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Bartleby

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Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

»Mit schuldiger Ehrerbietung, Sir«, sagte er; »ich habe gestern über unseren Bartleby nachgedacht, und ich möchte meinen, wenn er nur lieber mal täglich ein Viertel gutes Bier trinken möchte, würde es bald besser mit ihm und er könnte auch wieder dabei sein, wenn wir seine Papiere kollationieren.«

»So, Sie gebrauchen den Ausdruck also auch schon?« sagte ich, leise aufgebracht.

»Mit schuldiger Ehrerbietung, Sir: welchen Ausdruck?«, fragte Puter, indem er sich respektvollst in den beengten Raum hinter der spanischen Wand drängte, so daß ich mit Bartleby eng aneinander geriet. »Welchen Ausdruck, Sir?«

»Ich möchte hier innen lieber allein bleiben«, sagte Bartleby, gleichsam ungehalten darüber, daß eine Volksmenge sich störend in seine Zurückgezogenheit drängte.

»Da haben Sie den Ausdruck, Puter«, sagte ich. »Da hören Sie ihn.«

»Achso: möchte lieber … – ja, komischer Ausdruck; Kommt bei mir nicht vor. Was ich sagen wollte, Sir: wenn er nur lieber das Viertel Bier trinken möchte … «

»Puter«, unterbrach ich, »ziehen Sie sich bitte zurück!«

»Aber gewiß, Sir, wenn Sie lieber möchten … «

Als er die Flügeltür öffnete und hinausging, fühlte sich Beißzange an seinem Pult zufällig von meinem Blick getroffen und fragte mich, ob ich ein bestimmtes Schriftstück auf blauem oder lieber auf weißem Papier abgeschrieben haben möchte. Es lag beileibe kein arglistiger Ausdruck auf dem Wort »lieber möchte«; ganz offenbar floß es ihm in aller Unbefangenheit von der Zunge. Bei Gott, dachte ich, ich muß den Wahnsinnigen loswerden, der mir und meinen Angestellten schon bis zu einem gewissen Grad die Zunge, wenn nicht gar den Kopf verdreht hat. Doch schien es mir geraten, die Entlassung nicht auf der Stelle vorzunehmen.

Am nächsten Tag mußte ich feststellen, daß Bartleby nicht arbeitete, sondern nur den ganzen Tag am Fenster stand und in seiner träumerischen Art auf die Brandmauer hinausstarrte. Auf meine Frage, weshalb er nicht schreibe, erklärte er, er habe sich entschlossen, das Kopieren überhaupt aufzugeben.

»Wie? Was soll das heißen?« rief ich aus. »Das Kopieren aufgeben?«

»Ganz richtig.«

»Und aus welchem Grunde?«

»Sehen Sie den Grund denn nicht selber?«, erwiderte er gleichgültig.

Ich schaute ihn von oben bis unten an und bemerkte, daß seine Augen einen trüben, glasigen Ausdruck hatten. Die Vermutung drängte sich mir auf, daß der beispiellose Eifer, mit dem er während der ersten Wochen seiner Tätigkeit bei mir am trüben Fensterchen kopiert hatte, seinem Augenlicht vorübergehend geschadet haben möchte.

Der Gedanke rührte mich. Ich äußerte einige teilnehmende Worte und brachte zum Ausdruck, daß es recht getan sei, wenn er sich nun eine Zeitlang des Kopierens enthielte; er möge, schärfte ich ihm ein, die Gelegenheit benützen und sich einer gesunden Tätigkeit im Freien zuwenden. Dies tat er jedoch nicht. Als einige Tage darauf meine anderen Angestellten abwesend waren und ich Briefe rasch zur Post zu bringen hatte, kam ich auf den Gedanken, Bartleby werde jetzt, wo er auf Gottes Erdboden nichts weiter zu tun hatte, weniger unbeugsam sein als sonst und mir die Briefe zum Postamt bringen. Er schlug es jedoch rundheraus ab. So ungelegen es mir fiel: ich mußte selber gehen.

Die Tage kamen und gingen. Ob sich Bartlebys Augen gebessert hatten oder nicht, vermochte ich nicht zu sagen. Allem Anschein nach ging es ihm besser, doch wenn ich ihn fragte, wie es mit seinen Augen stehe, ließ er mir keine Antwort zuteil werden. Schreibarbeiten jedenfalls machte er keine. Als ich wiederholt danach fragte, erklärte er mir schließlich ausdrücklich, er habe das Kopieren endgültig aufgegeben.

