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4. Kapitel

Es war ein harter Hut, schwarz, mit einem ebensolchen Band. Seine Krempe war schmal und gerade, sein Kopf hoch. An beiden Seiten befanden sich je zwei kleine Luftlöcher.

Polzer schien dieser Hut nie besonders merkwürdig, wenn auch die Krempe kaum einen Finger breit war. Auch später und selbst bei genauer Überlegung konnte Polzer nichts Sonderbares an ihm finden. Polzer blieb vor den Auslagen der Hutgeschäfte stehen. Er sah Hüte mit breiteren Krempen und niedrigeren Köpfen. Er beobachtete die Vorübergehenden und sah breitkrempige und schmalkrempige Hüte. Hüte mit hohem und Hüte mit niedrigem Kopf. Er begegnete Leuten, deren Hüte spitz zuliefen und von zwei Streifen in anderer Farbe quer überzogen waren. Solche Hüte schienen ihm besonders. Auffallend war ihm auch, daß sich die Hüte der Fremden von denen der Einheimischen unterschieden. Nach einiger Zeit erkannte Polzer jeden Fremden sofort an seinem Hut. Diese Hüte glichen einander. Nur in den Farben unterschieden sie sich. Doch waren sie fast durchwegs schwarz oder grau. Die Krempen waren stets gleich breit und die Köpfe gleich hoch. Zudem sahen diese Hüte immer neu aus.

Am Samstag dieser Woche trug Polzer den schwarzen Hut. Er eilte aus der Bank nach Hause. Es war sieben Uhr abends. Die Straßen waren voll von verspäteten Käufern und heimkehrenden Angestellten. Die Luft war erfüllt vom Lärm der herabgleitenden Rolläden und den Glockenzeichen der überfüllten Straßenbahnen. Polzer bog vom Wenzelsplatz in die Wassergasse ein und überholte zwei halberwachsene Mädchen.

Er hatte kaum einige Schritte weiter gemacht, als er das laute Lachen der Mädchen hörte. Er wandte sich um. Er wußte nicht, daß das Lachen ihm galt. Er begriff es, als er den lachenden Mädchen ins Gesicht sah. Ihre Augen hingen an seinem Hut. Polzer fürchtete, daß vielleicht ein Vogel seinen Hut beschmutzt habe. Er zog ihn erschrocken vom Kopf. Er drehte ihn in der Hand und untersuchte ihn gründlich. Die Mädchen hatten sich genähert. Sie lachten laut. Leute sammelten sich um Polzer. Er stand barhaupt in der Mitte. Immer neue Leute kamen. Es war die belebteste Straßenecke. Man bemerkte die Ansammlung aus der elektrischen Straßenbahn. Polzer sah hinter den Glasscheiben alle Gesichter sich zugewandt. Ringsum lächelten die Leute. Alle sahen ihn an. Polzer setzte den Hut wieder auf den Kopf.

Die Eltern der beiden Mädchen waren herangekommen. Sie waren groß und dick. Der Vater hatte einen dunklen weichen Hut mit Gemsbart. Es waren Fremde. Polzer wollte gehen. Die Mädchen sprangen ihm nach. Er wandte sich um und stand ihnen knapp gegenüber. Sie hielten einander an den Händen und lachten. Sie trugen schwarze Lackhüte mit mehrfarbigen Bändern. Polzers Ratlosigkeit ermutigte sie.

»O Gott, o Gott,« rief die eine, »wo haben Sie diesen Hut geerbt?«

Polzer errötete. Denn tatsächlich stammte der Hut aus der Verlassenschaft des Herrn Porges. Frau Porges hatte ihn für Polzers Kopfform umarbeiten lassen.

»Was ist das für ein Stück,« sagte der Vater und lachte. »Was verlangen Sie? Ich bin Käufer.«

»Ich bin Beamter einer Bank,« erwiderte Franz Polzer beschämt.

