten gefunden. Von zu Hause hat er die Polizei verständigt. Meiner Meinung nach kommt er sich sehr wichtig vor, kann aber zur Aufklärung nichts beitragen. Wir haben Abdrücke seiner Laufschuhe genommen, um sie von den übrigen Abdrücken am Fundort zu unterscheiden“, berichtete Schmitz eifrig.

„Er hat von zu Hause aus angerufen?“, fragte Eisenstein nach.

„Ja, ja. Sie wissen doch. Jogger tragen kein Handy bei sich – zu viel Gewicht“, Manfred Schmitz grinste über seine eigene witzige Bemerkung.

„Da ihm niemand mit einem Handy begegnet war, ist er nach Hause gelaufen und hat von dort sofort angerufen“, berichtete Schmitz jetzt wieder mit ernster Miene. „Dann will ich mir auch einmal den Jogger ansehen. Kommen Sie bitte mit“, bat Eisenstein und machte sich bereits auf den Weg in die gezeigte Richtung.

Schmitz beeilte sich, mit dem Kommissar Schritt zu halten.

„Das ist der Zeuge, der den Toten gefunden hat“, stellte Schmitz den Mann vor, der durch seine Kleidung unverwechselbar als Jogger erkennbar war.

Enge schwarze Leggings, ein verschwitztes, langärmeliges T-Shirt in greller, gelber Farbe. Seine Füße steckten in weißen Laufschuhen, die offensichtlich bereits oft getragen worden waren, denn an der Stelle, wo sich der große Zeh befand, war das Obermaterial der Schuhe durchgescheuert.

Er war groß. Eisenstein schätzte ihn auf fast zwei Meter, was für einen Jogger eher ungewöhnlich war. Ansonsten wirkte er sympathisch und lächelte Eisenstein und Schmitz freundlich zu.

„Ich bin Kommissar Eisenstein und leite die Ermittlungen in diesem Fall.“

Der Mann gab Eisenstein höflich die Hand, die er vorher kurz an seiner Hose abwischte. Wahrscheinlich war sie noch von der Anstrengung des Laufes, eher jedoch vor Aufregung, verschwitzt.

„Dann berichten Sie bitte, wie Sie den Toten gefunden haben. Laufen Sie hier regelmäßig, und kennen Sie vielleicht den Toten?“

Der Jogger berichtete ausführlich, dass er hier um den See regelmäßig laufe, und dass er die Angelstelle von der gegenüberliegenden Seite des Sees gesehen hatte. Schließlich berichtete er, wie er den toten Angler gefunden hatte. Nein, kennen würde er den Toten nicht, beendete er seinen Bericht.

Ohne die Schilderung des Zeugen zu unterbrechen, hatte Eisenstein aufmerksam zugehört und sich einige Notizen in einem kleinen Buch gemacht, das die Größe eines Taschenkalenders hatte.

„Vielen Dank. Nun laufen Sie mal nach Hause. Sie holen sich sonst noch eine Erkältung in Ihrer verschwitzten Kleidung. Wenn ich noch Fragen habe, rufe sich Sie an. Mein Kollege hat ja Ihre Telefonnummer notiert“, sagte Eisenstein mit einem fragenden Blick zu Schmitz, der kurz nickte.

„Ja, danke. Aber ich bin jetzt mit meinem PKW hier. Auf Wiedersehen.“

Der Jogger drehte sich um und verschwand hinter der nächsten Biegung des Pfades.

„Ich bin dann auch mal weg. Bleiben Sie bitte hier, bis die Kollegen fertig sind. Danke. Wir sehen uns morgen“, sagte Eisenstein zu Manfred Schmitz gewandt.

„Einen Augenblick noch. Auf dem Parkplatz, auf dem wir alle geparkt haben, Sie wahrscheinlich auch, steht der Wagen des Toten. Ein alter Mercedes. Nehmen Sie die Schlüssel an sich?“

Manfred Schmitz reichte Eisenstein ein Schlüsselbund.

„In Ordnung. Ich werde ihn der Familie geben, wenn der Wagen von uns abgeschleppt und untersucht wurde“, sagte Eisenstein und steckte den Schlüsselbund in seine Hosentasche.