»Was?«, rief ich, »gesetzt Ihre Augen werden wieder ganz gut – vielleicht sogar besser als zuvor – wollen Sie dann trotzdem nicht kopieren?«

»Ich habe das Kopieren aufgegeben«, antwortete er und glitt von dannen.

Im übrigen blieb alles beim alten: er war eine stehende Einrichtung in meiner Kanzlei. Oder vielmehr: er wurde, wenn möglich, immer noch mehr zur stehenden Einrichtung. Was sollte ich tun? Er leistete keine Arbeit im Büro – warum also blieb er bei mir? Nüchtern betrachtet, war er allmählich geradezu ein Mühlstein um meinen Hals: als Zierat nicht zu brauchen und unerquicklich zu tragen. Und dennoch tat er mir leid. Ich bleibe hinter der Wahrheit zurück, wenn ich sage, daß ich, und zwar ausschließlich um seinetwillen, eine Art Bedrücktheit empfand. Hätte er mir nur einen einzigen Verwandten oder Freund namhaft gemacht, so hätte ich sofort hingeschrieben und veranlaßt, daß man den armen Kerl an irgend einen geeigneten Zufluchtsort gebracht hätte. Aber er schien allein, durchaus allein auf der weiten Welt. Ein Wrack mitten auf dem Atlantik. Der Augenblick kam, wo geschäftliche Rücksichten alle anderen Überlegungen in den Schatten rückten. So schonend ich konnte, teilte ich Bartleby mit, binnen sechs Tagen müsse er unter allen Umständen mein Büro verlassen. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß er in der Zwischenzeit gut daran tue, sich nach einer anderen Bleibe umzusehen. Bei diesem Unternehmen würde ich ihm gern behilflich sein, wenn er nur seinerseits den ersten Schritt zum Umzug tue. »Und wenn Sie mich dann endgültig verlassen, Bartleby«, setzte ich hinzu, »werde ich zusehen, daß Sie nicht ganz unversorgt von mir gehen. Sechs Tage von diesem Augenblick an, vergessen Sie es nicht!«

Nach Ablauf der Frist guckte ich hinter den Wandschirm, und siehe da: Bartleby war zugegen.

Ich knöpfte mir den Rock bis oben zu und sammelte mich; dann trat ich langsam auf ihn zu, berührte ihn an der Schulter und sprach: »Die Zeit ist gekommen – Sie müssen fort von hier. Es tut mir leid für Sie – hier ist Geld – aber Sie müssen jetzt fort.«

»Ich möchte lieber nicht«, erwiderte er, immer noch den Rücken mir zugekehrt.

»Sie müssen!«

Er verharrte in Schweigen.

Ich hatte, muß man wissen, ein grenzenloses Vertrauen zu Bartlebys grundsätzlicher Ehrlichkeit. Er hatte mir öfters Sixpence- und Schillingstücke wiedergegeben, die achtlos auf dem Fußboden verstreut worden waren, denn ich neige in solchen Kleinigkeiten zur Schlamperei. Die folgende Szene möge also nicht unglaubwürdig wirken.

»Bartleby«, sagte ich, »ich bin Ihnen laut Konto zwölf Dollar schuldig. Hier haben Sie zweiunddreißig – die restlichen zwanzig gehören Ihnen – hier, nehmen Sie doch bitte!« – damit reichte ich ihm die Geldscheine hin.

Er rührte sich nicht.

»Ich lasse das Geld also hier liegen«, sagte ich und schob die Scheine unter einen Briefbeschwerer auf dem Tisch. Hierauf nahm ich meinen Hut und meinen Stock und setzte, an der Tür noch einmal ruhig kehrt machend, hinzu: »Wenn Sie Ihre Sachen hier fortgeschafft haben, Bartleby, verschließen Sie doch bitte die Tür – es ist ja jetzt außer Ihnen niemand mehr hier. Den Schlüssel schieben Sie bitte unter den Abstreifer, damit ich ihn morgen früh finde. Wiedersehen werden wir uns nicht – leben Sie also recht wohl. Und wenn ich Ihnen später, in Ihrer neuen Unterkunft, von Nutzen sein kann, lassen Sie es mich ungeniert brieflich wissen. Leben Sie wohl, Bartleby, und viel Glück!«

Er antwortete kein Sterbenswörtchen. Wie die letzte Säule eines verfallenen Tempels anzusehen, stand er stumm und einsam in dem sonst so gänzlich kahlen Raum.