Die Mädchen waren weiter gegangen und die Leute um Polzer verliefen sich. Polzer nahm den Hut unter den Arm und eilte nach Hause.

Er trat in sein Zimmer und legte den Hut auf den Tisch. Er betrachtete ihn genau. Er sah, daß im Leder an seiner Innenwand die Buchstaben G. P. angebracht waren. Herr Porges hatte Gottlieb geheißen. Bisher hatte Polzer diese Buchstaben nicht bemerkt. Er empfand die Demütigung auf der Straße, die ihn schmachvoll den Blicken aller Passanten ausgesetzt hatte, als Niedertracht des Verstorbenen und seiner Witwe Klara, die ihn erniedrigen wollten. Der böse Blick von Frau Porges fiel ihm ein. Zugleich ward ihm klar, daß sie, die ihn den Augen der Passanten von allen Seiten hilflos ausgeliefert und preisgegeben hatte, ihre Drohung, ihm das Zimmer zu entziehen, wahrmachen könnte. Er entfernte die beiden Buchstaben aus dem Hutleder und legte sie neben den Hut auf den Tisch.

Als Frau Porges eintrat, bemerkte sie den Hut sogleich. Auch die Buchstaben sah sie. Sie blickte Polzer fragend an.

Polzer sagte ruhig:

»Ich werde den Hut nicht mehr tragen, Frau Porges.«

»So? Einen noch so guten Hut? Der selige Porges hat ihn lange besessen und so selten getragen. Er war fast immer zu Bett.«

»Ich lehne es ab, Frau Porges,« sagte Polzer.

»Was lehnen Sie ab?«

»Den Hut Ihres verstorbenen Mannes zu tragen, Frau Porges. Ich lehne es ab, die Erbschaft nach Ihrem verstorbenen Mann anzutreten, in jedem Falle, Frau Porges.«

»In jedem Falle?«

Polzer verstand, daß sie an das Zimmer denke.

»Was den Hut betrifft, nur was den Hut betrifft, Frau Porges.«

Frau Porges lächelte und setzte sich.

»Was ist denn geschehen, Herr Polzer?« fragte sie.

Polzer berichtete den Vorfall auf der Straße.

»Ich werde den Hut nicht mehr tragen,« schloß er.

Frau Porges hatte sich erhoben. Sie nahm den Hut und betrachtete ihn.

»Ein schöner Hut. Ein fast neuer Hut. Man könnte ihn gut noch verkaufen ... Sie werden morgen zu Bunzl gehen, in die Schulgasse, vormittags. Morgen ist Sonntag. Sie werden den Hut verkaufen,« sagte sie entschieden und verließ das Zimmer.

Daran hatte Polzer nicht gedacht. Wenn sie ihm kündigen wollte, mußte er es eben tun.

Er lief hinaus, darüber mit ihr zu sprechen.

In der Küche war es schon finster. In Frau Porges‘ Schlafzimmer brannte Licht. Polzer stand im finstern Flur. In dem Glaseinsatz der Tür sah er Frau Porges‘ Schatten sich bewegen. Dann wurde es in Frau Porges‘ Zimmer finster.

Polzer stand noch eine Weile im Flur und wartete. Dann ging er in sein Zimmer zurück. Sein Abendbrot stand unberührt auf dem Tisch. Auch die Zeitung hatte er noch nicht gelesen. Zu all dem fand er jetzt keine Ruhe. Er mußte wissen, ob er morgen zu Bunzl würde gehen müssen, um den Hut zu verkaufen, oder ob Frau Porges davon abstehen würde. Morgen war Sonntag, er konnte also vormittag hingehen. Aber dazu waren Vorbereitungen zu treffen. Der Hut mußte verpackt werden. Jedenfalls, wenn es dazu kommen sollte, mußte Polzer zeitlicher aufstehen. Man sollte vielleicht auch die Buchstaben im Hutleder wieder anbringen. Sie gehörten im Grunde dazu.