Er hatte es mit einem Male eilig. Inka wartete sicher bereits ungeduldig auf ihn, und vorher musste er noch die Ehefrau oder die Angehörigen des Toten aufsuchen und informieren. Er hasste diese Aufgabe. In manchen Fällen reagierten die Angehörigen fassungslos und verzweifelt. Andere wiederum erlitten einen Schock und waren völlig teilnahmslos. Manche bemühten sich Fassung zu bewahren, andere waren überraschend gelassen. Er fühlte sich in den meisten Fällen völlig hilflos, auch wenn es sich um eine traurige Routinetätigkeit handelte. Geschult für solch eine Aufgabe wurde er nicht, zumindest nicht ausreichend. Anderseits war die erste Begegnung mit den Angehörigen in vielen Fällen recht aufschlussreich, insbesondere wenn die Angehörigen natürlich reagierten. Diese Reaktion wollte er unbedingt sehen und hatte es sich daher zur Aufgabe gemacht, immer selbst den Angehörigen die traurige Nachricht zu überbringen.

 

„Wahrscheinlich handelt es sich hier nur um einen dummen Unfall“, dachte er.

Damit drehte er sich um und verschwand in Richtung Parkplatz.

Bevor er in seinen Wagen einstieg, verbrauchte er ein vollständiges Päckchen Papiertaschentücher, um seine Lackschuhe einigermaßen zu säubern. Das würde ihm nicht noch einmal passieren, schwor er sich.

Mit seinen Gedanken war er wieder bei der neuen Wohnung. Vielleicht sollten sie doch eine Wohnung direkt in Bonn suchen. Da wäre sicherlich mehr Leben und Abwechslung als in diesem kleinen Vorort Troisdorf-Bergheim. Nur sie sollten schnell eine Wohnung finden, denn lange mochte er den jetzigen Zustand nicht mehr ertragen. Sein gesamtes Mobiliar befand sich noch in seiner alten Wohnung. Lediglich den größten Teil seiner Kleidung und einige Classic-CDs hatte er mitgenommen.

Immer wieder kam es vor, dass er zur alten Wohnung fahren musste, um irgendetwas zu holen. Dieser Zustand missfiel ihm in höchstem Maße. Im Grunde war er ein Mensch, der seine Ordnung und sein gemütliches Heim benötigte, damit er vom Arbeitsstress abschalten konnte. Der jetzige Zustand war da in höchstem Maße kontraproduktiv.

„Warum nur musste sich die Wohnung in dieser Einöde befinden?“, dachte er immer wieder.

Und dann beschäftigten ihn noch einige andere Fragen.

„Wie verhalte ich mich Susanne gegenüber?“

Und: „Wieso war ich ihr gegenüber so verlegen. Kribbelte es sogar bei mir im Bauch?“

„Nein“, entschied er, „für solche Gefühle bin ich schon zu alt und habe zu viel erlebt.“

Er wunderte sich über sich selbst, dass seine Gedanken immer wieder zu seiner Freundin und zu einer möglichen Wohnung abdrifteten. Und jetzt beschäftigten sich seine Gedanken auch noch mit Susanne.

Nein, er lehnte es ab, als sich ein Chaos in seinem Gehirn breitmachen wollte. Er musste faktisch und klar denken. Alles der Reihe nach und dann Entscheidungen mit dem klaren Verstand treffen.

Gewaltsam versuchte er, sich auf seine berufliche Aufgabe zu konzentrieren. Diese hatte jetzt unbedingt Priorität.

Wen würde er von Franz Bertrams Familie antreffen? Vielleicht die hysterische Ehefrau, die bereits seit Stunden auf ihren Mann wartete?

Oder die Tochter oder den Sohn, die vielleicht gar nicht wussten, dass ihr Vater über Nacht weg war?

Was sollte er ihnen sagen? Er hatte doch noch keine verlässlichen Ergebnisse. Sollte er von einem Unfall sprechen? Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf seine Intuition und Schlagfertigkeit zu verlassen.

Mit finsterer Miene programmierte er sein Navigationsgerät, startete den Wagen und fuhr los.