Nachdenklich ging ich nach Hause, und allmählich gewann meine Eitelkeit das Übergewicht über mein Mitleid. Ich war doch recht stolz darauf, wie meisterhaft ich es eingerichtet hatte, Bartleby los zu werden. Ich sage meisterhaft, und wer die Sache unvoreingenommen überdenkt, muß mir recht geben. Das Schöne an meinem Vorgehen bestand, wie mir schien, darin, daß es sich völlig ruhig abgespielt hatte. Es war ohne ordinäres Auftrumpfen meinerseits abgegangen, ohne Aufschneiderei und gereiztes Herumkommandieren; auch war ich keineswegs aufgeregt durch die Räume gerast und hatte Bartleby angeherrscht, er möge seinen lächerlichen Krempel zusammenpacken. Nichts dergleichen. Statt Bartleby laut und grob zum Gehen aufzufordern – wie ein untergeordneter Geist es vielleicht getan hätte – machte ich stillschweigend die Voraussetzung, daß er fort müsse, und baute auf diese Voraussetzung alles auf, was ich ihm zu sagen hatte. Je länger ich mir mein Verfahren überlegte, desto mehr sagte es mir zu. Am ändern Morgen allerdings, als ich erwachte, hatte ich meine Zweifel – ich hatte gewissermaßen die Dünste der Eitelkeit ausgeschlafen. Zu den kühlsten, besonnensten Augenblicken im Menschenleben gehören ja die Stunden morgens unmittelbar nach dem Erwachen. Mein Verfahren kam mir scharfsinnig vor wie zuvor – aber nur in der Theorie. Wie es sich in der Praxis bewähren würde – da lag der Haken. Es war gewiß ein trefflicher Einfall, Bartlebys Auszug einfach stillschweigend vorauszusetzen; die Voraussetzung galt aber ausschließlich meinerseits und ging durchaus nicht von Bartleby aus. Der entscheidende Punkt lag nicht darin, ob ich annahm, daß er mich verlassen würde, sondern ob es seinem Belieben entsprach. Er war mehr ein Mensch des Beliebens (»möchte lieber«) als der stillschweigenden Voraussetzungen.

Nach dem Frühstück wanderte ich stadtwärts und überlegte mir die Wahrscheinlichkeit des Für und Wider. Bald kam mir der Gedanke, die Sache werde sich als Schlag ins Wasser erweisen und Bartleby werde bestimmt in alter Frische in der Kanzlei anwesend sein; bald war ich durchdrungen davon, daß ich seinen Stuhl leer finden würde. So schritt ich unschlüssigen Gemüts einher. An der Ecke Broadway-Canal Street sah ich eine Gruppe erregter Menschen in ernster Unterhaltung beieinanderstehen.

»Wetten, daß er's nicht wird!«, sagte jemand, als ich vorbeiging.

»Daß er nicht gehen wird? – da halt' ich dagegen!«, sagte ich. »Raus mit Ihrem Geld!«

Ich schob instinktiv die Hand in die Tasche und wollte meinen Einsatz hervorholen, als mir einfiel, daß wir Wahltag hatten. Die von mir aufgeschnappten Worte bezogen sich nicht auf Bartleby, sondern auf die Aussichten eines der Bewerber um das Bürgermeisteramt. Bei meinem gespannten Gemütszustand hatte ich mir unwillkürlich eingebildet, der ganze Broadway müsse meine Erregung teilen und sich über dieselbe Frage ereifern wie ich. Ich ging weiter, recht dankbar, daß der Straßenlärm meine vorübergehende Geistesabwesenheit so gut beschirmte.

 

Wie beabsichtigt war ich früher als sonst vor meiner Kanzlei. Ich lauschte einen Augenblick. Alles war still. Er mußte fort sein. Ich drehte am Türknopf – die Tür war versperrt. Ja, mein Verfahren hatte sich wunderbar bewährt – er war gegangen. In meinen Triumph mischte sich jedoch eine gewisse Schwermut – ich war beinahe betrübt, daß mir alles so glänzend gelungen war. Ich suchte unter der Matte nach dem Schlüssel, den Bartleby dort für mich deponiert haben sollte, und stieß dabei zufällig gegen die Türfüllung, so daß ein Geräusch entstand wie ein Anklopfen. Sogleich erscholl von innen Antwort: »Noch nicht – ich bin beschäftigt.«

Es war Bartleby.

Ich war wie vom Donner gerührt. Einen Augenblick stand ich da wie jener Mann, der, vor langer Zeit im Staate Virginia an einem wolkenlose Nachmittag, mit der Pfeife im Mund, vom Wetterleuchten erschlagen wurde. An seinem offenen, wärmedurchfluteten Fenster traf ihn der Blitz, und er lehnte weiter in den schläfrigen Nachmittag hinaus, bis jemand ihn anrührte – da fiel er um.