Keinesfalls durfte Polzer es so weit kommen lassen, daß Frau Porges wegen dieser Angelegenheit ihm das Zimmer kündige. Er sah ein, daß sie ihm mit Recht zürne. Die Ablehnung des Hutes mußte sie als Beleidigung ihres verstorbenen Gatten verstehen. Es war kein Zweifel, daß sie sich ernsthaft mit dem Gedanken trug, ihm nun das Zimmer zu entziehen. Sie war hinausgegangen, ohne seine Antwort abzuwarten. Wenn sie ihm morgen kündigte, mußte er am Ersten eine andere Wohnung beziehen. Es war ihm bekannt, daß während der Umzüge häufig Diebstähle vorkämen. Er stellte sich vor, wie schwer es sein mußte, die Leute, die zudem unwillig und grob waren, zu überwachen. Polzer erschrak, als er sich die Menge seiner Sachen vergegenwärtigte, die verpackt werden mußten. Auf die Hilfe von Frau Klara Porges konnte er nicht rechnen. Das Heiligenbild würde er in Papier einschlagen und in die Hand nehmen. Besondere Aufregung brachte der Gedanke an das Suchen der neuen Wohnung. In welchem Stadtteil sollte er zuerst suchen? Die Stadt war groß, man konnte nicht wissen, wo man beginnen solle. Außerdem waren Zimmer nur mit Mühe zu bekommen und dann vielleicht bei unehrlichen Leuten. Auch Kinder konnten im Hause sein.

Polzer legte sich zu Bett. Aber er fand keinen Schlaf. Er wußte, daß er all diese Aufregungen nicht würde ertragen können. Vielleicht würde er krank werden und in der Bank fehlen müssen. Die Arbeit würde sich auf seinem Tisch häufen. Jeden Tag kam ein neuer Stoß, der bei seiner Rückkehr zu einem ungeheuren Berg angewachsen war. Dann würde Polzer wohl ganz zusammenbrechen. Im Zimmer war es ganz dunkel, aber es knarrte. Polzer hielt den Atem an. Vielleicht hat Frau Porges sich bewegt und ihr Bett war es, das knarrte. Die Wände waren so dünn. Vielleicht schlief auch Frau Porges nicht.

Polzer wagte nicht, sich zu bewegen, aber trotzdem knarrte es laut. Diesmal war es bestimmt in seinem Zimmer. Etwas ging vor. Sollte er nicht doch nachsehen, ob Frau Porges wach sei, leise an ihre Tür pochen? Vielleicht verzieh sie ihm die Beleidigung des Verstorbenen, wenn er einwilligte, als Sühne seinen Hut zum Verkauf zu tragen. Vielleicht auch hatte sie es gar nicht ernsthaft gemeint. Im Grunde war es vielleicht besser, wenn der Hut verkauft würde. Denn tragen wollte er ihn auf keinen Fall mehr.

Ringsum war kein Schein von Licht. Polzer hätte gern Licht gehabt, aber er wagte nicht, den Schalter anzudrehen. Er wußte, daß es besser sei, sich schlafend zu stellen. Polzer fühlte die Gefahr. Er streckte vorsichtig die Hand aus, um nach dem Heiligenbild zu tasten. Sein Arm bewegte sich langsam. Es dauerte unendlich lange, bevor er ihn ganz ausgestreckt hatte. Die Muskeln schmerzten. Sein Arm zitterte. Aber das Bild hing noch da. Er berührte seinen Holzrand. Er wollte die Hand nicht gleich wegziehen, er wollte die Hand eine Sekunde nur auf seinem Bild ruhen lassen. Dann wollte er die Hand langsam und unhörbar wieder zurücknehmen.

Da fiel der Heilige. Er fiel auf den Holzrand des Bettes und zerriß die Stille. Polzer traten die Augen aus dem Kopf. Er hätte das Bild halten können, aber er regte sich nicht. Sein Arm war noch erhoben. Das Bild schien zu schwanken. Dann fiel es weiter. Es fiel auf den Boden. Das Glas zerschellte. Das plötzliche Getöse verwirrte Polzer. Der Lärm brach sich schreckhaft an den schwarzen Wänden. Polzer sprang auf und lief aus dem Zimmer.