4. Kapitel

Müllekoven ist der kleinste, der zwölf Stadtteile von Troisdorf. Die Atmosphäre wird hauptsächlich durch Landwirtschaft und Obstanbau geprägt. Durch die Lage unmittelbar an der Grenze zu Bonn, ist er als Wohnort sehr begehrt. Das Naherholungsgebiet der unteren Sieg beginnt sofort am Ortsrand, und bis zur Sieg sind es nur wenige Hundert Meter.

Kommissar Eisenstein parkte seinen Wagen am Rand des Bürgersteiges gegenüber einer imposanten, modernen Kirche in Müllekoven. Das Gemäuer bestand aus rotem Backstein. Auffallend waren jedoch die drei runden Kirchtürme. Ein großer Turm, den ein Wetterhahn an der Spitze zierte, und die beiden kleineren Türme waren mit schwarzem Schiefer verkleidet. Eisenstein stieg aus und blieb beeindruckt stehen, um die Kirche genauer in Augenschein zu nehmen.

„Ja, ja, unsere St.-Adelheid-Kirche. Sie sind wohl nicht von hier. Ich sehe das an ihrem Nummernschild“, hörte er eine Stimme hinter sich. Ein alter Mann auf einem noch älteren Fahrrad war stehen geblieben.

„Ein Meisterwerk von Gottfried Böhm“, sprach der Mann weiter, der sichtlich stolz auf seine Kirche war.

Eisenstein kannte diesen Gottfried Böhm nicht.

„Wahrscheinlich hatte dieser Baumeister noch mehrere andere Kirchen gebaut“, dachte er.

„Ja, ein tolles Bauwerk“, stimmte er dem Mann zu.

„Ich muss weiter. Vielen Dank für die Information“, sagte Eisenstein und begann seinen Fußmarsch durch den Ort. Auch der alte Mann bestieg umständlich sein Fahrrad. Als er an Eisenstein vorbeifuhr, winkte er noch kurz und rief: „Einen schönen Tag.“

Bald darauf war er an der nächsten Straßeneinbiegung verschwunden.

Eisenstein hatte es sich seit Langem zu eigen gemacht, das Wohnumfeld der beteiligten Personen seiner Fälle kennenzulernen. Gemütlich, immer den Blick nach rechts und links wendend, streifte er durch den Ort. Die Straßen wurden immer enger. Oftmals fehlte der Bürgersteig. Die zum Teil alten Häuser aus dunklem Backstein und die Fachwerkhäuser übten einen Reiz auf Eisenstein aus. Während seiner früheren Tätigkeit in der Großstadt hatte er solche Ortschaften und malerischen Winkel nicht kennengelernt.

Bevor er ausstieg, hatte ihm ein letzter Blick auf das Navi verraten, dass die gesuchte Straße nicht weit entfernt war. Bei der gesuchten Hausnummer handelte es sich um ein altes, dunkles Backsteingebäude, das früher vielleicht ein kleiner Bauernhof gewesen war. Mehrere dieser Gebäude reihten sich aneinander, und gemeinsam ergaben sie eine ansehnliche, alte Straßenfront, die der Straße insgesamt ein gemütliches Aussehen verlieh. Eine schwere doppelte Eisentüre versperrte den Zugang.

Er suchte gerade noch die Klingel, als sich die Türe quietschend öffnete, und ein junger Mann heraustrat. Eisenstein blickte in einen kleinen mit Kopfsteinpflaster gepflasterten Innenhof.

„Wohnt hier die Familie Bertram?“, fragte Eisenstein, da er kein Namensschild gefunden hatte.

„Ja, und was wollen Sie?“, fragte der junge Mann etwas schnippisch.

„Mein Name ist Eisenstein. Kommissar Eisenstein, Kriminalpolizei Bonn.“

„Ist etwas mit meinem Vater? Ich habe ihn heute noch nicht gesehen“, fragte der junge Mann und seine Augen weiteten sich fragend.

„Übrigens, ich bin Dominik, der Sohn“, fuhr er jetzt etwas freundlicher fort.

Dominik war schlank und vielleicht zwanzig Jahre alt. Seine glatten, braunen Haare waren zu einer Kurzhaarfrisur geschnitten.