»Nicht fort!«, sagte ich leise vor mich hin. Abermals gehorchte ich der wunderlichen Gewalt, die der rätselhafte Schreiber über mich auslebte und der ich, so sehr es mich verdroß, nicht völlig entgehen konnte, und ging langsam die Treppe hinunter und auf die Straße hinaus, wo ich, den Häuserblock umwandernd, bei mir überlegte, was nun in dieser unerhörten Verlegenheit als Nächstes zu geschehen habe. Mit Körpergewalt konnte ich den Menschen nicht wohl hinauswerfen; ihn durch Beschimpfungen von dannen zu treiben, schien mir nicht recht angebracht; die Polizei herbeizurufen, widerstrebte mir ebenfalls; ihm aber seinen makabren Triumph über mich zu gönnen, – das paßte mir noch weniger in den Kram. Was war zu tun? – oder, wenn nichts zu tun war, gab es wenigstens eine weitere stille Voraussetzung, auf die ich mich in der Angelegenheit stützen konnte? In der Tat: so wie ich bisher vorsorglich angenommen hatte, Bartleby werde gehen, so konnte ich jetzt, nachträglich betrachtet, die Voraussetzung machen, daß er bereits gegangen sei. In der rechtmäßigen Anwendung dieser meiner Annahme konnte ich beeilten Schritts meine Kanzlei betreten und, unter dem Anschein, als sähe ich Bartleby gar nicht, ihm in den Weg treten, als wäre er Luft. Wenn ich mich so verhielte, hätte ich zweifellos einen unverkennbaren Gegenschlag getan. Es war kaum anzunehmen, daß Bartleby der derart deutlich angewandten Lehre von den stillschweigenden Voraussetzungen widerstehen konnte. Allein bei näherem Nachdenken schien mir die Wirksamkeit meines Plans doch recht zweifelhaft. Ich beschloß die Sache noch einmal mit Bartleby durchzusprechen.

»Bartleby«, sagte ich beim Betreten der Kanzlei mit einem Ausdruck ruhiger Strenge, »Ich bin ernstlich ungehalten. Sie enttäuschen mich, Bartleby. Ich hatte Besseres von Ihnen erwartet. Ich dachte, Sie wären so vornehm veranlagt, daß in einer delikaten Situation eine bloße Andeutung genügen würde – eine stillschweigende Voraussetzung. Es scheint aber, ich habe mich da geirrt. Da –« – ich sagte es mit unwillkürlicher Überraschung – »– Sie haben ja nicht einmal das Geld angerührt! … «, und ich deutete auf die Geldscheine, die immer noch da lagen, wo ich sie am Abend vorher hingelegt hatte.

Er gab keine Antwort.

»Wollen Sie nun eigentlich gehen oder nicht?« fragte ich, jählings aufgebracht, und trat nah an ihn heran.

»Ich möchte lieber nicht gehen«, erwiderte er, mit einer zarten Betonung auf dem »nicht«.

»Mit welchem Recht wollen Sie denn aber bleiben? Zahlen Sie hier Miete? Zahlen Sie meine Steuern? Gehört dieses Büro Ihnen?«

Er gab keine Antwort.

»Sind Sie denn wenigstens bereit, wieder für mich zu schreiben? Haben Ihre Augen sich gebessert? Können Sie heute morgen ein kleines Schriftstück für mich kopieren? oder ein paar Zeilen kollationieren helfen oder rüber aufs Postamt gehen? Mit einem Wort: wollen Sie wenigstens irgend etwas tun, damit Ihre Weigerung, diesen Ort zu verlassen, doch den Anstrich der Vernunft erhält?«

Er schwieg und wandte sich seiner Klause zu.

Ich war bei alledem in einen derartigen Zustand der Empfindlichkeit und Erregung geraten, daß es mir angezeigt schien, mich im Augenblick weiterer Äußerungen zu enthalten. Ich war mit Bartleby allein, und das tragische Ereignis kam mir in den Sinn, das sich zwischen dem unglücklichen Adams und dem noch unglücklicheren Colt in des letzteren einsamer Kanzlei abgespielt hatte: der arme Colt war von Adams aufs unerträglichste gereizt worden, hatte sich unvorsichtigerweise seiner Erregung überlassen und war so unversehens zu einer kopflosen, verhängnisvollen Tat hingerissen worden – einer Tat, die wahrscheinlich dem Täter selbst am allermeisten leid getan hat. Ich hatte oft über den Vorfall nachgedacht und war dabei zu der Ansicht gelangt, daß die Meinungsverschiedenheit, wenn sie auf offener Straße oder in einer Privatwohnung vor sich gegangen wäre, wohl schwerlich den bekannten verhängnisvollen Ausgang genommen hätte. Der Umstand aber, daß sie allein in einem verlassenen Büro waren, im Obergeschoß eines von gesitteten, häuslichen Schwingungen gänzlich unberührten Gebäudes, – in einem Büro noch dazu ohne Teppiche, wo alles sicher denkbar verstaubt und wüst aussah – dieser Umstand hat sicher wesentlich dazu beigetragen, daß der unselige Colt sich noch weiter, in seine gereizte, verzweifelte Stimmung hineinsteigern ließ.