Vor der Tür zu Frau Porges‘ Zimmer blieb er stehen.

 

Polzer war im Hemd. Sein Körper war feucht von Schweiß. Er zitterte. Frau Porges mußte den Lärm gehört haben. Polzer pochte leise an die Tür. Sie antwortete nicht. Polzer pochte noch einmal.

»Wer ist da?« fragte Frau Porges.

»Ich, Polzer!« erwiderte er.

»Herr Polzer? Was gibt es, Herr Polzer?«

Er hörte, wie sie sich vom Bett erhob und der Tür näherte. Er legte die Hand an die Klinke und hielt die Tür fest.

»Bleiben Sie, Frau Porges,« sagte Polzer, »bleiben Sie. Ich wollte Sie bloß um Verzeihung bitten, sonst nichts. Bleiben Sie, mein Anzug ist nicht entsprechend, Frau Porges!«

Frau Porges drückte die Türklinke herunter. Polzer hielt die Tür fest. Seine Kiefer schlugen gegeneinander.

»Ich bitte auch deshalb um Verzeihung, aber Sie können nicht öffnen. Ich bin nicht entsprechend gekleidet, Frau Porges. Ich lag schon im Bett. Bloß wegen morgen, wegen des Hutes wollte ich sagen, daß ich hingehen kann, wenn Sie es wünschen. Aber, was Sie dafür verlangen, den Preis, müßten Sie mir sagen und ob ich die Buchstaben vorher wieder im Leder anbringen soll.«

Sie überwand seinen Widerstand und öffnete. Er sah im Dunkel, daß ihr Haar herabfiel.

Auch sie war im Hemd.

Sie faßte ihn an der Hand.

»Komm, Polzer!« sagte sie. Ihre Stimme klang tief. »Komm!«

Er bewegte sich nicht.

Sie zog ihn in das dunkle Zimmer und schloß die Tür. Dann führte sie ihn ans Bett.

»Du zitterst,« sagte sie.

Das Bett war warm. Sie deckte ihn mit dem Oberbett zu. Das Bett roch nach Haar.

Frau Porges legte sich neben ihn.

»Sie werden mich nicht kündigen, Frau Porges?« sagte er.

Sie lachte und schmiegte sich an ihn. Er begriff, daß sie nun von ihm etwas erwarte. Polzer näherte sich ihr sehr. Frau Porges faßte Polzer an und lachte laut. Polzer dachte an die Kündigung und bemühte sich. Er ward von Augenblick zu Augenblick unruhiger und ungeduldiger. Er bemerkte, daß ihm der Schweiß in Tropfen auf der Stirn stand. Frau Porges lag nun da und regte sich nicht.

»Wie du schwitzst, Zitterer,« sagte sie und lachte. »Wie du schwitzst!«

Dessen schämte sich Polzer in diesem Augenblick, obzwar er wußte, daß es natürlich sei und keine Schande.

»Ich bin müde,« sagte Frau Porges. Sie gähnte und dehnte sich. Dann drehte sie sich der Wand zu. Dazu hast du mich nun geweckt?«

Sie lachte:

»Vielleicht geht es morgen,« sagte sie.

Sie hatte Polzer den Rücken gekehrt. Er schämte sich. Er wußte, daß er jetzt aufstehen und in sein Zimmer gehen sollte. Der Heilige lag in seinem Zimmer auf der Erde. Er fürchtete, daß Frau Porges ihn dazu auffordern würde, ihr Zimmer zu verlassen, wenn er nicht selbst sogleich aufstünde, um in sein Bett zurückzugehen und den Rest der Nacht auf die Laute aus dem Dunkel zu horchen. Aber Frau Porges atmete schon tief und gleichmäßig. Polzer lag an der Kante des Bettes. Er zog die Füße ein, um von der Witwe nicht bemerkt zu werden. Vorsichtig deckte er sich mit einem Zipfel des Oberbettes zu.