„Kommen Sie bitte mit“, entgegnete der Kommissar lediglich, ohne auf die Frage einzugehen.

Mit einer Hand drückte er den jungen Mann zur Seite und schritt durch das Tor, über den Innenhof in Richtung Hauseingang. Der Sohn folgte ihm, ohne weitere Fragen zu stellen.

„Gott sei Dank, er fragt nicht weiter“, dachte Eisenstein.

In der geöffneten Haustüre stand eine große Frau von etwa fünfzig Jahren. Ihre Figur war schmal, vielleicht sogar hager. Ihre Wangen waren eingefallen, und die Wangenknochen traten stark hervor. Die braunen Haare hatte sie zu einem Knoten zusammengebunden. Auf ihrer Stirn, und um ihren Mund zeigten sich tiefe, scharfe Furchen, die ihrem Gesicht ein schrecklich hartes und strenges Aussehen verliehen. Ihre Füße steckten in einfachen, blauen Sandalen. Ein katzengraues Augenpaar musterte Eisenstein neugierig. Eisenstein vermutete, dass es sich um Frau Bertram handelte, die womöglich sein kurzes Gespräch mit ihrem Sohn gehört hatte.

Nachdem Eisenstein seinen Namen und seine Dienststellung genannt hatte, stellte sich die Frau tatsächlich als Frau Bertram vor. Höflich und bestimmt, beinahe unfreundlich, bat sie ihn ins Haus und bot ihm im Wohnzimmer einen Platz auf einem gemütlich wirkenden Ohrensessel am Fenster an. Durch das große Fenster blickte er auf eine ausladende Terrasse mit angrenzenden, gepflegten Blumenbeeten. Sowohl der Sohn als auch seine Mutter blieben mit dem Rücken zum Fenster stehen und sahen Eisenstein erwartungsvoll an.

„Setzen Sie sich doch auch bitte“, forderte Eisenstein sie auf.

Frau Bertram nahm auf dem äußeren Ende der Sitzfläche eines anderen Sessels ihm gegenüber Platz. Nervös knetete sie ihre Hände. Ihr Sohn blieb hinter ihr stehen.

„Ist etwas mit meinem Mann?“, fragte sie mit spröder Stimme.

„Ja. Frau Bertram, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann tot ist“, begann Eisenstein und versuchte dabei, mit Frau Bertram Blickkontakt zu halten.

Er sah, wie sich unter den eingefallenen Wangen von Frau Bertram die Kieferknochen kraftvoll zuckend gegeneinander drückten. Dabei hielt sie seinem Blick stand. Keine Träne trat in ihre Augen.

Eisenstein schaute kurz zu Dominik hoch, dessen Hände sich tief in den Stoff des Sessels gruben, auf dem seine Mutter saß. Sein Gesicht war um einige Nuancen blasser geworden und seine Augen, die starr auf Eisenstein gerichtet waren, füllten sich unübersehbar mit Tränen.

„Tot? Das kann nicht sein. Er war doch nur zum Angeln drüben am See. Wo ist mein Mann?“, fragte Frau Bertram und schlug fast theatralisch die Hände vor ihren Mund, als hätte sie bereits zu viel gefragt.

„Frau Bertram“, fuhr Eisenstein fort. „Ein Jogger hat Ihren Mann heute Morgen am Sieglarer See gefunden. Er ist an seinem Angelplatz ertrunken. Genaueres wissen wir noch nicht. Ihr Mann wird zum Institut für Rechtsmedizin überführt. Dort wird man die Todesursache und den genauen Todeszeitpunkt feststellen.“

Bisher hatte Frau Bertram die Nachricht außergewöhnlich gefasst aufgenommen, fast zu gefasst. Weder ein Weinkrampf noch irgendwelche anderen Anzeichen für einen nervlichen Zusammenbruch oder für Fassungslosigkeit. Lediglich das unaufhörliche Kneten ihrer Hände zeigte ihre Nervosität und Erregtheit.

„Vielleicht hat sie meine Mitteilung noch nicht ganz realisiert und steht unter Schock“, dachte Eisenstein als Begründung für das ungewöhnliche, unberührte Verhalten von Frau Bertram.