Als der alte Adam der Empfindlichkeit denn also in mir hochsteigen und mich in Bartlebys Sache versuchen wollte, packte ich ihn herzhaft an und brachte ihn zu Fall. Und wie gelang mir dies? Einfach, indem ich mir Gottes Gebot vor Augen hielt: »Eine neue Satzung gebe ich euch, daß ihr einer den andern lieben sollt.« Dies Gotteswort hat mich gerettet. Von allen höheren Überlegungen abgesehen, erweist sich die Nächstenliebe oft auch als ein höchst weises und vorsichtiges Prinzip: als ein großer Schutz für den, der sie besitzt. Man hat Morde begangen aus Eifersucht und aus Zorn, aus Haß und Selbstsucht und aus geistiger Hoffahrt – nie aber habe ich gehört, daß jemand aus süßer Nächstenliebe einen teuflischen Mord begangen hätte. Schon die bloße Selbsterhaltung sollte also, wenn kein höheres Motiv aufgeboten werden kann, die Menschen, und zumal die leicht erregbaren, zur Nächstenliebe und zur Menschenfreundlichkeit anhalten. Bei der augenblicklichen Gelegenheit jedenfalls legte ich es darauf an, meine Erbitterung gegen den Schreiber dadurch zu unterdrücken, daß ich mir sein Verhalten in einem Geiste des Wohlwollens zurechtlegte. Der arme Kerl, der arme Kerl, dachte ich – er denkt sich nichts dabei – und außerdem hat er harte Zeiten erlebt und verdient Nachsicht.

Ich suchte denn auch alsbald nach einer Beschäftigung, um auf diese Weise meiner verzagten Stimmung Herr zu werden. Dabei malte ich mir aus, wie Bartleby im Laufe des Vormittags, wenn es ihm gelegen wäre, freiwillig aus seiner Einsiedelei hervorkommen und einen entschlossenen Kurs in Richtung auf die Tür einschlagen würde. Aber nein. Es wurde halbeins; Puters Gesicht begann zu erglühen, er warf das Tintenfaß um und wurde auch sonst laut und unangenehm; Beißzange flaute ab zu Ruhe und Höflichkeit; Pfeffernuß kaute an seinem Mittagsapfel – und Bartleby stand am Fenster, in seine tiefste Brandmauer-Träumerei versunken. Wird man es mir glauben? Und soll ich es bekennen? An jenem Nachmittag verließ ich die Kanzlei, ohne auch nur noch ein weiteres Wort an ihn zu richten.

Einige Tage vergingen, während deren ich ab und zu, wie sich die Gelegenheit bot, in zwei Büchern schmökerte: »Über den Willen« von Edwards und »Über die Notwendigkeit« von Priestley. In meiner Lage boten mir diese Bücher einen heilsamen Eindruck. Allmählich gewöhnte ich mich an die Überzeugung, daß meine Anfechtungen mit meinem Schreiber mir von Ewigkeit her zugemessen waren und daß Bartleby aus rätselhaften Gründen von einer allweisen Vorsehung, die ein geringer Erdenwurm wie ich nicht zu ergründen vermochte, bei mir einquartiert sei. Ja, Bartleby, bleib du nur hinter deinem Wandschirm, dachte ich mir. Ich werde dich nicht mehr verfolgen; du bist harmlos und still wie einer von den alten Stühlen hier – ich muß auch sagen, mir ist nie so traulich zumut wie wenn ich weiß, daß du hier bist. Jetzt endlich seh ich's und weiß es: ich dringe ein in den vorbestimmten Zweck meines Daseins. Ich bin zufrieden. Andere mögen erhabenere Rollen zu spielen haben; meine Aufgabe auf dieser Welt besteht darin, daß ich dich, Bartleby, mit Kanzleiraum versehe, so lang es dir belieben mag, bei mir zu bleiben.