Erst morgens stand Polzer auf und ging in sein Zimmer. Frau Porges schlief noch. Er hatte sich leise erhoben. In seinem Zimmer lag das Heiligenbild auf dem Boden. Er hob es auf, reinigte es von Glassplittern und hängte es wieder an seinen Platz an der Wand.

Polzer setzte sich an das offene Fenster und begann seine Schuhe zu putzen. Er sah, wie nach jedem Strich immer heller sich die Strahlen der Sonne im schwarzen Leder unter den Bürsten spiegelten.

Aus dem Nebenzimmer hörte er Schritte. Er wollte Frau Porges nicht begegnen. Er schlug den Hut in Papier und schlich vorsichtig aus dem Hause.

5. Kapitel

An diesem Sonntag nachmittag begleitete Frau Porges Polzer wieder ins Café. Von den jungen Leuten saßen bloß der blonde lange Student und der schwarzhaarige Doktor an ihrem Tisch. Frau Porges saß neben dem Studenten. Polzer schenkte ihr keine Aufmerksamkeit. Er sprach mit dem Doktor. Der Doktor gab seiner Verwunderung Ausdruck, daß Polzer noch so viel von dem, was er gelernt hatte, behalten habe. Er sagte, daß er Polzer um sein Gedächtnis beneide. Auch für die Bank zeigte er Interesse, und er erzählte Polzer, daß auch er sich einmal mit dem Gedanken getragen habe, als Beamter in eine Bank einzutreten. Polzer wieder lobte das Studium der Medizin wie den ärztlichen Beruf, der ihm in seiner Jugend als Ziel vorgeschwebt habe. Dabei verschwieg er nicht, daß auch sein jetziger Beruf seine Vorteile biete, vor allem dadurch, daß er die Existenz unabhängig von Alter und Krankheit sichere.

Das aufmerksame Benehmen seines Nachbars war Polzer angenehm. Er erfuhr, daß der Doktor Heinrich Ehrmann heiße. Er lebte in guten Verhältnissen und übte seinen Beruf nicht aus.

Polzers Taschentuch fiel zu Boden. Er bückte sich, es aufzuheben. Da sah Polzer, daß der blonde Student die Hand auf Frau Porges‘ Knie gelegt hatte. Polzer fuhr zurück. In diesem Augenblick geschah etwas Entsetzliches. Die Tür öffnete sich weit, und es erschienen unter Führung des kleinen Wodak etwa zehn Herren aus der Bank. Sie grüßten lachend und setzten sich an den Nebentisch. Es waren darunter drei Herren aus der Korrespondenz, mehrere Herren aus der Buchhaltung und ein Herr aus der Wechselstube. Auch ein Prokurist war unter ihnen. Sie saßen am Nebentisch, musterten Frau Porges und lachten herüber.

Polzer stand auf. Er lächelte starr den Herren zu. Auch Frau Porges hatte sich erhoben.

Sie sprachen auf dem Heimweg kein Wort. Der Student und der Doktor waren im Café zurückgeblieben. Zu Hause legte Frau Porges das Kleid ab. Dann trat sie bei Polzer ein. Sie trug eine Bluse, die lose über die Taille herabhing wie Milkas Bluse.

Polzer sagte: »Ich kann nicht wieder in die Bank gehen.« Seine Stimme zitterte. »Alles hat mich gesehen.«

Frau Porges lächelte.

Polzer sagte: »Als der Student seine Hand auf Ihrem Knie hatte, Frau Porges ...«

Sie trat ganz nahe an ihn heran. Er sah, daß sie dick und breit geworden war. Ihre Brüste hingen herab. Auf ihren Wangen standen dunkle Härchen. Er fühlte ihren warmen Atem.