„Ich muss Sie bitten, morgen Nachmittag zum Institut für Rechtsmedizin der Universität Bonn zu kommen und Ihren Mann offiziell zu identifizieren. Ich hole Sie ab, rufe Sie aber vorher an“, beendete hiermit Eisenstein seine unangenehme Aufgabe.

„Wann kann ich meinen Mann beerdigen lassen?“, stellte Frau Bertram die Frage, die, so fand Eisenstein, zum jetzigen Zeitpunkt völlig unbedeutend war. Wenn einer Frau die Nachricht vom Tode des Ehemannes überbracht wird, sollten andere Fragen Priorität haben.

„Das kann ich noch nicht sagen. Das kommt darauf an, wann die Obduktion ist und was sich daraus ergibt“, antwortete Eisenstein.

Frau Bertram nickte kaum merklich. Das war ihre ganze Reaktion. Keine Träne, nicht einmal ein Blick zu ihrem Sohn, der gerade erfahren hatte, dass sein Vater verstorben war. Keine Frage wieso, und wie ihr Mann ertrunken war – nichts. „Mama“, schrie plötzlich Dominik und fiel seiner Mutter um den Hals. Im Gegensatz zu seiner Mutter konnte er seine Tränen nicht mehr zurückhalten.

Seine Mutter nahm ihn in den Arm, legte ihm eine Hand auf den Kopf und zog ihn an sich. Kein tröstendes Wort kam über ihre Lippen. Trotzdem war es die erste menschliche Reaktion, die Eisenstein bei Frau Bertram feststellte.

„Was für eine harte Frau!“, dachte er.

Eisenstein war froh, dass er die Überbringung der Todesnachricht hinter sich gebracht hatte. Anderseits war es interessant für ihn, zu sehen, mit wie wenig Emotion Frau Bertram die Nachricht aufgenommen hatte.

Er spürte: Irgendetwas war hier seltsam. Er hatte keine direkten Beweise dafür. Zumal viele Menschen ungewöhnlich reagieren, wenn sie die Nachricht vom Tode ihres Angehörigen durch die Mordkommission erhalten. Überraschung, Angst und Unsicherheit auf die unvorbereitete Mitteilung können solche Reaktionen auslösen. Vielleicht war es aber auch mit der Ehe der Bertrams nicht zum Besten gestellt, und Frau Bertram weinte ihrem Mann deswegen keine Träne hinterher?

Eisenstein hoffte, dass er den wirklichen Grund noch herausfinden würde.

Der Sohn hatte sich inzwischen von der Mutter gelöst und kauerte in der Sofaecke und ließ weiterhin seinen Tränen freien Lauf, wobei sein Körper immer wieder von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt wurde.

Eisenstein erhob sich zum Gehen und verabschiedete sich mit dem Hinweis an Frau Bertram, an die Identifizierung morgen zu denken. Er war froh, dass er diese furchtbare Aufgabe erledigte hatte.

 

„Wenn Ihnen etwas Wichtiges einfällt, das Sie mir sagen wollen, rufen Sie mich einfach an“, sagte Eisenstein und händigte Frau Bertram seine Visitenkarte aus. Für ihren Sohn legte er seine Visitenkarte auf den Tisch.

Nachdem sich die Haustüre hinter ihm geschlossen hatte, blieb er einen Augenblick stehen und lauschte. Kein Laut drang an sein Ohr. Wie konnte eine Frau bloß die Todesnachricht des Mannes so ruhig ertragen? Oder war das tatsächlich der Schock?

Bevor er den Innenhof verließ, schweifte sein Blick über den Hof. In der Mitte parkte ein großer Audi, der neu zu sein schien. Irgendwie passte dieser Wagen nicht zu diesem Ehepaar. Schon gar nicht zu dieser harten, kalten Frau, dachte Eisenstein. Sie stellte er sich eher in einem einfachen, nüchternen, den Zweck erfüllenden Kleinwagen vor.