Ihre Brüste unter der losen Bluse berührten schon seinen Leib. Er hob die Hände, sie abzuwehren, aber die Finger griffen fest in diese schwere Masse von Fleisch.

An diesem Abend vermochte er es.

Sie hatte das Licht ausgelöscht und schlief neben ihm. Ihr Arm lag unter seinen Schultern.

In der Nacht ergriff Franz Polzer ein großer, unbegreiflicher und fürchterlicher Gedanke.

Es geschah plötzlich. Der weiße Strich ihres Scheitels schimmerte bleich. Ihr Leib war, als wenn er weich wäre und dunkel. Er suchte nach diesem Leib. Und plötzlich erinnerte er sich, daß es der Leib seiner Schwester sei.

Er sah, daß dieser Gedanke unergründlich sei. Denn er hatte nie eine Schwester gehabt. Aber der Gedanke war zu groß da, als daß er hätte versuchen können, ihn zu vertreiben.

Franz Polzer stand auf und hüllte sich in seinen Mantel. So setzte er sich an den Tisch. Ihm war, als habe er seiner Schwester beigewohnt. Er erinnerte sich der Nächte zu Hause, wenn die schweren Tritte des Vaters auf den morschen Dielen knarrten und er, von Grauen gepackt, im Bette lag und horchte.

6. Kapitel

Um zehn Uhr erschienen aus allen Abteilungen Herren in dem Zimmer, in dem Franz Polzer saß. Um diese Zeit verstummte das Geräusch der Maschinen für einige Minuten.

Polzer beugte sich über die Arbeit und sah nicht auf. Die Herren beglückwünschten ihn lachend.

»Wer hätte das gedacht,« sagte einer aus der Buchhaltung. »Die stillen Gewässer.«

»Ob er ihr genügt, meine Herren? Ist er ihr nicht zu schwach und zu mager?«

»Sagen Sie das nicht,« sagte der Prokurist. Er lächelte überlegen. Er war in solchen Dingen erfahren. »Die Frau weiß, was sie tut. Ich kenne das. Die mageren Hähne, sagt man, und nicht mit Unrecht, sind die besten!«

»Trotzdem, Herr Prokurist,« sagte der Beamte Fogl, »wenn sie sich im Bett umdreht, mit dieser Auslage, ich glaube, sie zerdrückt ihn an der Wand.«

»Wir wollen mit der Dame bekannt werden, Herr Polzer,« sagte der Prokurist. »Sie sind es uns schuldig, als Kollege, Herr Polzer. Ich schlage vor, daß wir Sonntag nachmittags gemeinsam einen Ausflug machen. Dagegen wenden Sie doch nichts ein, Herr Polzer?«

Polzer schwieg.

»Nun, sagen Sie nicht ja, Herr Polzer?«

Polzer nickte. Er hatte diese Nacht nicht geschlafen und war, ehe Frau Porges erwacht war, aus dem Haus geschlichen. Er hatte Angst, abends dahin zurückzukehren. Er dachte daran, zu Karl Fanta zu gehen, ihm alles zu erzählen und ihn zu bitten, daß er ihn bei sich aufnehme, wenigstens für eine Nacht. Aber Karl konnte es nicht verstehen. Man konnte es nicht einmal sagen, weil es so unbegreiflich war.

Der kleine Wodak reichte ihm einen Stoß Papiere herüber und lächelte. Alle lächelten und begriffen es nicht.

Heute abend konnte er nicht nach Hause gehen. Frau Porges würde ihn erwarten. Sie saß vielleicht schon in seinem Zimmer, wenn er nach Hause kam. Besser doch, zu Karl Fanta zu gehen, unter einem Vorwand länger zu bleiben. Erst nachts nach Hause zu kommen, wenn Frau Porges schon schlief. Aber vielleicht lag sie dann vorbereitet in seinem Bett, wenn er kam, und er konnte nicht entgehen.

Oder: es konnte sein, daß Frau Porges zürnte, und sie wies ihn aus der Wohnung. Dann blieb nichts übrig, als die Sachen in den Koffer zu legen und zu gehen. Eine Wohnung bei fremden Leuten, vielleicht bei Dieben zu nehmen und auch diese erst in ermüdend endlosen Gängen durch alle Stadtteile treppen- auf und treppenab zu suchen. Oh, alles auf sich nehmen, im Bett unter dem Bild des Heiligen, geschehen lassen wie die Schläge des Vaters in der dunklen Küche, wenn die Tante ihn hielt. Sie schrie, aber er schwieg, weil es so war, weil es so sein mußte, in dem Haus, bei dem Laden. Man konnte nicht entgehen. Den Händen Milkas nicht entgehen, dem Knarren der Treppe nicht, dem Scheitel der Tante, der entblößten fleischigen Brust des Vaters nicht mit den roten und grauen Haarstruppen darauf unter dem aufgerissenen Hemd, und Klara nicht, diesem Namen, Klara Porges, dieser geöffneten, ausgeladenen, näherkommenden Klara nicht, ihrem Scheitel, ihrem Wangenbart, ihrem warmen Körper im Bett nicht entgehen. Die Luft war schwer in dem kleinen Raum, die Hände waren feucht von der Arbeit, und die Finger ließen Spuren auf dem Papier. Es war nicht erlaubt, das Fenster zu öffnen, weil die Tür nicht stillstand und Zugluft entstehen mußte, die die losen Blätter von den Pulten wehte. Das große, volle Haus mit den vielen kleinen und großen Zimmern rauschte von Sprechen, den Schritten, die ununterbrochen über die Treppen und die Korridore gingen, dem rastlosen Hüpfen der klappernden blauen Buchstaben auf das weiße Papier in den Maschinen. Es war kurz vor sechs, als Polzer nicht widerstehen konnte und die Augen schloß. Er schlief nicht. Er hörte weiter das Rauschen des Hauses, hörte, wie der kleine Wodak Blatt um Blatt umwandte. Aber er fühlte zugleich, daß er die einzelnen Geräusche nicht mehr voneinander unterscheiden könne. Alle waren sie mit einem Male ungeheuer laut, nahe und gefährlich. Alle flossen zusammen und wuchsen zu tosendem Gewirr von Stimmen an. Polzer öffnete die Augen.

Im Zimmer standen die Herren vom Vormittag zum Weggehen bereit, sahen ihn an und lächelten. Polzer stand auf und nahm seinen Hut. Die Herren waren gut gelaunt und erinnerten ihn an den Ausflug am Sonntag. Man fand es begreiflich, daß Polzer eingeschlafen sei. Franz Polzer sah in das lachende Gesicht des Prokuristen. Es schien ihm dicker als sonst. Der Prokurist hatte eine neue Krawatte an und einen dünnen Pepitaanzug. Polzer bemerkte, daß sich seine eigene schwarze Masche bis unter das Ohr verschoben habe. Er konnte sie trotz Anstrengung nicht in die Mitte ziehen, ging aus dem Zimmer und lief die Treppe hinunter. Er hörte das Lachen der Herren und schämte sich, daß sie, die gute Kleider und frischgesohlte Schuhe hatten, über seinen Anzug lachten. Es fiel ihm ein, daß der Prokurist ihn schlafend gefunden hatte. Er konnte es der Direktion melden. Polzer mußte morgen zum Prokuristen gehen und ihn bitten, daß er davon absehe, da es zum erstenmal geschehen sei.

Als Polzer das Tor geöffnet hatte und auf die Straße trat, stand Frau Porges vor ihm. Sie hatte auf ihn gewartet.

Er hörte schon die Schritte und Stimmen der Herren im Stiegenhaus. Er faßte Frau Porges am Arm.

»Kommen Sie«, sagte er, »kommen Sie!«

Er zog sie rasch fort. Sie durften nicht sehen, daß Frau Porges ihn erwartete.