In diesem Augenblick fiel ihm ein, dass er Frau Bertram oder ihrem Sohn noch sagen musste, dass sie den alten Mercedes am Wanderparkplatz am See gefunden und zur Untersuchung ins Polizeipräsidium gebracht hatten. Er würde ihnen Morgen in der Gerichtsmedizin die Schlüssel geben. Bis dahin war der Wagen gewiss von der Spurensicherung untersucht und freigegeben worden.

Er verließ den Hof und schlenderte zu seinem Wagen, noch immer beeindruckt von dieser seltsamen Familie.

Im Wagen wischte er die Gedanken beiseite. Jetzt konnte er endlich zu Inka fahren und hören, was aus der Wohnung geworden war.

Kurze Zeit später verließ Dominik Bertram sein Zuhause, stieg in seinen Wagen, der am Straßenrand parkte und fuhr zu seiner Freundin. Die Visitenkarte von Kommissar Eisenstein hatte er in der Hand und warf sie achtlos ins Handschuhfach.


Eisenstein war in Gedanken versunken und hatte sein Navigationsgerät nicht eingeschaltet. Aus mangelnder Ortskenntnis wählte er den Weg über Sieglar, um dann über die Autobahn nach Pützchen, um zu seiner Freundin zu fahren. Er fuhr langsam und schaute sich dabei die Umgebung an. Von der Straße „Im Kirchtal“ fuhr er geradeaus in die Larstraße, direkt in das Zentrum von Sieglar. Die Straße wurde enger, und er war mehr und mehr beeindruckt von den alten Backsteingebäuden, wie es die Gaststätte „Zur Küz“ eines war und von den prachtvoll gepflegten Fachwerkhäusern. Als er direkt auf den alten Mühlenhof zufuhr, nahm er seine Geschwindigkeit bis auf zwanzig Stundenkilometer zurück, damit er das alte Fachwerkhaus ausreichend betrachten konnte.

Auf der anderen Straßenseite ging eine ältere Frau, die eine prall gefüllte Stofftasche trug. Eisenstein konnte darauf das Wort Café lesen. Er hielt an und drehte das Seitenfenster herunter.

„Entschuldigung. Können Sie mir sagen, wo hier ein Café ist?“, rief er über die Straße.

„Nächste Straße links ab, dann sehen Sie das Café bereits“, rief die Frau zurück und ging weiter ihres Weges.

Nach einigen Hundert Metern bog er links ab. Es schien ihm, als ob diese Straße ins Ortszentrum führte. Er hatte Lust auf einen leckeren Cappuccino, vielleicht auch ein Stück Kuchen, denn er hatte heute noch nicht zu Mittag gegessen. Tatsächlich sah er an der nächsten Straßenecke den Hinweis auf das „Café Bröhl“.

Alle Parkplätze rechts und links der Straße waren belegt, bis direkt vor dem Café ein Wagen zurücksetzte und einen Parkplatz freigab, den er dankbar nutzte.

Er stieg aus und stand direkt neben einem riesigen bronzenen Stier oder Ochsen. Da er vor einer Raiffeisenbank parkte, überlegte er, ob es hier wohl eine Verbindung zu dem großen Bullen und Bären vor der Frankfurter Wertpapierbörse gab. Mit diesen Überlegungen betrat er das Café. Es wirkte gemütlich und sehr gepflegt. Er fand einen Platz direkt am Fenster. Was Eisenstein noch nicht wusste, war, dass das Café Bröhl für Sieglar das Gleiche war, wie für Berlin das Café Kranzler, oder für Wien das Wiener Café. Hier traf man sich und tauschte die Neuigkeiten des Tages aus.

Kurz nachdem er Platz genommen hatte, erschien die Bedienung, eine auf den ersten Blick sympathische junge Frau. Ein schwarzes Oberteil, ein kurzer, schwarzer Rock, dem eine kleine weiße Schürze vorgebunden war und ordentlich zu einem Pferdeschwanz zusammengebundene, schwarze Haare verliehen ihr ein seriöses, ansprechendes Äußeres. Sie begrüßte den Kommissar mit einem freundlichen, ungezwungenen Lächeln und fragte nach seinen Wünschen.

Nachdem er seinen Cappuccino bestellt hatte, konnte er es sich nicht verkneifen, die junge Frau nach dem Sinn des Stieres vor der Raiffeisenbank zu fragen.

„Na, das ist der Sieglarer Ochse. Wir nennen ihn Lööre Oohs, und er ist unser Maskottchen.“

„Und was hat es für eine Bewandtnis mit diesem Tier?“, wollte er jetzt genau wissen.

„Das ist eine lange Geschichte. Vor vielen Jahren benutzten die Sieglarer die Ochsen als Fleisch- und Arbeitstiere. Die Sieglarer züchteten speziell die Ochsen. Die Menschen aus den anderen Stadtteilen riefen scherzhaft, wenn sie Bewohner aus Sieglar sahen: Da kommen die Lööre Oohse. Der Ochse steht grundsätzlich für Stärke und Beharrlichkeit“, schloss die junge Frau ihren Vortrag.

„Und woher wissen Sie das alles?“, fragte Eisenstein neugierig.

„Von meinem Vater. Der ist Mitglied im Heimat- und Geschichtsverein.“

„Vielen Dank für die wirklich umfassenden Informationen. Sie haben meine Neugierde total befriedigt. Bringen sie mir bitte zum Cappuccino noch ein Stück Kirschstreusel, der sieht ganz lecker aus“, lächelte er.

Zum ersten Mal an diesem Tag hatte Eisenstein für ein paar Minuten die Gedanken an den Toten im See und an Inka und der Wohnung verdrängen können.

Wenn er jetzt wieder an Inka und die Wohnungsfrage dachte, drängte sich ihm nicht nur die Frage auf, ob es richtig war, eine Wohnung hier in einem Vorort, abseits der größeren Stadt zu suchen. Nein, inzwischen stellte sich ihm sogar die Frage, ob es richtig war, zusammen mit Inka eine Wohnung zu beziehen? Mochte er überhaupt diese totale Nähe zu ihr? Er liebte Inka und er liebte es auch, wenn er an den Wochentagen abends bei ihr war. Im Hinterkopf hatte er aber immer noch seine Wohnung in Duisburg als Fluchtort. Hier konnte er allein sein, wenn ihm danach war, und überhaupt hatte er dort einen Rettungsanker für alle Fälle.

Dann war da noch Susanne, die er nach Jahren jetzt wieder gesehen hatte. Bedeutete sie ihm immer noch etwas? Neben dem Unwohlsein bei dem überraschenden Zusammentreffen am See hatte er keine Gleichgültigkeit bei sich bemerkt – im Gegenteil.

„Hallo Herr Kriminalhauptkommissar“, holte ihn der Ruf, der durch das Café schallte, in die Wirklichkeit zurück.

Erschrocken wandte Eisenstein seinen Blick zur Theke, wo einige Menschen standen und Gebäck oder Kuchen kauften. Ein Mann wedelte mit einem Arm in der Luft und lachte Eisenstein an. Im ersten Moment konnte Eisenstein die freudig erregte Person nicht erkennen. Doch dann dämmerte es ihm. Polizist Grunert, der ihn zum See begleitet hatte. In Zivil sah er völlig anders aus als heute Morgen am See.

Eisenstein wollte lediglich kurz zurück grüßen, als Grunert bereits bei ihm am Tisch stand. Die Blicke aller Gäste und auch des Personals klebten an seinem Rücken und auch an Eisenstein. Jetzt hatte es auch der Letzte vernommen, dass er Kommissar war.

„Darf ich mich kurz zu Ihnen setzen?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, saß er bereits auf dem freien Platz Eisenstein gegenüber.

„Gibt es etwas Neues vom Toten am See?“, fragte er erwartungsvoll, um neue Informationen aus erster Quelle zu erhalten.

„Nein, noch nichts. Wir müssen die Obduktion abwarten“, antwortete Eisenstein etwas ungehalten über die Direktheit des Kollegen.

„Ihr Cappuccino und Ihr Kuchen, bitte Herr Kommissar“, meldete sich jetzt die Kellnerin zu Wort, die inzwischen ebenfalls an den Tisch getreten war, und stellte das Getränk auf den Tisch.

„Ach, Herr Kommissar, Sie untersuchen sicherlich den Tod von Franz Bertram?“, fragte sie neugierig.

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