 

»Warum denn so rasch fort?« fragte Frau Porges.

Er antwortete nicht.

Da lächelte Frau Porges böse.

»Warum bist du morgens fortgelaufen?« sagte sie.

Er wich ihrem Blick aus und sah zu Boden.

»Wie ein Schuljunge bist du, wie ein Schuljunge!«

Sie lachte.

»Man sollte dich vielleicht prügeln wie einen Jungen,« sagte sie.

Darüber erschrak Franz Polzer sehr.

»Damit du gehorchst,« sagte sie.

Er aß rasch das Abendbrot, das sie ihm gebracht hatte. Dann versperrte er die Tür und legte sich zu Bett.

Frau Porges kam und wollte öffnen. Als sie die Tür verriegelt fand, pochte sie.

»Öffne, Polzer,« rief sie. Und da er zauderte:

»Öffne!«

Franz Polzer stand auf und öffnete.

Frau Porges hatte bloß das Hemd an und einen schwarzen Unterrock.

»Du warst wohl nicht zufrieden mit mir,« sagte sie.

Sie trat nahe an ihn heran. Er wollte zurückweichen, doch sie ergriff ihn am Handgelenk.

Auf dem Stuhl lag der Riemen, mit dem er seine Hosen festschnallte. Sie nahm ihn.

»Ziehe das Hemd aus,« befahl sie.

Er hielt es mit beiden Händen fest. Sie entriß es ihm.

»Das Hemd weg!«

Sie warf das Hemd zu Boden.

Er deckte die dünnen Arme vor den Leib, die eingefallene Brust und den vortretenden, schlaffen Bauch zu bergen. Er schämte sich, diesen Leib zu entblößen.

Er bewegte sich nicht und hielt die Augen halb geschlossen. Er wartete.

Er hörte sie auflachen. Er fuhr bei diesem Lachen zusammen. Dann hörte er den Riemen sausen.

Klara Porges hatte den Riemen gehoben und schlug. Sie schlug mit dem Ende, an dem die Schnalle war. Er hob schützend die dünnen Arme. Sie stieß ihn auf das Bett, daß sein Rücken nach oben lag.

»Nun wirst du gehorchen,« sagte sie.

Sie stieg nackt zu ihm ins Bett. Der Knoten ihres Haares hatte sich gelöst. Das Haar fiel um die Schulter.

Sie legte den Leib für ihn zurecht. Polzer bewegte sich nicht. Ihr Körper glänzte feucht von Schweiß. Über ihren Augen lag der Scheitel. Die weiße Kopfhaut schimmerte. Die dicken Brüste waren zur Seite gefallen und lagen schlaff vor ihm.

Das Bett wurde warm von ihr. Er fühlte auch seinen Körper feucht werden von ihrer Wärme. Sie war grauenhaft entblößt und geöffnet. Nur der Kopf war nicht entblößt. Auf ihm lag der Scheitel der Tante, nicht zerstört.

Franz Polzer bewegte sich nicht. Der Gedanke von gestern war da und war lebendiger, als er gestern gewesen war.

Frau Porges stieß ihn aus dem Bett, daß er schwer zu Boden fiel. Er ergriff sein Hemd und bedeckte sich damit.

In der Nacht erwachte er. Er fühlte, daß Frau Porges‘ Hände sein Hemd wegschoben und an seinen Leib tasteten.

Das Bett war niedrig, und die Hände erreichten ihn leicht. Er sah Frau Porges nicht; bloß ihre Arme ragten aus dem Bett.

Er wandte den Kopf zur Seite. Er schloß die Augen. Nun war gewiß, was geschehen würde. Er zitterte wie auf der Treppe unter Milkas Händen.

Sie gab ihm einen Stoß und lachte. Er atmete tief.

Er wartete die ganze Nacht, daß sie wieder nach ihm greife. Gegen Morgen griff sie zum zweitenmal nach ihm.